(aus Hinz&Kunzt 157/März 2006)
Hamburger Journalisten schreiben die Reportage, die sie am meisten bewegt oder verändert hat. Teil 3: Spiegel-Redakteur Bruno Schrep schrieb über zwei verlorene Söhne, den Terroristen Wolfgang Grams und den Bundesgrenzschützer Michael Newrzella, die bei einem Schusswechsel in Bad Kleinen umkamen.
Die interessanteste Reportage meines Lebens? Ich kann mich nicht entscheiden. Fast immer, wenn ich sie schrieb, meistens unter Qualen und heftigen Selbstzweifeln, hatte ich das Gefühl: Die ist jetzt die allerwichtigste, so eine gräbst du nicht wieder aus – ein Gefühl, das sich oft genug beim nächsten Mal wiederholte. Und vielleicht kommt die Spannendste ja noch, wer weiß. Wenn ich jedoch heute an Geschichten denke, die mich immer noch beschäftigen, die mir keine Ruhe lassen, dann fällt mir gleich die Geschichte vom Polizisten und vom Terroristen ein. Die spielte mitten in der Provinz.
Von der Existenz der mecklenburgischen Stadt Bad Kleinen hatten die meisten Deutschen bis zu einem Junisonntag 1993 nichts gewusst. An diesem Tag wurde der Ort bundesweit bekannt. Nach einem Anti-Terroreinsatz auf dem Bahnhof der Kleinstadt waren zwei Tote zu beklagen: Der Grenzschutzbeamte Michael Newrzella, Mitglied der Elitetruppe GSG 9, und der Untergrundkämpfer Wolfgang Grams, seit Jahren zur Fahndung ausgeschriebenes Mitglied der „Rote Armee Fraktion“, Kürzel : RAF.
Unstreitig war hinterher, dass der flüchtende Grams den ihn verfolgenden Newrzella, der seine Waffe nicht gezogen hatte, in die Brust geschossen hatte; der GSG-Mann starb Minuten später. Tödlich getroffen wurde auch RAF-Mitglied Grams. Ob sich der Untergrundkämpfer, der bereits verletzt auf den Gleisen lag, selbst in den Kopf geschossen hatte oder womöglich von anderen GSG 9-Leuten getötet wurde, konnte nie völlig geklärt werden. Vermutungen und Gerüchte darüber gibt es bis heute.
Während die Diskussionen schon damals hauptsächlich um dieses Thema kreisten („Tötung wie eine Exekution“ titelte der Spiegel), interessierten mich die Biographien der beiden Opfer. Was veranlasste einen Studenten wie Wolfgang Grams, aufgewachsen in meiner Heimatstadt Wiesbaden, nur ein paar Jahre jünger als ich, alles aufzugeben, Freunde, Verwandte, die bürgerliche Existenz, um den Staat Bundesrepublik Deutschland mit Waffengewalt zu bekämpfen? Woher kam dieser Fanatismus, dieser Hass? Woher das Sendungsbewusstsein, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein?
Andererseits: Was veranlasste einen hochbegabten Gymnasiasten wie Michael Newrzella, trotz hervorragender Noten ein Jahr vor dem Abitur die Schule zu verlassen, auf ein Hochschulstudium, auf eine Erfolg verheißende Karriere zu verzichten, um bei einem Sondereinsatzkommando wie der GSG 9 anzuheuern? Abenteuerlust? Patriotismus für diesen Staat Bundesrepublik Deutschland?
Antworten auf diese Fragen, das war mir klar, konnten nur enge Freunde und Angehörige der Verstorbenen geben – ein heikles Unterfangen. Kaum etwas im Journalistenberuf ist menschlich komplizierter, als nach dem Tod eines Menschen mit den Hinterbliebenen zu reden, dabei zwangsläufig Erinnerungen zu wecken, mühsam Verdrängtes wieder an die Oberfläche zu befördern.
Die Eltern von Wolfgang Grams hatten zunächst alle Journalisten abgewimmelt; auch den Fernsehteams, die zu Dutzenden vor ihrer Tür standen, nicht ein einziges Mal geöffnet.Sie hatten nicht nur einen geliebten Sohn verloren. Hasserfüllte Fanatiker beschimpften sie als „Terroristen-Eltern“, traktierten sie mit anonymen Anrufen. „Ihr habt die Drecksau zwar begraben“, drohte einer, „aber wir buddeln sie wieder aus und schmeißen sie auf den Müll.“
Über die Freundin des Bruders gelang es mir, Kontakt zu den Eltern zu bekommen. Eigentlich sollte der Besuch nur fünf Minuten dauern. Aber dann sprachen sie doch fast zwei Stunden mit mir.
