Sozialsenator Scheele : „Die Überfüllung hat uns Kummer gemacht“

Hinz&Kunzt sprach mit Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) über das Hamburger Winternotprogramm, das am 15. April endet, und den Umgang mit Obdachlosen aus den neuen EU-Ländern in Osteuropa.   

Andrang vor dem Winternotprogramm in der Spaldingstraße. Foto: Mauricio Bustamante
Andrang vor dem Winternotprogramm in der Spaldingstraße. Foto: Mauricio Bustamante

Am 15. April endet das diesjährige Winternotprogramm der Stadt. Die Diakonie zieht vorläufig eine gemischte Bilanz. Diakonie-Vorstand Gabi Brasch sagt: „Auch diesen Winter ist es gelungen, das Winternotprogramm niedrigschwellig und ohne Zugangsbeschränkungen aufrechtzuerhalten.“ Als „hochproblematisch“ beurteilt Brasch hingege die Situation in den Unterkünften selbst: Bis zu 12 Personen mussten sich etwa im Pik AS ein Zimmer teilen, viele Menschen schliefen auf dem Fußboden, Fluchtwege für den Brandschutz waren blockiert.

Die Notunterkünfte seien auch deswegen überfüllt, weil es zu wenig Wohnungen für die reguläre, ganzjährige Unterbringung von Wohnungslosen gibt. Bei den bezirklichen Fachstellen zur Wohnungssicherung stünden inzwischen 700 Haushalte auf  Wartelisten. Brasch: „Die Wohnungswirtschaft und SAGA/GWG müssen deutlich mehr tun als bisher. Sie müssen zusätzliche Wohnungen für Wohnungslose zur Verfügung stellen, damit Plätze in den Unterkünften frei werden. Das entlastet nicht nur das Winternotprogramm, sondern ist für die Stadt auch günstiger.“

Sozialsenator Detlef Scheele (SPD): „Wir sind freundschaftlich-konsequent“

Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller hat Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) interviewt.

HINZ&KUNZT: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben mit insgesamt 800 Plätzen das größte Winternotprogramm aufgelegt, das Hamburg je hatte. Und Sie haben neben der Spaldingstraße und dem Pik As noch Plätze in Jenfeld und in der Schnackenburgallee geschaffen. Bislang ist immerhin kein Mensch erfroren. Nichtsdestotrotz war es ein harter Winter – für die Nutzer und die Behörde. Die Leute mussten teilweise auf Stühlen, auf Tischen oder auf dem Fußboden schlafen. Was ist Ihre Bilanz?
DETLEF SCHEELE: Dieser Winter war nicht einfach. Es ist gut, dass auch jetzt, wo es so kalt geworden ist, niemand zu Schaden gekommen ist. Die Nächte waren wirklich hart.

H&K: Im Pik As haben statt 260 zeitweise bis 400 Leute geschlafen.
SCHEELE: Wir haben die Devise: keinen abweisen. Und das ist dann die Kehrseite. Die Zahlen sind wieder gesunken, dennoch wollen wir jetzt (Stand Mitte März, Anmerkung der Redaktion) vor allem das Pik As durch weitere Plätze in Altona entlasten, um bis Mitte April kein Unglück zu erleben. Ansonsten fangen wir gerade an, darüber zu reden, was wir in diesem Winter genau erlebt haben. Denn es war kein Winternotprogramm im klassischen Sinne.

H&K: Sie meinen, weil 80 Prozent der Nutzer aus den neuen EU-Ländern in Osteuropa gekommen sind?
SCHEELE: Unser Winternotprogramm richtet sich seit Jahren an die Menschen, die das ganze Jahr über in Hamburg auf der Straße leben. Wäre das jetzt auch so, hätten wir viel Platz gehabt. Wir hätten dann auch noch mehr kleinere Unterkünfte schaffen können. Das ist uns zumindest teilweise gelungen: In Altona und in Jenfeld sind je 100 zusätzliche Schlafplätze zum Winternotprogramm dazugekommen. Dort gibt es also deutlich kleinere Einrichtungen als in der Spaldingstraße und insbesondere im Pik As. Die Überfüllung dort hat uns Kummer gemacht.

