Hamburger Journalisten schreiben über die Reportage, die sie am meisten bewegt oder verändert hat. Teil 6: Der ehemalige Boulevard-Journalist Udo Röbel über seine Rolle im Gladbecker Geiseldrama im August 1988
(aus Hinz&Kunzt 160/Juni 2006)
Ich habe nie davon geträumt. Zumindest nicht wissentlich. Nicht einmal in den fast 18 Jahren, die mittlerweile darüber vergangen sind, habe ich von dem Tag geträumt, der wie kein anderer sich in mein Leben eingebrannt hat. Was ich mich immer frage, wenn ich an den 18. August 1988 zurückdenke, ist, wie absonderlich das Leben doch manchmal mit einem spielt.
Denn dieser Tag und meine Gladbeck-Geschichte begannen total irreal. Ich war an diesem Tag wohl einer von ganz wenigen Menschen in Deutschland, der von dem Geiseldrama, das die Republik seit zwei Tagen in Atem hielt, noch überhaupt nichts wusste. Nichts. Rein gar nichts.
Ich hatte am Montag, 16. August, schon früh am Nachmittag die Redaktion des „Express“ verlassen. Voller Vorfreude auf einen freien Tag nach zwei Wochen, die ich durchgearbeitet hatte. Mein letzter Nachrichtenstand war eine Agenturmeldung gewesen, dass sich in Gladbeck zwei Gewalttäter mit Geiseln in einer Bank verschanzt hätten. Aber das interessierte mich schon nicht mehr, als ich in mein Auto stieg, nach Hause fuhr und die Welt hinter mir abschloss.
Kein Radio, kein Fernsehen, auch keine Zeitungen am nächsten und am übernächsten Morgen.
Ich bekam nicht mit, dass die Polizei die Geiselgangster mit 300.000 Mark und einem Fluchtauto aus Gladbeck hatte abziehen lassen. Ich bekam nicht mit, wie Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski am Dienstagabend in Bremen einen Linienbus mit 32 Fahrgästen in ihre Gewalt brachten.
Ich bekam nicht mit, wie das ZDF sein Programm unterbrach und live die Bilder zeigte, wie Rösner aus dem Bus stieg und vor laufender Kamera sich den Lauf seiner Pistole in den Mund schob.
Ich bekam nicht mit, wie in der Nacht auf Mittwoch die Situation weiter eskalierte: der 15 Jahre alte Emanuele de Georgi, von Degowski erschossen auf der Autobahnraststätte Grundbergsee, ein Polizeibeamter tödlich verunglückt bei der Verfolgung des Geiselbusses – ich wusste von dem all nichts, als ich am frühen Mittwochmorgen meine Wohnung verließ und in eine Kölner Tennishalle fuhr, wo ich eine Trainerstunde hatte.
Erst danach, als ich geduscht hatte und in der Cafeteria der Tennishalle noch einen Kaffee trank, sah ich auf einem kleinen Fernseher in der Ecke zum ersten Mal, welche dramatische und entsetzliche Entwicklung der Banküberfall in Gladbeck genommen hatte.
„Der Tag ist gerettet“, war mein erster, typisch journalistischer Reflex. Um eine Schlagzeile bräuchten wir uns wohl keine Gedanken mehr zu machen an diesem Tag, dachte ich, als ich in die Redaktion fuhr.
Ich war damals stellvertretender Chefredakteur beim Kölner „Express“ und der Erste, der an diesem Morgen in die Redaktion kam. In den Räumen war noch alles still. Nur im Fernschreibraum ratterten und klingelten die Ticker, spuckten immer neue Blitz- und Eilmeldungen aus. Während ich in dem kleinen Kabuff stand, fast knöchelhoch versunken in den meterlangen sich übereinander schiebenden Papierschlangen, und den Redaktionsboten verfluchte, der das Material aus der Nacht eigentlich schon längst hätte abreißen und sortieren sollen, kam dieser endlich zur Tür rein. In seinem Gesicht hatte er hektische rote Flecken. Seine Augen schauten ungläubig und verwirrt. Als hätte er gerade ein Gespenst gesehen.
„Das ist irre!“, stammelte er. „Die sind da unten. Die stehen direkt da unten vor unserer Tür!“
„Wer?“, fragte ich immer noch etwas unwirsch.