Sie erzählten von ihren täglichen Friedhofsbesuchen – einem Versuch, der heillosen Trauer eine Form zu geben. Sie zeigten mir Bilder des Sohnes, sprachen von seiner Kindheit, seiner Jugendzeit. Erwähnten seine vielen Talente. Zeigten auf das Klavier im Wohnzimmer, auf dem Wolfgang Grams früher gespielt hatte; einem Symbol für den Traum, der Sohn könne womöglich als Musiker Karriere machen. Ich begriff, wie viele Hoffnungen sich auf diesen sensiblen, begabten Sohn konzentriert hatten – und wie fassungslos und hilflos die Eltern dessen Abgleiten in den Linksextremismus mitansehen mussten. Der Vater berichtete mir von hitzigen Diskussionen, bei denen der Sohn die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes begründet, den Eltern mangelnden Widerstand gegen den Nationalsozialismus vorgeworfen hatte.
Der Vater, im Zweiten Weltkrieg in Russland verwundet, selbst nie ein Nazi, konnte seinen Sohn nicht verstehen. Er hatte sich nach dem Krieg zum Abteilungsleiter einer Versicherung hochgearbeitet, geprägt von der Überzeugung, die Bundesrepublik Deutschland sei, alles in allem, ein passabler Staat, in dem es sich zu leben lohne.
Der Sohn, der die angebliche Folterung politischer Gefangener anprangert, inhaftierte RAF-Mitglieder im Gefängnis besucht, kann über diese Einschätzung nur lachen. „Geh doch nach drüben in die DDR“, tobt der Vater bei einer dieser Auseinandersetzungen. Wolfgang Grams, Wehrdienstverweigerer, Pazifist, antwortet ganz ruhig: „Ich will hier etwas verändern.“ Als der Sohn in die Illegalität abtaucht, sein Bild nach Anschlägen auf Fahndungsfotos auftaucht, lässt er verstörte Eltern zurück, die seinen Schritt auch nicht annähernd nachvollziehen können.
Auch Bruder Rainer, mit dem sich Wolfgang Grams früher ein winziges Zimmer teilte, hat die politischen Überzeugungen des Älteren nie geteilt. Er versuchte sich als Kleinunternehmer, probierte mal dies aus und mal jenes, passte sich an die Gesellschaft an. Er erzählte mir vom strengen Regiment, das der Vater früher geführt hat, von den Ohrfeigen bei schlechten Schulnoten, vom Tischgebet vor dem Essen. Auch er litt unter der kleinbürgerlichen Enge des Elternhauses, zog daraus jedoch völlig andere Konsequenzen – als lebender Beweis, dass ähnliche Bedingungen nicht zwangsläufig zu ähnlichen Resultaten führen.
Bei den früheren Weggefährten aus der linken Szene fiel mir besonders auf: Alle hatten sich in irgendeiner Form etabliert, meistens als Staatsdiener. Sie waren Lehrer geworden oder Verwaltungsbeamte, einige machten Karriere in der Kommunalpolitik. Von ihrem ehemaligen Kumpel Wolfgang Grams sprachen sie wie von einem fernen Verwandten, den man irgendwann aus den Augen verloren hat, dessen Werdegang einem unbegreiflich erscheint. Ein enger Freund, mit dem Wolfgang Grams eine Griechenlandreise in einem bemalten VW-Käfer unternommen hatte, schilderte mir ein Schlüsselerlebnis: Als das Auto im Sand stecken geblieben war, half ein alter Mann, zog den Wagen mit einem Traktor heraus. Als sich die jungen Deutschen bedanken wollen, streifte der Helfer, offenbar Mitglied einer Roma-Sippe, den linken Hemdsärmel hoch. Auf dem Unterarm prangte die Häftlingsnummer, die dem Mann in einem Konzentrationslager eintätowiert worden war. Die Begegnung, glaubt der Freund, hat sich Wolfgang Grams tief eingeprägt, womöglich dessen weiteren Werdegang maßgeblich beeinflusst.
Student Grams zieht kurz darauf in eine Wohngemeinschaft mit Gleichgesinnten, staatskritischen jungen Leuten wie er selbst, die von der Revolution träumen. Als es jedoch ernst wird, als sich Polizei und Verfassungsschutz für die WG zu interessieren beginnen, seilen sich die meisten ab. Eine frühere Freundin erzählte mir, wie sie den zögernden Wolfgang, Spitzname :„Gaks“, beschwor : „Es wird brenzlig, geh’ jetzt.“ Aber er bleibt.
Der sensible Wolfgang, der musikalische Jazz-Fan, der aufbegehrende Sohn – davon war nach den Schüssen von Bad Kleinen keine Rede mehr. Was sich den meisten Bundesbürgern einprägte, war das Foto eines leblosen Mannes auf den Bahngleisen. Ein toter Terrorist.
