In einer halben Stunde soll die Sache abgehandelt sein. Die Beklagte kann alles erklären – doch keiner will ihr zuhören.
(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)
Die Frau sieht gepflegt aus. Graue, zurückgekämmte Haare, sorgfältig hochgesteckt. Der Mantel – ein guter Stoff. Der Schal – fast edel. Eine Frau, die etwas aus sich macht, denkt man. Etwas nervös allerdings, sehr nervös sogar. Mit flatterndem Mantel hetzt sie den Flur im Amtsgericht Mitte entlang, ihre Hände zittern.
Ihre Augen, angstvoll aufgerissen, wirken hinter der Brille groß. Die Mittfünfzigerin hat Angst vor den Menschen, die hinter dieser Tür zum Gerichtssaal auf sie warten. Da ist die Richterin, die sie kühl begrüßt. Der Mann vom Sozialamt, der ein Betreuungsverfahren gegen sie betreibt; so empfindet sie das: „gegen“ sie. Und da ist die Anwältin der Gegenseite, jenes Vermieters, der sie aus der Wohnung herausklagen will, eine junge, forsche Frau, die gleich darauf aufmerksam macht, dass sie und die Richterin sich ja schon aus einigen Verfahren kennen. Richterin und Anwältin wechseln ein flüchtiges, aber einvernehmliches Lächeln. Das fällt der Frau auf. Das brennt in ihr. Ihr hat bislang noch niemand zugelächelt. Die anderen wirken wie auf vertrautem Terrain.
Die Frau dagegen – wie ausgesetzt, schutzlos in einer Welt, in der sie immer kämpft. Erst um ihre Arbeit, die sie verlor, dann um ihre Arbeitslosenhilfe, und jetzt um ihre Wohnung. Die ist ihr letzter Hort, eine Art Trutzburg. In die sie nur ganz selten Menschen hineinlässt, aber bestimmt nicht jeden Handwerker. Oder den Vermieter.
Und genau diese Wohnung wollen sie ihr wegnehmen, die Anwältin, der Vermieter und womöglich auch die Richterin. Vordergründig geht es um Mietschulden in diesem Prozess. Und dass die Frau die Frist, an dem sie die Schulden hätte begleichen können, um einen Tag versäumt hat. Die Schonfrist ist abgelaufen. Aber sie sei gar nicht schuld daran, dass diese Frist versäumt worden sei, wirft die Frau ein. Das sei die Schuld des Sozialamts, das sie um Hilfe gebeten habe. Und des Gerichts, das dem Sozialamt eine falsche Auskunft gegeben habe.
Der Mann vom Sozialamt, klein, untersetzt, schaut auf seine Hände. Rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Ja, sagt er leise, dies und das. So richtig schlau wird man nicht daraus, ob er den Termin nun versäumt hat oder nicht. Ernsthaft interessiert wirkt die Richterin sowieso nicht an dem Sachverhalt. Schließlich spiele das juristisch keine Rolle: Die Frau habe die Frist ihrem Vermieter gegenüber versäumt, nur das zähle.
Das ist ungerecht, findet die Frau, die gegen die aufkommende Panik kämpft. Erklären will sie, wie alles so kam. Dass sie vor der Wahl stand, die Klassenreise ihrer Tochter zu bezahlen oder eben die Miete. Dass außerdem der Vermieter die Miete immer falsch berechnet habe, sie jedoch den richtigen Betrag bezahlt habe. Um wenige Cent ging es dabei, aber Prinzip ist Prinzip. Die Frau konzentriert sich darauf, die Nerven zu behalten. Möglichst langsam will sie reden und nicht zu viele Einzelheiten auf einmal erzählen. Denn sie weiß, dass sie manchmal redet wie ein Wasserfall, dass die anderen sie dann anstrengend finden und ihr nicht mehr zuhören mögen.
Die Richterin guckt auf die Uhr. Sie hat für diesen Fall nur eine halbe Stunde angesetzt – und das Ganze läuft aus dem Ruder. Nicht nur zeitlich. Und dann zieht die Frau plötzlich ein As aus dem Ärmel: Sie könne gar nicht gekündigt werden, sagt sie.Sie sei schließlich nicht die einzige Hauptmieterin, da sei noch ihr ehemaliger Lebensgefährte. Sie überreicht der Richterin den Mietvertrag.
Sympathien bringt diese Enthüllung der Frau nicht. Aber daran ist sie gewöhnt. Die Anwältin schäumt, ist sichtlich überrumpelt, wühlt in den Akten. Die Richterin ist genervt. Sie guckt durch die Frau hindurch und diktiert etwas von einem „Redeschwall“ ins Protokoll, dem sie kaum Einhalt gebieten könne, spricht jetzt nur noch mit dem Mann vom Sozialamt und der Anwältin, schaut immer wieder auf die Uhr. Draußen warten schon die nächsten.
Sie habe Zweifel daran, dass die Frau prozessfähig sei, sagt die Richterin, und sie sagt es so, als rede sie von einer Abwesenden. Eine Verfahrenspflegerin müsse bestellt werden, fährt die Richterin fort und bedenkt Anwältin und Sachbearbeiter mit einem bedeutungsschwangeren Blick. Das verzögert das Ganze natürlich. Die Anwältin stöhnt theatralisch auf, das hat ihr gerade noch gefehlt. Das Blatt hat sich gewendet. Zugunsten der Frau. Vielleicht jedenfalls. Aber davon spürt sie nichts. Alle sind sauer auf sie. Und das Wort Verfahrenpflege oder Betreuung klingt in ihren Ohren wie Gefängnis oder Klapse. Die Frau weiß, wo neue Feinde sitzen. Sie wird sich nicht unterkriegen lassen.
Wenn die Verfahrenspflegerin benannt ist, wird der Prozess fortgesetzt. Eine Verschnaufpause gibt es nicht.