„Na, die Gangster. Mit ihren Geiseln und ihrem BMW.“
Ich konnte es nicht glauben. Aus den Fenstern der Redaktion hatte man keinen freien Blick auf den Verlagseingang in der Breiten Straße. Innerhalb einer Minute war ich die Treppen hinunter ins Freie gehetzt. Der Redaktionsbote hatte Recht. Der BMW stand in der Fußgängerzone. Keine 50 Meter vom Verlagsgebäude entfernt. An einer Imbiss-Bude.
Hinterher bin ich oft gefragt worden, warum ich als stellvertretender Chefredakteur die Geschichte nicht meinen Reportern überlassen hätte. Was soll ich dazu sagen? Meine Reporter waren an diesem Morgen noch nicht da gewesen. Und ich bin nicht Journalist geworden, weil ich irgendwann einmal Chefredakteur sein wollte. Und so nahm ich meinen Platz ein. Direkt vor der geöffneten Fahrertür. Keinen halben Meter entfernt von der Pistole Rösners, die griff bereit in seinem Schoß lag.
Schon nach wenigen Minuten war ich nicht mehr allein. Immer mehr Reporter, Fotografen und Kamerateams kamen aus allen Richtungen herbei und drängten sich um das Auto. Sie schoben und drückten von hinten. Es kostete mich immer mehr Kraft, meinen Platz in der ersten Reihe zu verteidigen. Spätestens jetzt hätte ich gehen können. Zurück an meinen Schreibtisch. Doch der kollektive Rausch, die Hysterie einer Big Story, die wir so noch nie erlebt hatten, die hatten auch mich längst gepackt. Pures Adrenalin jagte durch meinen Körper. Ich befand mich mitten in einem Kinofilm. Live und in Farbe. Zu einem kühlen Kopf war ich nicht mehr fähig. Heute weiß ich gar nicht mehr genau, was ich Rösner damals eigentlich genau gefragt habe. Der einzige klare Gedanke, der ab und zu vage in mir auf blitzte, war die Frage, wo die Polizei war. Nichts. Keine Uniform, kein Streifenwagen. Ja, verdammt noch mal, wo ist eigentlich die Polizei? Sehen die nicht, dass hier langsam alles aus dem Ruder läuft?
Die Fußgängerzone war mittler weile schwarz vor Menschen. Neben den Journalisten Hunderte von Schaulustigen, die wie wir alle längst jegliches Gespür für die Gefahr verloren hatten und sich immer dichter um den BMW drängten, um einen Blick zu erhaschen auf die armen Geiseln auf der Rückbank, besonders auf Silke Bischoff, der Degowski die ganze Zeit den Lauf seiner Pistole unter das Kinn hielt.
Dieses Bild ging um die Welt, war am nächsten Tag auf fast allen Titelseiten der Zeitungen zu sehen – und löste bei den Lesern heftigste Reaktionen aus. Wütende Anrufer legten die Telefon-Zentrale des „Express“ lahm und beschimpften uns Journalisten. Wie verkommen wir doch sein müssten, ein junges Mädchen in seiner Todesangst zu zeigen.
Zuerst begriff ich diese Reaktionen nicht. Das Fernsehen hatte doch genau dieselben Bilder gezeigt. Doch – das habe ich später oft bestätigt gesehen, ob im Kosovo-Krieg oder bei Terroranschlägen – TV-Bilder sind flüchtig und deshalb für den Betrachter offensichtlich leichter ertragbar als das gedruckte Foto, das man sich immer wieder anschauen kann. Und wenn man das Foto von Silke Bischoff und Degowski genau betrachtet, dann kann man diese unglaublich perverse Intimität spüren und fühlen, die den Gangster und sein Opfer in dieser Situation verbindet: ein junges Mädchen, das mit allem, was sie noch hat, um die Sympathie, das Wohlwollen und die Gnade eines Mannes kämpft, der gerade vor ein paar Stunden schon einen Jungen erschossen hat. Die wütenden Leser hatten sich trotz der Bilderflut noch ein Grundgespür bewahrt für Grenzen, die man nicht überschreiten sollte. Wir Journalisten hatten es in den Tagen von Gladbeck längst verloren. Berauscht und benebelt von einer Story, wie sie es bis dato nie gegeben hatte.