Sein Opfer, der 20 Jahre jüngere GSG 9-Mann Michael Newrzella, war ihm weit ähnlicher, als das in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich wurde. Dies wurde mir klar, als ich bei seinen Eltern zu Besuch war. Das schöne Einfamilienhaus in einem Hamburger Vorort war proper herausgeputzt, der Garten drum herum äußerst gepflegt. Die Newrzellas hatten, ähnlich wie die Eheleute Grams, hart gearbeitet, eisern gespart, um sich ein solches Heim leisten zu können. Der Vater, ein Postbeamter, sammelte seltene Puppen, setzte sie auf Sessel, Schränke und Sofas.
Sohn Michael jedoch war dieses Ambiente zu spießig, zu eng. Er wollte Abenteuer erleben, Grenzen spüren, Herausforderungen bestehen. Das Leben nach Fahrplan, das seine Eltern führten, fand er stinklangweilig. Seine Mutter berichtete mir von langen Diskussionen mit dem Sohn. „Ihr müsst viel mehr machen aus eurem Leben“, habe Michael gefordert, „ihr müsst viel mehr riskieren.“
Auf die Idee, den Staat zu bekämpfen, kam Michael Newrzella allerdings nicht, im Gegenteil. Er fand das Modell Deutschland außerordentlich geglückt, schwärmte über die vielen Möglichkeiten, selbst wenn man nicht reich sei. Im Urlaub buchte er Fallschirmspringerkurse oder fuhr zum Tauchen nach Florida. Dass er auf das Abitur verzichtet, um eine Ausbildung bei der GSG 9 zu beginnen, versteht niemand so recht: Die Eltern und die beiden Brüder nicht, die Schulfreunde und die Lehrer schon gar nicht. Schon bald spürt die Familie, dass sich ihr Michael verändert. Die Eltern, die immer so stolz auf diesen gescheiten und unerschrockenen Sohn waren, spüren verzweifelt, dass er ihnen zusehends entgleitet. Im Bewusstsein, Mitglied einer Elitetruppe zu sein, schottet sich der junge Grenzschützer mehr und mehr ab. „Er hat uns kaum noch geschrieben“, erzählte mir die Mutter. In Gesprächen wirkt der früher so offene Junge verschlossen und einsilbig. Dem Vater kommt es vor, als sei Michael in einen klosterähnlichen Orden eingetreten, der für Privates keinen Platz mehr lasse. „Wir haben einen Sohn verloren“, sagt er zur Mutter.
Mir fielen die Parallelen auf. Verstanden sich nicht auch die RAF-Kämpfer als eine Art Orden, als Auserwählte, dazu berufen, die Menschheit vom Joch kapitalistischer Ausbeutung und imperialer Unterdrückung zu befreien? „Wir haben uns als revolutionäre Avantgarde verstanden“, hatte mir die ehemalige RAF-Aktivistin Irmgard Möller in einem Interview gesagt. Für eine private Existenz war angesichts solchen Sendungsbewusstseins kein Platz mehr.
„Die verlorenen Söhne“ überschrieb der Spiegel meine Geschichte über den Werdegang der beiden Hauptpersonen. Dabei ging es mir auch um den Versuch, Vorurteile auf beiden Seiten aufzuzeigen, die einen objektiven Blick auf diese beiden Menschen zu verstellen drohten. Nicht nur die Eltern von Wolfgang Grams waren als „Terroristen-Eltern“ verunglimpft worden. Auch der erschossene GSG 9-Mann Newrzella zog noch nach seinem Tod wütenden Hass auf sich. „Michael N., Du warst nur der Erste“, schrieben Anhänger aus der linken Szene auf Bauwagen in Altona, „die andern kriegen wir auch.“ Dass sich hinter dem Klischee vom Polizisten und vom Terroristen zwei Menschen mit Wünschen, Träumen, Hoffnungen verbargen, konnten und wollten die Fanatiker auf beiden Seiten nicht wahrhaben.
An den Reaktionen auf den Artikel spürte ich, dass allein der Versuch, die beiden Biografien sozusagen in einem Atemzug zu beschreiben, von manchen Lesern als ungeheurer Tabubruch empfunden wurde. Empörte Abonnenten bestellten den Spiegel ab. Polizisten schrieben mir, ich solle mich schämen. Ich hätte die Grenze zwischen Täter und Opfer verwischt.
Bruno Schrep, gelernter Bankkaufmann aus Wiesbaden, begann seine journalistishe Laufbahn als Gerichtsreporter beim Wiesbadener Tagblatt. Seit 1986 lebt er in Hamburg, wo er heute als SPIEGEL-Reporter für das Ressort Deutschland arbeitet. 1994 gewann er beim Internationalen Publizistikwettbewerb in Klagenfurt den Preis des Landes Kärnten, 2006 den Erich-Klabunde-Preis des Deutschen Journalistenverbandes Hamburg mit einer Reportage, die auch bei Hinz&Kunzt erschienen ist. Buchveröffentlichungen: „Gefährliche Heimat“, „Alle meine Rosen sind blau“ und „Jenseits der Norm“