Nirgendwo sind sie erwünscht, die Roma. Überall werden sie vertrieben oder ignoriert. Überall? Nein, Hinz&Kunzt hat 50 Männer und Frauen aus Rumänien aufgenommen, und das Straßenmagazin fiftyfifty im Rhein-Ruhr-Gebiet sogar 700. In Düsseldorf haben inzwischen 25 Familien eine Wohnung bekommen und eine zweite Heimat.
(aus Hinz&Kunzt 230/April 2012)
„Ein bisschen ist das hier wie eine Insel der Glückseligen“, sagt Hubert Ostendorf von fiftyfifty. Der Wohnzimmertisch biegt sich förmlich unter den vielen Tellern: Käse, Wurst, Brot, Oliven, gebratene Eier. Nein zum Essen zu sagen, kommt gar nicht in Frage. Hubert Ostendorf hat uns hergebracht, der Mitbegründer des Straßenmagazins und Projektes fiftyfifty. Und wir sind Gäste: bei Ana und Bobi, bei Claudia, bei Remus und Monica. Sie kommen aus einem Dorf in Rumänien, sind Roma und leben seit zwei Jahren in Düsseldorf.
„Wer kriminell wird, der muss doch blöd sein“, sagt Remus gerade vehement. „Leute gibt es, die hauen einem Mann auf den Kopf – für 100 Euro. Und dann? Das Geld ist schnell wieder weg, der Mann ist kaputt. Und du selbst landest im Gefängnis.“ Für den 31-Jährigen kommt das gar nicht in Frage. „Ich will mit meiner Familie zusammenleben“, sagt er. „Ich will meine Kinder aufwachsen sehen.“
Trotzdem, so leicht ist das nicht. Er hat eine Frau, drei Kinder. Seine Eltern. Arbeit hatte er nicht. In Rumänien schon gar nicht. Da konnte er sich von seiner Hände Arbeit nicht ernähren, geschweige denn, dass er dort regelmäßige Arbeit gehabt hätte. Jetzt geht es ihm gut, sehr gut sogar. Seine Familie gehört zu denen, die eine Wohnung bekommen haben. „Endlich“, so sagt Bobi, „haben wir eine richtige Arbeit.“ Denn als solche sieht der 32-Jährige den Zeitungsverkauf. „Das ist eine Einnahme, auf die wir uns verlassen können.“ Ganz anders als in Rumänien, in dem Dorf, aus dem er und die anderen, die wir kennenlernen, stammen. „Es war schrecklich“, sagt Ana. „Es gab Tage, an denen wir nichts zu essen hatten.“
Dass das geklappt hat, ist Hubert und seinem Team zu verdanken. Angefangen hat alles 2009. Hubert lernte im Park Roma kennen. „Sie übernachteten dort“, sagt er. „Und das mit Kindern! Ich fand das unerträglich.“ Natürlich wurde auch bei fiftyfifty diskutiert, ob man ihnen einen Verkaufsausweis ausstellen sollte. Roma sind – wie bei Hinz&Kunzt auch – nicht die typische Zielgruppe, fiftyfifty ist ebenfalls ein Straßenmagazin für Obdachlose. Aber die Kollegen entschlossen sich, den Roma zu helfen. Aus politischen und aus humanitären Gründen, aber vor allem, weil das Schicksal der Menschen ihnen zu Herzen ging. Denn Hubert und sein Team lernten immer mehr persönlich kennen. Da war zum Beispiel Claudia, die verzweifelt war: Ihre kleine Tochter Andra (damals neun Monate alt) war schwer herzkrank.
Hubert zog einen Kinderkardiologen zurate. Dass er diesen direkten Draht hat, liegt an der Galerie: fiftyfifty ist nicht nur ein Straßenmagazin, sondern auch ein Kunsthaus: Wer Zeitungen abholt, geht vorbei an Werken von Jörg Immendorff, von Thomas Struth und Candida Höfer, einige Bilder gehen für um die 20.000 Euro über den Tresen.
Die Kunden, die in Sachen Kunst ein- und ausgehen, sind Ärzte, Rechtsanwälte, Kaufleute – die Besserverdienenden der Stadt, Menschen, die nicht nur Geld haben, sondern auch ein soziales Gewissen. Der Kinderkardiologe bestätigte Claudias Befürchtungen: Das Kind hatte ein Loch in der Herzscheidewand. Ohne Operation würde das Kind garantiert sterben, mit Operation hätte es gute Überlebenschancen. Hubert war sich sicher, dass seine Spender die Operation bezahlen würden. „Wir hatten schon ähnliche Fälle“, sagt er, „das haben wir immer gewuppt.“
Andras Familie entschloss sich, der Operation zuzustimmen. Vorher sollte Andra allerdings getauft werden. „Die meisten Roma, die ich kenne, sind sehr gläubig“, sagt Hubert. „Ungetauft sollte das Kind, falls etwas passieren sollte, nicht vor Gott treten.“ Taufpate sollte Hubert werden.
