Wie Jessica, Lasse und Annelieke die Welt verbessern wollen.
(aus Hinz&Kunzt 212/Oktober 2010)
Das Protokoll ist streng. Sprechen darf nur, wer sich gemeldet hat, aufgerufen wurde und sich von seinem Platz erhebt. Die Kleiderordnung schreibt Anzug und Krawatte für die männlichen, Hosenanzug oder Kostüm für die weiblichen Teilnehmer vor. Röcke dürfen höchstens eine Handbreit über dem Knie enden. Wer mit einem kürzeren erwischt wird, muss vor dem gesamten Komitee ein Lied singen – genau wie jemand, der zu spät zur Sitzung gekommen ist.
„Das sieht vielleicht albern aus“, sagt Lasse Geest. „Aber es zeigt, wie ernst alle das hier nehmen.“ 150 Schüler aus Hamburg-Rahlstedt und Dortmund, Bayern, Polen und Zypern haben im September am Gymnasium Meiendorf eine UN-Konferenz abgehalten. „Model United Nations of Hamburg“ (MUNoH) heißt das Projekt, das 14- bis 19-Jährige zu Delegierten der Organisation macht, die sich die Sicherung des Weltfriedens und den Schutz der Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben hat. In sieben Komitees und im Sicherheitsrat debattieren sie Fragen der internationalen Politik. Wie kann verhindert werden, dass Terroristen an Massenvernichtungswaffen gelangen? Wie kann man Korruption in lateinamerikanischen Ländern in den Griff bekommen? Was würde die Lage von Kindern in Flüchtlingslagern verbessern?
Jeder vertritt ein Mitgliedsland der UN, üblicherweise gerade nicht das, aus dem er selbst stammt. Ziel ist es, möglichst realistisch die Position dieses Staates zu vertreten – und nicht die persönliche Meinung. Die Delegierten schmieden Allianzen und einigen sich in Komitees auf sorgfältig begründete Resolutionen, die sie der MUNoH-Vollversammlung am Ende der Projektwoche zur Abstimmung vorlegen.
Jessica Wagner vom Gymnasium Rahlstedt vertritt Saudi-Arabien und arbeitet an einer Resolution zum Umgang mit Homosexuellen in islamischen Ländern. Sie hat sich mit den Delegierten von Nigeria, Uganda, Marokko, Sudan, Iran und der Türkei zusammengeschlossen – Länder, die der Islamischen Konferenz angehören und deren Position zu Homosexualität sich mit Jessicas persönlicher Meinung nicht deckt. „In Saudi-Arabien kann Homosexualität sogar mit dem Tod bestraft werden“, sagt Jessica und schüttelt den Kopf. Die Abgeordnete Saudi-Arabiens muss hinter dieser Position stehen. Persönlich tut sie es nicht – und hofft heimlich darauf, dass die Resolution ihrer Gruppe scheitert.
Die Arbeitssprache bei MUNoH ist Englisch. Die meisten parlieren mühelos in der Fremdsprache, auch der 17-jährige Lasse. Er ist sechs Monate lang in Neuseeland zur Schule gegangen. „Viele hier waren schon im Ausland“, sagt der Delegierte Palästinas und stellvertretende Pressesprecher von MUNoH. Die deutschen Teilnehmer sind Gymnasiasten, die ausländischen besuchen entsprechend höhere Schulen. Privilegierte junge Leute, ja. „Aber vor allem engagiert“, sagt Niklas Kirstein, Lasses Chef in der MUNoH-Presseabteilung. Ihm gefällt das Gefühl, gemeinsam etwas zu schaffen. „Wir fühlen uns hier alle als Weltbürger“, sagt er.
Ihre Forderungen wollen die 150 Schüler aus fünf Nationen ins UN-Hauptquartier nach New York schicken. Lasse hofft, damit dort Beachtung zu finden. „Schließlich haben wir jungen Menschen einen anderen Blick auf die Welt.“
Auch die Gespräche abseits der Komiteesitzungen streifen immer wieder Politisches. Lasse findet: „So offen und direkt wie hier wird sonst kaum über Politik geredet. Im Unterricht ist das dann doch immer sehr gelenkt.“
400 MUN-Konferenzen mit rund 400.000 Teilnehmern finden nach UN-Angaben jährlich statt. Die Organisation liegt vor allem in den Händen der Schüler: Sie kümmern sich um die Unterbringung ausländischer Teilnehmer in Gastfamilien, die Pressearbeit, die Einhaltung der Zeitpläne, die Leitung der Komiteesitzungen, die Betreuung von Gastrednern und vieles mehr. „Eine Herausforderung. Aber auch ein super Training für die Zukunft“, sagt Lasse.
Annelieke Brouwer hat bereits mehrere MUN-Konferenzen besucht. Die 17-Jährige, die drei Jahre in Texas gelebt hat, ist Delegierte der USA. Damit kann sich Annelieke politisch „ganz gut identifizieren“. Als USA-Abgeordnete vertritt sie eine der bedeutendsten Nationen – und hat großen Einfluss bei MUNoH. „Ich merke schon, dass viele meine Nähe suchen und mit mir zusammenarbeiten wollen“, sagt sie und lacht.
Für Jessica ist es die erste MUN, entsprechend nervös ist sie vor ihrer Rede vor der Vollversammlung zum Abschluss von MUNoH. Als Delegierte Saudi-Arabiens konnte sie in ihrem Komitee die Haltung ihres Landes zu Homosexualität nicht durchsetzen. Bei der Vollversammlung stellt die Abgeordnete von Großbritannien eine Resolution vor, die insbesondere islamische Länder auffordert, Homosexualität zu legalisieren. Hauptargument: die Menschenwürde.
Die folgende Debatte ist hitzig. Erst mit dem Redebeitrag des Abgeordneten des Libanon wendet sich das Blatt: Ihm geht die Resolution nicht weit genug. Keine konkreten Forderungen, nur das, „was eh schon in den Menschenrechten steht“. Was sich ändern müsse, sei die Einstellung der Bevölkerungen der islamischen Länder. Und davon sei in der Resolution keine Rede. 40 Minuten lang diskutieren die Delegierten heftig. Dann ruft der Versammlungsleiter die Delegierten zur Abstimmung. Die Resolution wird abgelehnt.
Jessica ist vor allem froh, die Debatte hinter sich gebracht zu haben: „Hier sprechen manche so perfekt Englisch, ich hatte echt Angst, mich zu blamieren.“ Hat sie nicht. Genauso wenig wie Annelieke, Lasse oder die anderen Schüler, die eine Woche lang Weltpolitik gemacht haben.
Text: Beatrice Blank
Fotos: Benne Ochs