Jahrelang war Reiner eine Institution am Kaffeetresen im Hinz&Kunzt- Vertriebsraum. Nun ist unser Kollege verstorben. Ein Rückblick auf ein bewegtes Leben.
Wann immer Chris das Hinz&Kunzt-Haus betritt und hinter dem Kaffeetresen im Vertriebsraum jemanden sitzen sieht, denkt er: „Oh! Reiner ist da!“ Im nächsten Moment weiß er: „Quatsch. Kann ja nicht sein. Reiner ist tot!“ Im Dezember vergangenen Jahres ist der langjährige Hinz&Kunzt-Verkäufer, Vertriebskollege und Freund im Krankenhaus verstorben. Viel zu früh, mit 65 Jahren.
Reiner war das Gesicht von Hinz&Kunzt. Noch im November blies er für das 30-Jahre-Hinz&Kunzt-Titelbild in eine Tröte. Auch vier Jahre zuvor schmückte er das Cover. Die Story dazu: Wie Hinz&Kunzt Verkäufer:innen das Ende der DDR erlebten.
Als eines von zehn Kindern wuchs er bei seinen Eltern in Ost-Berlin auf. Nach der Hauptschule lernte er Facharbeiter für Elektrotechnik, aber der Beruf machte ihn nicht glücklich. Sein Vater – Gaststättenbetreiber und alkoholkrank – nahm den Sohn mit zur Pferderennbahn. Dort begann Reiner, illegale Würfelspiele zu organisieren. „Ich war jung, das war gutes Geld. Plötzlich war Nachtleben angesagt“, erzählte er mal. Doch der unstete Lebenswandel hatte Konsequenzen: Er wurde als „Asozialer“ eingesperrt, insgesamt zwei Jahre lang – eine Erfahrung, die Fluchtgedanken in ihm aufkeimen ließen. Aus Angst, erneut inhaftiert zu werden, riskierte er einen Versuch aber nie.
Im Wendejahr 1989 heiratete er. Das Paar bekam einen Sohn, und Reiner begann, in der Nähe von Berlin als Melker zu arbeiten. Doch dann der Schock: Seine Frau verliebte sich in ihren Chef. Reiner begann zu trinken – er kam nie wieder los vom Alkohol. Fluchtartig verließ er die gemeinsame Wohnung und lebte zunächst wochenlang obdachlos in der Hauptstadt. Bis sich der Urberliner 1995 völlig verzweifelt auf den Weg nach Hamburg machte. „Nur mit zwei Koffern. Ich hab alles abgebrochen“, hatte Reiner erzählt.
In Hamburg schlug er sich zunächst mit Hilfsarbeiterjobs durch. Als die immer rarer wurden, landete er 2005 bei Hinz&Kunzt. Fortan war er immer und überall dabei und wurde Teil des Hinz&Kunzt-Kosmos: Er half als Juror beim jährlichen Schülerwettbewerb Audiyou (siehe Anzeige Seite 44). Briet Bouletten für ein Buntes Dinner in Eimsbüttel. Lieferte seine Lebensgeschichte für ein KI-Bild der
Nur mit zwei Koffern kam Reiner nach Hamburg.
Homeless Gallery. Kochte mit zur Vorbereitung auf das Popup-Restaurant zum 25-jährigen Bestehen des Straßenmagazins. Und brachte sich bei etlichen Ausflügen für Hinz&Kunzt-Sondermagazine ein. Es war nur
folgerichtig, dass Reiner 2016 fest im Hinz&Kunzt-Vertrieb angestellt wurde. Hier versorgte er die Verkäufer:innen und das Team mit frischem Kaffee, wortkarg, aber immer herzlich.
Als im Oktober 2021 das neue Hinz&Kunzt-Haus fertig gebaut war, zog Reiner in die Minenstraße in eine der fünf Wohngemeinschaften. 17 Jahre hatte er zuvor am Billbrookdeich gelebt, in einer Unterkunft für mehr als 100 wohnungslose Männer. In seinem Zimmer dort hatte er es sich zwar gemütlich gemacht, aber „er war froh, endlich dort rauszukommen“, sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Jonas Gengnagel. Nur die Angst vor dem
Alleinsein hielt ihn all die Jahre dort. Eine WG, zusammen mit anderen Hinz&Künztlern, war daher genau
das Richtige für ihn. Und nicht nur das: „Das Zimmer zeigte, wie viel ihm Hinz&Kunzt bedeutet hat“, erzählt Gengnagel. Alle Ausgaben des Straßenmagazins, in denen Reiner vorgekommen ist, hatte er liebevoll in Klarsichtfolien verpackt und aufbewahrt. „Welche Identität ihm das gegeben hat und wie stolz er darauf war – das hat man da gesehen.“
Auch seine Reise zum Papst hat Reiner viel bedeutet: 2016 war eine Gruppe von 68 Armen, Wohnungslosen und ehemals Obdachlosen plus 41 Begleiter:innen aus Hamburg nach Rom gereist. Papst Franziskus hatte Arme aus ganz Europa eingeladen, und Reiner war einer derjenigen, denen das Kirchenoberhaupt persönlich die Hände schüttelte. Nach der Begegnung konnte der Hinz&Künztler, der sich Emotionen nie groß anmerken ließ, seine Tränen nicht zurückhalten. „Er hat meine Hände genommen und gesagt: ,Bete, bete!‘“, erzählte Reiner später. „Und ich sagte: ,Mach ich!‘“ Chris, der damals mit dabei war, zog seinen plötzlich so gefühlsduseligen Freund auf: „Ich hab zu Reiner gesagt: ,Ab jetzt darfst du keinen Schnaps mehr trinken, nur noch Wein!‘“ Wie tief die Erlebnisse Reiner beeindruckt hatten, davon zeugten die vielen Andenken in seinem Zimmer: vom Reiserucksack bis hin zu der Karte, die die Teilnehmenden um den Hals trugen – alles hatte er aufbewahrt.
Die größte Leidenschaft des Berliners war allerdings der FC St. Pauli. Schon in der Wohnunterkunft am Billbrookdeich war sein Zimmer vollgestopft mit Fanartikeln: Tassen, Schals, Mützen, Stadion-Pfandbecher, Flaggen, Aufkleber, Mannschaftsposter mit Unterschriften – sogar die Bettwäsche trug das Logo des Kiezclubs. Und so blieb es auch in der Hinz&Kunzt-WG. Bei möglichst jedem Heimspiel war Reiner dabei. Auch um die Verteilung von vier Tickets, die der Fanclub Basis e.V. seit vielen Jahren für Hinz&Künztler:innen sponsert, kümmerte er sich. Bis zuletzt hat er diese Aufgabe über alles gestellt. Sozialarbeiter Jonas Gengnagel erzählt: „Ich musste für Reiner den Krankenwagen rufen, weil er total gezittert und kaum noch Luft bekommen hat. Da sagt der: ,Ich kann erst in den Krankenwagen, wenn ich Flaviu (ein Vertriebskollege, die Red.) die St.-Pauli-Karten gegeben habe!‘“
Zuletzt hat Reiner es nicht mehr geschafft, ins Stadion zu gehen. Das Herz, die Lunge, Schmerzen in den Beinen … Geklagt hat er trotzdem nie. Man musste ihm die Info aus der Nase ziehen, dass es ihm nicht gutging, erzählen Freunde und Sozialarbeiter unisono. Eigentlich ließ sich Reiner täglich im Hinz&Kunzt-Vertrieb blicken – von seinem WG-Zimmer aus hatte er es ja nicht weit. „Als er nicht mal mehr zum Kaffee runterkam, wussten wir: Jetzt müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen“, sagt Jonas Gengnagel, der erneut den Krankenwagen rief.
Die Nachricht von Reiners Tod kam mitten in der Nacht. Ein Arzt meldete sich bei Hinz&Künztlerin Nicole. Sie war beim Krankenhaus als Angehörige vermerkt, da sie und Reiner zwischenzeitlich ein Paar waren. „Wo ich ihn da so hab liegen sehen, mit all den Schläuchen – das tat echt weh“, sagt die 45-Jährige. Zuletzt musste Reiner ein Bein amputiert werden. Aus der Narkose zu dieser Operation ist er nicht mehr erwacht.
„Es ist echt komisch, dass Reiner nicht mehr da ist“, sagt Chris. Doch bei aller Trauer sind sich alle einig: „Wenn er ohne Bein aufgewacht wäre, hätte er sich totgesoffen.“ Aus Frust. Sein Freund Uwe sagt: „Für Reiner war die Party vorbei. Das wäre nichts mehr für ihn gewesen.“