Hinz&Künztler Witold

„Die ganze Welt gesehen“

Hat viele schlechte Zeiten hinter sich: Hinz&Künztler Witold. Foto: Dmitrij Leltschuk

Witold, 73, verkauft Hinz&Kunzt vor Aldi in der Gutenbergstraße in Glinde.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

„In Australien habe ich unter Millionen Sternen geschlafen.“ Witold zeichnet mit der Hand einen weiten Bogen über seinem Kopf. „Ich habe Wasserfälle und Pflanzen gesehen, das glaubst du mir nicht“, sagt er und grinst begeistert. Viel Geld habe er nie gehabt. „Dafür habe ich aber die ganze Welt gesehen“, sagt der 73-Jährige. Er habe viel erlebt. Auch „viele schlechte Zeiten“.

Mit 30 Jahren verließ Witold seine Heimatstadt Breslau in Polen. Über die Zeit dort spricht er nicht gern. Nur so viel: „War schlechte Zeiten. Kriegsrecht. Kommunismus.“ Nach dem Abitur hatte er in Polen eine Ausbildung zum Elektrotechniker gemacht. Seine Großmutter lebte in Hamburg, und wenn er sie besuchte, „dann war gute Zeiten“, erinnert er sich. Deshalb zog es ihn 1980 nach Hamburg.

d jobbte er in Clubs auf dem Kiez und besuchte nebenbei Deutschkurse. Dann bewarb er sich als Elektrotechniker bei einer Reederei. Erst heuerte er auf einer Fähre an, dann auf einem Container- und schließlich auf einem Kreuzfahrtschiff. „Karneval war ich in Rio, und in Australien habe ich auf ­einer Hochzeit die Nacht durchgetanzt.“ Wenn Witold von seinen Reisen erzählt, wirkt er jung und abenteuerlustig. Die Kajüten an Bord seien klein und die Bezahlung schlecht gewesen. „Auch oft schlechte Zeiten“, sagt Witold. Doch wenn er zurückblickt, sei er dankbar, dass er so viel von der Welt sehen durfte.

Nach mehr als 20 Jahren auf See musste er seinen Job aufgeben und kam ­zurück nach Hamburg. Er litt unter Magengeschwüren und die Arbeit war körperlich zu anstrengend geworden. Über zwei Jahre schlief er bei Bekannten auf dem Sofa, bis er schließlich in eine Sozialwohnung ziehen konnte. Die Wohnung, in der er heute lebt, ist voller Andenken an die Länder, die er gesehen hat, erzählt Witold: Holzskulpturen von den Osterinseln etwa oder ein ­Aztekenkalender aus Mexiko.

Er sei froh, dass er ein Dach über dem Kopf hat. „Aber es ist einsam. Ist nichts zu tun außer Kreuzwort­rätsel und glotzen“, sagt er frustriert. Da er auf See die meiste Zeit nicht unter deutscher Flagge fuhr, ist seine Rente klein und er kommt kaum über die Runden. Vor zehn Jahren nahm ihn ein Bekannter deshalb mit zu Hinz&Kunzt. „Beim Zeitungsverkauf kann ich etwas Sinnvolles tun und mich bewegen. Da kann ich mit Leuten sprechen. Ich mache das für mich selbst“, sagt Witold. Trotzdem fehlt ihm das Reisen manchmal. „Wenn du kannst, dann guck dir die Welt an“, rät er.

„Ich bin doch schon alt und nicht mehr fotogen“ – Witold ist anfangs unschlüssig, ob er fotografiert werden will. Doch als der 73-Jährige erfährt, dass einer seiner Kunden ihn empfohlen hat, fühlt er sich geschmeichelt und stimmt zu. Der schreibt: „Er hat im Laufe der Jahre viele Kunden durch sein freundliches Wesen und seine Hilfsbereitschaft erfreut.“ Witold ­lächelt verlegen. „Ganz gute Zeiten gerade“, sagt er.

Artikel aus der Ausgabe:

Eins geht noch?

Laut einer Studie kann sich etwa jede:r Fünfte in Deutschland vorstellen, einen „trockenen Januar“ – einen „Dry January“ – einzulegen. Wir haben für Sie ohne moralischen Zeigefinger mit Suchtexperten und Menschen gesprochen, die mit und ohne Alkohol leben. Außerdem im Magazin: Warum unser Hunger auf Fisch im Senegal zum Problem wird.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.