Jochen Siemens blickt hinter die Kulissen des Modezirkus
(aus Hinz&Kunzt 188/Oktober 2008, Das Modeheft)
Er war bei den Schauen von Mailand bis New York, sprach mit den Mode-Göttern von Versace bis Lagerfeld. Bei seinen Recherchen blickte Stern-Reporter Jochen Siemens auch hinter die Kulissen einer hermetisch abgeriegelten Welt, die sich an Drogen und der eigenen Hybris berauscht.
Es ist ein paar Jahre her, es war mitten in Mailand in einem alten Haus mit einem kleinen Park. Der Park hatte drei Sitzbänke und auf ihnen saßen sieben oder acht Models, langbeinig, dünn, in Jeans und Parka, die Haare wie seidige Gardinen um das Gesicht wehend, und rauchten. Eines der Models nahm seinen Prada-Rucksack, holte weiße Dosen heraus und zeigte sie den anderen. Manche nickten, andere schüttelten den Kopf. Ein Model machte eine der Dosen auf, schüttete Pillen in die Hand, vier oder so, und schluckte sie. Im Haus saß ein großer, dreitagebärtiger Mann, Italiener, Funktionär eines Modelverbandes, und er schimpfte, weil man ihn gefragt hatte, ob die vielen magersüchtigen Mädchen, die sie auf die Laufstege schickten, nicht eine falsche Botschaft an die vielen Mädchen in der Welt sendeten: Kann man nur als Skelett Model werden?
„Was regt sich die Welt darüber auf?“, schimpfte der Mann. „Unsere Laufsteg-Bilder sieht doch niemand, vielleicht drei, vier Bilder für die Presse, aber das Ganze bleibt doch unter uns, eine geschlossene Gesellschaft, verstehen Sie?“
Ein paar Wochen später. Donatella Versace sitzt in einem Stuhl und sagt, dass sie nicht so viel über ihre Entziehungskur in den USA reden möchte. Ja, sie war da, weil es sein muss-te. Sie selbst hätte es vielleicht nicht gemerkt, aber es waren Freunde, die in ihrem Haus in Mailand die Toilettentür aufzerrten, als sie wieder mal zum Pulver verschwinden wollte. Sie ging oft, wie oft mag sie nicht sagen, aber es waren andere, die diese Selbstverständlichkeit durchbrechen mussten. Selbstverständlichkeit, geschlossene Gesellschaft – Mode und Drogen sind keine Paarung, sondern eine Emulsion, eine irgendwie organische Mischung.
Es ist hinfällig in der Modewelt nach Drogen zu fragen. Man könnte auch einen Motor fragen, was er von Öl halte. Drogen sind das Öl einer klandestinen Kreativwelt, die noch an ganz alte Kulturen des Schöpfens glaubt: an den Exzess, an die Euphorie über jeden noch so kleinen Einfall, und sei es die Verwendung von Angelschnur für eine maritime Kollektion oder Unterröcke aus Wal-Mart-Plastiktüten, irgend so etwas, Hauptsache Einfall. Und in diesem geschlossenen Kreis aus Designern, Stylisten, Fotografen, Modeeinkäufern und Models, die darin nur die Kellner sind, sagt jeder jedem jederzeit wie „great“, „phantastic“ und „wonderful“ er und sowieso alles ist. Eine Gesellschaft, die sich jederzeit Euphorie oder Hysterie spritzt, die Hybris in großen Dosierungen schluckt und sich Lässigkeit mit Champagner und Wodka antrinkt und die Motoren jederzeit mit Kokain oder Ecstasy in Gang hält. Eine Drogengesellschaft, eine Elite, die sich für unbesiegbar und unangreifbar hält.
Drogenrazzien bei einer Modenschau? Dealer in Handschellen in einem Fotostudio? Hat es nie gegeben. Mit ihren eigenen
Gesetzen und geschlossenen Zirkeln hat sich die Modewelt von der Ordnungswelt abgekapselt. Designer wie Marc Jacobs oder eben Donatella Versace berichten sparsam, aber freimütig von ihren Exzessen und Zusammenbrüchen und werfen sich die Namen ihrer Rehab-Center zu, als seien es Luxushotels. Aber nie sind ihre Exzesse vor Gericht gekommen. Selbst die Ermittlungen der britischen Staatsanwaltschaft gegen Kate Moss, die jemand beim Einsaugen weißen Pulvers in die Nase gefilmt hatte, wurden eingestellt. Schließlich sei auf den Bildern ja nur weißes Pulver zu sehen, ob es wirklich Kokain war, konnte nicht nachgewiesen werden.
Wie so vieles nicht. Der Stoff für den Fashion-Betrieb wird ja nicht, mehr oder minder offen sichtbar, an irgendwelchen Bahnhöfen von lungernden Dealern an abgerissene Junkies verkauft. Der Stoff ist immer schon da, wenn der Modezirkus nach Mailand, Paris oder New York kommt. In großen Mengen in Silberdosen geliefert, so selbstverständlich wie der Champagner, der hinter Laufstegen weggegossen wird, wenn er ein paar Grad zu warm geworden ist. Der Modezirkus ist in jeder Beziehung eine höher gedopte Gesellschaft als die Tour de France. Eine Gesellschaft, in der jederzeitige Herstellbarkeit von Euphorie, Wachheit und Körperformen alles zählt. Wer heute nicht weiß, ob er morgen noch im Fashion-Betrieb dabei sein wird, muss bereit sein, sich mit allem zu verkaufen, was er hat. Wenn Models vor den Schauen in Mailand gesagt wird, es wäre nötig, noch vier Kilo zu verlieren, dann hat niemand Zeit, ein durchdachtes Ernährungs- und Sport-Programm zu planen. Dann kommen die Pillen, Clenbuterol und andere Fettverbrenner, manche aus der Kälbermast, andere aus Dopinglabors. Pillen und Wasser gehören vor den Laufsteg-Wochen zur Grundnahrung 17-, 18-jähriger Mädchen, die man am fiebrigen Blick und Schweißfilmen auf der Stirn erkennt, denn die Fettverbrenner erhöhen die Körpertemperatur.
Manche der Mädchen bekommen Akne vom Stress, dagegen hilft so etwas wie Roaccutan, doch davon werden sie oft depressiv, was in einer Euphorie-Maschine wie Mode gar nicht geht. Gegen Trübnis hält der graue Markt aus Bookern, Agenten und anderen Models Prozac und andere Muntermacher bereit, zusammen mit den Schlankmachern ein Pharmacocktail mit erheblichen Risiken. Bei eventuellen Schwangerschaften kann es zu Missbildungen der Föten kommen. Manche der Pillenlieferanten lassen sich von den Models unterschreiben, dass sie nicht für eine Abtreibung aufkommen. Selbstverständlich nicht.
Jochen Siemens
schreibt seit den 80er-Jahren als echter Insider über das Geschäft mit Mode und Schönheit. „Es ist die dieselbe Anziehung, die auch Rock-Musik hat. Junge, schöne Menschen reisen um die Welt und toben sich in einem Leben aus, bevor die Langeweile der Erwachsenheit sie irgendwo ankettet.“ Sein rasantes Roman-Debüt „Closeup“ (Pendragon Verlag, 19,90 Euro) erzählt die Geschichte des Models Julia, das ein Weltstar werden will.