Es wurde ein Riesenfest: Alle legten zusammen, wie das so üblich ist.
Monica, die Frau von Remus, erledigte die Einkäufe und erlebte dabei wieder einmal, „dass Roma immer unter Verdacht stehen“. Eigentlich ist sie es schon gewohnt, dass sie ständig ihren Ausweis zeigen muss. „Auch wenn derselbe mich gerade erst überprüft hat“, sagt die 24-Jährige. „Im Laden soll ich ständig meine Tasche zeigen, obwohl ich nichts weggenommen habe.“ Bislang hat sie das immer hinuntergeschluckt, sich weggeduckt. Aber jetzt, als fiftyfifty-Verkäuferin, lässt sie sich nicht mehr alles gefallen.
Bei dem Großeinkauf schob sie bergeweise Waren zur Kasse, legte sie aufs Förderband und bezahlte. Plötzlich sei ein Hausdetektiv gekommen, sagt sie, und habe sie bezichtigt, ein Haarband gestohlen zu haben. „Sie glauben doch nicht, dass ich hier einen Rieseneinkauf mache und dann ein Haarband für zwei Euro klaue?“, habe sie damals wütend gesagt und ihm triumphierend die Quittung unter die Nase gehalten. Seitdem habe sie beschlossen. „Ich mache meine Tasche nicht mehr auf für einen Hausdetektiv, weil er meint, mit mir könne er das machen. Ich bestehe sofort darauf, dass die Polizei geholt wird.“ Dass Monica selbstbewusster geworden ist, liegt vermutlich auch daran, dass sich ihr Leben drastisch verändert hat. Sie muss nicht mehr herumirren oder im Park schlafen, sie hat eine Arbeit und eine Wohnung.
Ursprünglich wollte fiftyfifty die Familien übrigens in ganz normalen Mietshäusern unterbringen, es sollten keine Gettos entstehen. Durch das Zusammenleben sollten sich die deutschen und rumänischen Nachbarn schneller kennenlernen. Nicht immer eine gute Idee: „Die meisten Roma-Familien haben viele Kinder – und viel Besuch“, sagt Hubert nüchtern. „Das passt einfach nicht mit den Lebensformen in einem ‚normalen‘ Mietshaus zusammen.“
Jetzt leben viele Familien in einem Haus. Jede in einer Vierzimmerwohnung. Finanzieren können sich die Familien so: Die Eltern bekommen die Erlaubnis, je zehn Hefte pro Tag zu verkaufen. „Die Begrenzung auf zehn Hefte soll dazu beitragen, dass keine Hefte an andere unter der Hand weitergegeben werden“, sagt Hubert. Außerdem bekommt eine Familie von den Franziskanern Lebensmittel im Wert von etwa 100 Euro im Monat. Diese Einnahmen bescheinigt fiftyfifty gegenüber der Behörde, die Familien bekommen dazu Wohngeld. Anrecht auf Hartz IV oder eine Erstausstattung haben sie nicht. Deswegen übernimmt das Projekt die Erstausstattung: Die Möbel kommen fast alle aus dem eigenen Lager, dazu Herd und Waschmaschine – und die erste Miete. „So verschaffen wir den Familien erst mal Luft“, sagt Hubert Ostendorf. „Dann müssen sie aber selbst klarkommen.“
Weil es aber so viele Menschen aus Südosteuropa nach Düsseldorf verschlagen hat, hat fiftyfifty inzwischen eine eigene Beratungsstelle aufgemacht – „mit bescheidener Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen“. East-West heißt das Projekt mit drei Sozialarbeitern. Jeder ist willkommen, Deutsche und Nicht-Deutsche. An zwei Vormittagen in der Woche übersetzen zwei rumänische fiftyfifty-Verkäufer auf Teilzeitbasis für ihre Landsleute.
Richtige Herzensangelegenheit von Hubert: dass die Kinder regelmäßig in die Schule gehen und somit wirklich eine Chance auf ein besseres Leben haben. Bobi und Ana, Claudia, die meisten, die wir kennenlernen, sind selbst höchstens acht Jahre in die Schule gegangen. Die Erinnerung an diese Zeit ist oft nicht die beste. Was vielleicht daran liegt, dass es so gut wie keine Lehrer gibt, die selbst Roma sind. Und dass es auch so gut wie keine Lehrer in Rumänien gibt, die freiwillig in einem Romadorf unterrichten wollen. „Die meisten Lehrer waren dorthin zwangsversetzt worden“, sagt Hubert. Man kann sich vorstellen, wie das Verhältnis war.
Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Schule im Leben der Roma nicht gerade die Hauptrolle spielte. Aus ganz unterschiedlichen Gründen: dass man den Lehrern misstraute, dass man sich gedemütigt fühlte und Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste – oder auch aus ganz praktischen Gründen: „Die Kinder wachsen so schnell, manchmal hatte eines meiner Kinder zum Beispiel keine Schuhe mehr, da habe ich es zu Hause gelassen“, erzählt uns eine Frau. „Was sollte ich denn auch sonst tun?“
Hubert betreut die Kinder in Sachen Schule deshalb engmaschig – und die Eltern. Denn die mochten sich erst gar nicht mit dem Thema Schule auseinandersetzen, wollten nicht zum Elternabend gehen. Hubert organisierte deshalb einen Elternabend, ging selbst mit und dolmetschte. (Er hat nämlich inzwischen Rumänisch gelernt!) Für die Eltern war der Schulbesuch ein bizarres Erlebnis. Sie hatten erwartet, dass sie von den Lehrern irgendwie heruntergeputzt würden, so kannten sie das eben aus der Vergangenheit. Stattdessen erzählten ihnen die Lehrer in der Düsseldorfer Schule ganz andere Dinge: „Zum ersten Mal hörten sie wahre Wunderdinge über ihre Kinder: dass sie Fortschritte machen würden, dass sie schon gut deutsch sprächen und sich immer mehr am Unterricht beteiligten“, sagt Hubert.
Ein Grund dafür: Er hat für die Kinder Mentoren organisiert. Die machen mit ihnen Hausaufgaben und üben die deutsche Sprache. Aber natürlich ist die Welt auch in Düsseldorf nicht immer in Ordnung. Die Stammverkäuferschaft bestand vorher aus 250 Menschen, jetzt kamen mal eben 700 im ganzen Verkaufsgebiet dazu. Die meisten eingesessenen Verkäufer sind allein, ihre Familie hat sie fallen gelassen, viele sind alkoholkrank oder ansonsten gesundheitlich angeschlagen. Die Neuen dagegen sprechen zwar nicht gut deutsch, sind aber unglaublich leistungsstark und leben ganz eng mit ihrer Familie zusammen. Kein Wunder, dass sich viele von den Alteingesessenen an den Rand gedrückt fühlen und neidisch sind.
Zahlenmäßig ist das Projekt jetzt an seine Grenzen gekommen: fiftyfifty nimmt derzeit keine Roma mehr auf. „Wir können diesen umfassenden Betreuungsansatz nicht mehr bewerkstelligen“, sagt Hubert. „Und auf dem Wohnungsmarkt gibt es keine Wohnungen mehr.“ Fast trotzig sagt Hubert über Claudia und Andra, Remus und Monica, Ana und Bobi: „Sie sind jetzt Düsseldorfer wie du und ich.“ Auch wenn er weiß, dass das erst wirklich im Jahr 2014 der Fall sein wird. Dann nämlich sind Rumänien und Bulgarien vollwertige Mitglieder der EU – und dann erst herrscht volle Freizügigkeit.
Und nach wie vor ist der Alltag von Erlebnissen wie diesen geprägt: Huberts Patenkind Andra wurde neulich von der Polizei gestoppt, weil sie mit einem auffällig hübschen Fahrrad umherfuhr. „Die Polizei dachte, das könnte ja nur gestohlen sein“, sagt Hubert. „War es aber nicht, das hatte sie von meinem Sohn geschenkt bekommen.“ Seitdem ist der kleine Fahrrad-Fuhrpark, der vor der Tür steht, mit kleinen Schenkungsurkunden versehen – damit jeder sehen kann, woher sie kommen.
Apropos Andra. Nach dem großen Tauffest damals sollte sie ja operiert waren, aber die Operation fiel aus. Das Loch im Herzen war nicht mehr zu sehen – weg. „Das gibt es manchmal“, habe der Arzt erklärt. „Aber es war schon ungewöhnlich“, sagt Hubert. Für Claudia und die anderen war die spontane Heilung von Andra mehr ein Wunder. Aber eines, das sie sich gut erklären konnten. Zwischen Paten und Patenkindern bestehe eine enge Verbindung, sagt Andras Mutter Claudia. „Die guten Energien von Hubert haben sich auf Andra übertragen. Es war Huberts Liebe, die sie gerettet hat.“
Text: Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustmante