Ungleichheit auf zwei Rädern

Die soziale Fahrradfrage

Immer mehr Hamburger:innen fahren Rad. Aber erreicht die Mobilitätswende auch die Menschen außerhalb des Stadtzentrums? Redakteur Jonas Fabricius-Füllner war unterwegs und hat seine Zweifel.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ich fahre nicht mehr Rad wie vor 20 Jahren. Rot heißt für mich inzwischen Stopp. Baustellen werden um- und nicht durchfahren. Sich durchschlängeln kommt zwar noch vor, ist aber die Ausnahme. Das Alter spielt eine Rolle. Auch meine Verantwortung als zweifacher Vater. Den stärksten Einfluss auf mein Verhalten als Radfahrer hat aber die deutlich verbesserte Fahrradinfrastruktur in meiner Umgebung.

In Altona, Eimsbüttel und bis in die City ist das Netz der Velorouten eng geknüpft. Sie lenken mich zügig über Fahrradstraßen und breite Radwege, ohne dass ich mich ungeschützt im rauen Klima des Großstadtverkehrs behaupten muss. Wer hätte sich vor zehn Jahren vorstellen können, dass auf einer mehrspurigen Straße ein roter Streifen gut sichtbar eine Radspur ausweist? Dass einige Ampeln gar den Fuß- und Radverkehr gegenüber dem Auto bevorzugen? Oder dass an Baustellen spezielle Umleitungen für Radfahrende eingerichtet werden? Ich erinnere mich noch gut, wie ich vor einigen Jahren zum ersten Mal auf solch ein Schild zuradelte. Die Umleitung kostete zwar etwas Zeit, aber sie war sicher und sinnvoll.

Radfahrende honorieren diese Veränderungen. Vor 20 Jahren wurden laut einer Mobilitätsstudie des Bundes ­gerade mal 9 Prozent der Wege in Hamburg mit dem Rad ­zurückgelegt. Der Anteil ist inzwischen auf 22 Prozent ­angestiegen, ergab vor zwei Jahren eine regionale ­Mobilitätserhebung. Insgesamt legen Hamburger:innen heute rund 70 Prozent ihrer Wege ohne eigenes Auto zurück. In erster Linie liegt das allerdings am öffentlichen Nahverkehr.

Das große Ziel „Mobilitätswende“ der Verkehrsbehörde lautet: 2030 soll nur noch jeder fünfte Weg mit dem Auto zurückgelegt werden – für ein besseres Klima, weniger verstopfte Straßen und somit auch mehr Lebensqualität. Dazu müssten aber mehr Menschen auf das Rad umsteigen.

Dirk Lau vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) in Hamburg ist skeptisch, ob das gelingen kann. Der Ausbau der Radwege stagniere und erreiche nicht die im Koalitionsvertrag versprochenen 60 bis 80 Kilometer pro Jahr, kritisiert er. Für den fahrradfreundlichen Umbau der Hauptverkehrsstraßen fehle zudem jegliches Konzept.

Bevorteilen Sie die hippen Viertel, Herr Senator?
Anjes Tjarks über Radwege
Bevorteilen Sie die hippen Viertel, Herr Senator?
Hamburgs Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) spricht im Interview über Radwegebau in Altona und Billstedt und erklärt, wie er das Fahrrad bei allen beliebt machen will – unabhängig von Einkommen und Bildung.

Zugleich meint der ADFC-Sprecher: „Verkehrssenator Anjes Tjarks ist im Vergleich zu seinen Vorgängern ein Quantensprung.“ Ich jedenfalls profitiere von der Politik des rot-grünen Senats. Wenn ich mich morgens auf den Weg ins Büro ­mache, führt mein Weg über die Thadenstraße, den Jungfernstieg und entlang der Alster. Es gibt direktere Wege, aber so fahre ich täglich etwa ein Zehntel der insgesamt ­bestehenden 25 Kilometer ab, die in Hamburg als Fahrradstraße ausgewiesen sind.

Dirk Lau kritisiert jedoch, dass beim Aus- und Umbau von Straßen das Rad inzwischen zwar mitgedacht, aber ihm nicht Vorrang eingeräumt werde. „Wenn man das Auto über 50, 60 Jahre immer bevorteilt, muss man es jetzt auch mal benachteiligen können“, sagt der ADFC-Sprecher. Er meint: „Der Radverkehr in Hamburg nimmt nicht wegen, sondern trotz der Radwege zu.“

Zugenommen hat in den vergangenen Jahren aber nicht nur der Radverkehr, sondern auch der damit verbundene Ärger über zusätzliche Baustellen für Radwege, den Verlust von Parkplätzen und rücksichtslose Radler:innen. Nur zu gut kenne ich die bösen Blicke, wenn man Passant:innen auf dem Bürgersteig anklingelt. In meinem Fall verwandeln die sich meist schnell in ein mildes Lächeln: Denn es war nur meine Tochter, die sich mit ihrem Rad den Weg zu Kita bahnt. Dass allerdings mehr E-Scooter, mehr Lieferverkehr mit schnellen E-Bikes und auch mehr ruppige Radfahrende das Gefühl der Unsicherheit gerade bei älteren Fußgänger:innen verstärken, steht außer Frage.

Auch der Preis für Fahrräder verzeichnet ein großes Mehr. Durchschnittlich wurden vergangenes Jahr laut Fahrradindustrie 1788 Euro pro Rad bezahlt – vor fünf Jahren waren es noch 735 Euro. Der heftige Anstieg ist vor allem dem E-Bike- und Lastenrad-Boom geschuldet.

Hinzu komme, dass Fahrräder immer mehr zum Statussymbol werden. Das meint zumindest Ansgar Hudde von der ­Universität Köln. Der Soziologe hat den Zusammenhang zwischen Fahrradmobilität und Bildungsniveau aufgedeckt. Die von ihm untersuchten Daten belegen zudem soziale Unterschiede. Menschen mit Abitur fahren mehr Rad als Menschen ohne Abitur. Eine Mobilitätserhebung von 2022 zeigt: Nur 67 Prozent der armen Haushalte in Hamburg besaßen mindestens ein Fahrrad. Dagegen lag der Anteil in reichen Haushalten bei 87 Prozent. Auf den Wegen, die sie zurücklegen, nutzen 24 Prozent der Normalverdienenden, aber nur 18 Prozent der ärmeren Bevölkerung das Rad. Und noch etwas fällt auf: In Städten fahren heute etwa doppelt so viele Menschen mit Abitur Fahrrad wie noch vor knapp 30 Jahren, sagt Hudde. Seine Erklärung: Vor allem in den Stadtzentren schreite der Ausbau der Fahrradinfrastruktur voran – dort wo vor allem Höhergebildete leben.

Am Hermanstal in Horn lässt sich der Radweg nur erahnen. Foto: Dmitrij Leltschuk

Als Ausweg schlägt der Soziologe unter anderem mehr Fahrradunterricht in den Schulen oder Kitas vor. Außerdem müssten Großstädte das Gefälle in der Radinfrastruktur zwischen Zentrum und Stadträndern überwinden, ­fordert der Kölner Soziologe. In Hamburg beispielsweise entstanden die ersten extra breiten Radwege, Fahrrad­straßen und sogenannten Kopenhagener Fahrradwege ausschließlich in Szenestadtteilen oder entlang der schicken Elbchaussee. Zwar führt inzwischen auch in den Hamburger Osten ab Berliner Tor ein perfekt ausgebauter und ruhiger Weg durch Hamm und Horn. Aber als ich kürzlich von Billstedt nach Mümmelmannsberg weiterfahren wollte, stieß ich auf die Art von Buckelpisten und Schlaglöchern, die in meiner Wohngegend längst ausgebessert wurden. Auch das schicke Rot für Radwege auf dem Asphalt reicht offensichtlich nur bis zum Horner Kreisel. Als ich schließlich in die Steinbeker Hauptstraße einbog, verschwand mein Weg spurlos. Mein persön­licher Eindruck ist allerdings auch, dass es in Stadt­teilen wie Billstedt nicht nur weniger Radwege gibt, sondern dort auch weniger Rad gefahren wird.

Insgesamt ist in Hamburg heutzutage noch auf ­etwa jeden zweiten Menschen ein Auto angemeldet. Öffentlichkeitswirksam hatte der Naturschutzbund vor einigen Jahren errechnet: Alle rund 800.000 angemeldeten Pkw nebeneinander parkend nehmen eine Fläche ein, die fast sechsmal so groß ist wie die Außenalster. Dass das Auto auch in Hamburg immer noch die Nummer eins ist, erlebe ich täglich im dichten ­Berufsverkehr. Dann schieben sich die Autos mit ­gerade einmal gut 20 Stundenkilometern durch das Zentrum. Das Tempo geht aus Daten des Navigationsherstellers TomTom hervor. Die Zeit für die Parkplatzsuche nicht eingerechnet.

Da schaffe ich es selbst mit einem gemütlichen Fahrstil schneller mit dem Rad ins Büro. Eine Erkenntnis, die sich in Kopenhagen oder auch Münster längst durchgesetzt hat. Ich bin dort zwar noch nie Rad gefahren, aber jedes Mal wieder baff, wie sich an roten Ampeln die Räder stauen. Bei allen Bemühungen in Hamburg muss hier schon bestes Wetter herrschen, damit ich im Berufsverkehr mit mehr als einer Handvoll anderer Radfahrender an einer roten Ampel zum Stehen komme.

Artikel aus der Ausgabe:

Schöne neue Fahrradwelt?

Läuft Hamburgs Umbau zur „Fahrradstadt“ eigentlich sozial gerecht ab? Antworten gibt unter anderem Verkehrssenator Anjes Tjarks. Außerdem: Reportage aus einem Pflegeheim für Alkoholkranke und ein Gespräch mit Rocko Schamoni über seine Anfänge in Hamburg.

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Autor:in
Jonas Füllner
Jonas Füllner
Seit 2013 bei Hinz&Kunzt - erst als Volontär und inzwischen als angestellter Redakteur.

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