Fast eine Stunde kniete ich nun schon vor der geöffneten Beifahrertür des Geiselautos. Die Pistole Rösners nur einen Handgriff weit weg. Und immer mehr Menschen drängten von hinten nach. Bis sie plötzlich entsetzt zurückwichen, als Rösner in wachsender Panik aus dem Auto stieg und mit seiner Pistole in die Menge zielte. Und da sah ich, dass wohl doch Polizei vor Ort war. Denn nur die Polizei konnte im Schutz der Massen heimlich die eisernen Sperrpoller in der Fußgängerzone hochgezogen haben. Keine 20 Meter von dem Auto entfernt.
Auch Rösner hatte das in diesem Augenblick gesehen und erkannt, dass ihm der Fluchtweg versperrt war. „Sorg dafür, dass die Dinger wieder runterkommen!“, schrie er mich an. „Macht den Weg frei!“ Das war der Moment, in dem ich endgültig selbst mittendrin war in diesem Drama.
Noch hätte ich mich dem entziehen können, was danach folgte. „Du hättest dich einfach davonstehlen können, abtauchen in der Menge und vom Tatort verschwinden. Warum hast du es nicht getan?“, habe ich mich hinterher oft gefragt.
Ich weiß es bis heute nicht.
So folgte zwangsläufig ein Reflex dem anderen: Ich sorgte dafür, dass die Poller wieder heruntergeklappt wurden. Ich stieg in das Auto ein, als Rösner mich aufforderte, ihnen den Weg aus der Innenstadt zur nächsten Autobahnauffahrt zu zeigen.
Ich blieb im Auto, als er mich bat, sie weiter bis zur nächsten Autobahn-Tankstelle zu bringen. Ich stand wie unter Trance. Aber ich spürte keine Angst. Die Todesgefahr, in der ich mich befand – ich nahm sie einfach nicht wahr. Weiche Knie bekam ich erst, als ich wieder allein auf dem Autobahnrastplatz stand und mir Ulrich Deppendorf von den Tagesthemen sein Mikrofon unter die Nase hielt. Erst da begann ich langsam zu begreifen, was ich gerade erlebt, was ich gerade getan hatte. Aber auch 18 Jahre danach habe ich das Gefühl, dass mich immer noch ein Teil dieser hypnotischen Trance gefangen hält. Eine Art Selbstschutz? Oder die innere Verweigerung, noch einmal in die schmerzhaften Wochen und Monate zu gehen, die dann folgten?
Gerade noch „Held“ – und jetzt „Reporter des Satans“. Nichts hat meinen weiteren Lebensweg mehr geprägt, als erfahren zu müssen, wie das ist, selbst durch die Medienmangel gedreht zu werden. Und zu der Lektion, die ich gelernt habe, gehört auch, kein Wort mehr darüber zu reden oder zu schreiben, was in dem Auto passierte. In den letzten Minuten, die Silke Bischoff noch zu leben hatte. Ich habe es damals gemacht. In meiner Zeitung. Am nächsten Tag. Konsequenter Schlusspunkt eines journalistischen Total-Versagens. Dass ich damals versucht habe, diese schreckliche Intimität von Todesangst in Worte zu fassen und öffentlich zu machen – das ist das, was ich mir persönlich auch heute noch am meisten vorwerfe.
Schwerwiegende, traumatische Ereignisse, einschneidende Lebenserfahrungen – so sagt man – beginne man zu verarbeiten, wenn man anfängt, davon zu träumen. Bis heute habe ich von Gladbeck nicht einmal geträumt. Zumindest nicht wissentlich. Ich kann daraus nur einen Schluss ziehen: Ich trage Gladbeck immer noch mit mir herum.
Udo Röbel, Jahrgang 1950, volontierte bei der „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen, arbeitete dann als Korrespondent für dpa und ap, später als Reporter bei „Bild“. Als stellvertretender Chefredakteur des „Express“ in Köln wurde er 1984 mit dem Wächterpreis der Tagespresse für die Aufklärung der Affäre um den Vier-Sterne-General Günter Kießling ausgezeichnet. Nach dem Geiseldrama von Gladbeck geriet er in den Fokus der öffentlichen Kritik an den Medien. Von 1998 bis Ende 2000 war Röbel Chefredakteur der „Bild“-Zeitung. Heute lebt er in Hamburg und schreibt Romane. Sein Thriller „Schattenbrüder“ ist auch als Hörbuch erschienen (Radioropa/16.90 Euro).