„Kommt nicht hierher. Hier habt ihr keine Chance.“ – Sozialsenator Detelf Scheele

H&K: Im April werden dann alle wieder auf der Straße landen.
SCHEELE: Bei den Obdachlosen, die einen Rechtsanspruch haben, können alle, die das wollen, einen Platz in einer öffentlichen Unterbringung bekommen. Aber ja: Die meisten Obdachlosen aus Rumänien und Bulgarien werden wieder draußen, in Autos oder in überfüllten und überteuerten Wohnungen schlafen. Und auch die Schwarzafrikaner, die über Italien mit Passersatzpapieren gekommen sind, werden das ver- mutlich tun.

H&K: Außerdem haben einige andere deutsche Städte ihren Obdachlosen einfach eine Fahrkarte gegeben und sie nach Hamburg geschickt.
SCHEELE: Unsere Anlaufstelle in Kombination mit einem kos- tenlosen Schlafplatz ist schon attraktiv, vor allem wenn man den Standard mit anderen deutschen Städten vergleicht: In Frankfurt wurde beispielsweise nur die B-Etage der U-Bahn aufgemacht. Dazu haben wir Gesprächsbedarf, und diese Gespräche werden wir im Sommer führen.

„Wir sind freundschaftlich-konsequent.“ Sozialsenator Detlef Scheele (SPD). Foto: Cornelius M. Braun
„Wir sind freundschaftlich-konsequent.“ Sozialsenator Detlef Scheele (SPD). Foto: Cornelius M. Braun

H&K: Am liebsten würden Sie ja die Bulgaren und Rumänen zurückschicken in ihre Heimatländer. Und die Schwarzafrikaner zurück nach Italien. Klappt das?
SCHEELE: Unsere Haltung „Kommt nicht hierher!“ ist unverändert. Immerhin sind über unsere Anlaufstelle für EU-Bürger schon 243 europäische Obdachlose (Stand Mitte März) freiwillig in ihre Heimatländer zurückgefahren. Wie es mit den Schwarzafrikanern weitergeht, wissen wir noch nicht. Wir sind im Gespräch mit dem Flüchtlingszentrum. Besser wäre es, sie würden zurückgehen nach Italien. Sie sprechen kein Deutsch und sie haben keine Ausbildung. Hier haben sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. In Italien haben sie wenigstens eine Arbeitserlaubnis.

H&K: Aber es gibt ja viele, die gar nicht zurückwollen …
SCHEELE: Wenn wir sie nicht überzeugen, auch nicht an der Bustür mit einer Fahrkarte, dann müssen wir das hinnehmen. Aber ich bleibe bei meiner Haltung: Fahrt zurück, es gibt keine Chance hier!

H&K: Das mit dem Zurückschicken habe ich jetzt wirklich verstanden.
SCHEELE: So schön es wäre, wenn Menschen in Rumänien oder Bulgarien blieben: Man kann sie nicht dazu zwingen. Dafür gibt es kein Instrumentarium. Darum ist es eine unsinnige Diskussion. Wenn es falsch ist, dass Menschen hierherkommen, dann ist der Fehler 2007 gemacht worden, als man Rumänien und Bulgarien in die EU aufgenommen hat. Aber seit der Aufnahme sind sie EU-Bürger. Die Freizügigkeit in Euro- pa ist ein konstituierendes Element. Das Grenzpersonal kann EU-Bürger nur dann zurückweisen, wenn sie schwere Straftaten begangen haben. Das haben diese Menschen aber in der Regel nicht getan. Insofern müssen wir uns darauf einstellen, dass viele Menschen aus Europa hierherkommen.

Wir Kommunen brauchen Hilfe vom Bund. – Sozialsenator Detlef Scheele

H&K: Wie stellt sich Hamburg auf die Situation ein?
SCHEELE: Wir haben eine Bund-Länder-Gruppe initiiert, die bereits daran arbeitet. Wir haben Unterarbeitsgruppen gebildet zu den Themen Integration, Betreuung und Bildung für Kinder, Leistungsrecht, Gesundheit, grenzüberschreitende Krankenversicherung. Wir wollen Maßnahmen auf EU-Ebene zur Armutsbekämpfung in den Herkunftsländern auf den Weg bringen, es geht auch um Ordnungs-, Melde- und Gewerberecht. Zusammen mit den Konsulaten und Hilfsorganisationen wollen wir auf eine vernünftige Art und Weise zur Rück- kehr beitragen. Außerdem setzen wir uns auf Bundesebene auch dafür ein, dass die Milliarden, die die EU zahlt, bitte schön endlich da ankommen, wo sie ankommen sollen. Und: Wir Kommunen brauchen Unterstützung vom Bund. Zum Beispiel bei der Unterbringung, bei der Beschulung und bei der Kinderbetreuung. Wir drehen an allen Schrauben, und wir sind weiter freundschaftlich-konsequent.

H&K: Was heißt das?
SCHEELE: Wir sagen nicht: Haut ab! Und starten auch keine Gesetzesinitiativen dazu. Im Gegenteil: Wir haben uns im Bundesrat dafür eingesetzt, dass für Kroatien gleich die volle Freizügigkeit gilt. Dem sind auch alle SPD-regierten Länder gefolgt. Meine feste Überzeugung ist, dass die fehlende Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Grund dafür ist, warum so viele, die auch anders können, in dieser Schattenwirtschaft hängen bleiben. Wenn Kroatien gleich die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit bekäme, würde das vermehrt dazu führen, dass die Menschen ganz legal arbeiten könnten. Was ihnen ja derzeit nicht gestattet ist. Und das würde auch die Schwarzarbeit verringern. Seit Polen die volle Freizügigkeit hat, haben wir mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und weniger Gewerbeanmeldungen.

H&K: Viele befürchten ja, dass durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit mehr Menschen Anrecht auf Sozialleistungen hätten – und so die kommunalen Kassen stärker belastet würden.
SCHEELE: Nein, denn eine SGB II- oder SGB III-Leistung kann man nur bekommen, wenn man vorher gearbeitet hat. Was ich allerdings schräg finde: Wer einen Wohnsitz hier hat, kann Kindergeld beantragen, auch wenn die Kinder in Rumänien oder Bulgarien leben, obwohl wir nicht wissen, ob die Kinder zur Schule gehen. Ich finde, man sollte für schulpflichtige Kinder nur Kindergeld bekommen, wenn diese nachweislich in die Schule gehen.

H&K: Kleiner Ausblick auf den nächsten Winter: Gerüchteweise haben wir gehört, es soll kein Winternotprogramm in dieser Art mehr geben. Stimmt das?
SCHEELE: Es wird wieder ein Winternotprogramm geben – für alle, die ein Bett brauchen. Und wir erwarten, dass die meisten, die das diesjährige Winternotprogramm genutzt haben, am Ende des Jahres noch in Hamburg sind. Wenn der 1. November naht, dann werden die, die für teures Geld in überfüllten Wohnungen, in Autos oder draußen geschlafen haben, wiederkommen – und es werden ein paar mehr sein.

Interview: Birgit Müller
Foto: Cornelius M. Braun

Kältetote dieses Winters

Nach Kenntnis der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W), dem bundesweiten Dachverband der Wohnungslosenhilfe in Deutschland, sind im Winter 2012/2013 bisher mindestens fünf wohnungslose Menschen erfroren.
Rostock, 1.11.2012: ein 54-jähriger wohnungsloser Mann, nachts in einem öffentlichen Park
Rüsselsheim, 9.12.2012: ein 38-jähriger wohnungsloser Mann, nachts in seinem Schlafsack unweit einer Notunterkunft für Wohnungslose
Köln, Januar 2013: ein wohnungsloser Mann, nachts an der Deutzer Brücke
Köln, 24.3.2013: ein 56-jähriger wohnungsloser Mann, nachts am Hauptbahnhof; seine 53-jährige Begleiterin wird stark unterkühlt ins Krankenhaus eingeliefert
Alfeld (Niedersachsen), ca. 24.–26.3.2013: ein 66-jähriger wohnungsloser Mann, in einem Waldstück, in Decken gehüllt
Darüber hinaus gibt es sechs weitere Tote, deren Todesumstände sich teilweise nicht vollständig aufklären lassen. 

 

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