Die 55-jährige Viola V. lebt in Berlin unter einer S-Bahn-Brücke. Dort hat sie sich eingerichtet wie in einem richtigen Zuhause. „Eigentlich geht das nicht“, sagt Viola V. selbst. Und dass sie weg will. Nur: In einer eigenen Wohnung zu leben hat sie bisher nie lange geschafft.
Sie habe weiße Haare bekommen durch all den Ärger der letzten Wochen, sagt sie, verdreht die Augen und deutet in Richtung ihrer Haare. Als ihr Gegenüber zu lachen beginnt, lacht sie laut mit. Das mit den weißen Haaren war ein Witz – die weißen Haare der 55-Jährigen sind eine Perücke. Dem Charme von Viola V. kann man sich nur schwer entziehen. An diesem Tag sieht sie in ihrem dunklen Outfit aus wie eine Gutsbesitzerin, die gleich durch ihre Ländereien führen will. Mit schweren Stiefeln an den Füßen und schwarzem Hut auf den weißen Perückenhaaren. Ihre Finger zieren große, alte Ringe, die über die Jahre eins geworden zu sein scheinen mit ihren Händen.
Eine Menge Journalisten und Fotografen sind in letzter Zeit bei ihr aufgetaucht. Sie ist begeistert von der Aufmerksamkeit, die sie auf sich zieht. Gerne lässt sie sich fotografieren und verlangt, Abzüge von den Bildern zu bekommen. Was diese schillernde Person für die Journalisten interessant macht, ist der Umstand, dass Viola V. obdachlos ist. Ihr Zuhause ist ein Platz zwischen befahrenen Straßen unter einer S-Bahn Brücke. Sie hat sich eingerichtet mit Dingen, die andere Leute normalerweise in ihre Wohnung stellen. Es gibt einen Sitzbereich, einen Schlafbereich und eine Ecke für ihre beiden Hunde. An einem Brückenpfeiler ist ein kleiner Spiegel befestigt, an einem Haken hängt Schmuck. Mehrere Einkaufswagen stehen herum. Auf ihnen liegen Decken, die den Blick auf das verbergen, was darunter ist.
Viola V. stammt aus der Nähe von Chemnitz, das damals noch Karl-Marx-Stadt hieß. Als junge Frau arbeitete sie dort jahrelang am Schalter bei der Post. Eine gute Zeit war das damals, sagt sie. Irgendwann wurde sie krank, bekam körperliche Anfälle, „so ähnlich wie Epilepsie“. Als eine Sozialarbeiterin ihr Jahre später dabei half, ihre Rente zu beantragen, hatte sie bereits ihre ersten Jahre auf der Straße hinter sich. Irgendwann kam sie nach Berlin. Doch in die Wohnung, in die sie einzog, schaffte sie alle möglichen Dinge heran, bald war kein Durchkommen mehr. Nachbarn beschwerten sich über einen unangenehmen Geruch, mehrfach kamen Leute vom Gesundheitsamt. Sie musste die Wohnung verlassen und landete wieder auf der Straße.
„Die Behörden wollen mich hier weghaben.“
Sozialarbeiter organisierten ihr einen Wohnheimplatz. Doch bald war auch hier wieder alles voll mit Dingen, von denen sie sich nicht trennten wollte. Sie bekam die Auflage, sich einer psychiatrischen Diagnostik zu unterziehen; ein gesetzlicher Betreuer war für sie im Gespräch. Beides lehnte sie ab. Lieber packte sie ihre Sachen wieder in ihre Einkaufswagen und ließ sich an irgendeinem öffentlichen Platz in der Hauptstadt nieder.
In ihrem „Freiluftappartment“ unter der S-Bahn-Brücke, wie sie ihr Reich selber nennt, lebt sie seit Januar. Manchmal bringen Leute Essen vorbei. Beim Bäcker konnte sie im Winter warmes Wasser holen und damit ihre Haare waschen („20 Schüsseln Wasser habe ich mir über den Kopf gekippt.“). Seitdem die Mitarbeiter der Bäckerei bemerkt haben, dass die obdachlose Frau hinter ihrem Geschäft in den Mülltonnen nach Essen sucht, ist das Verhältnis nicht mehr so gut. Vor kurzem bekam Viola V. unter ihrer Brücke Besuch von sechs behördlichen Vertretern: „Zwei Männer vom Ordnungsamt, zwei Polizisten und zwei Sozialarbeiter waren das“, sagt sie. „Die wollen mich hier weghaben.“ Die beiden Sozialarbeiter, Abteilung Soziale Dienste im zuständigen Bezirksamt, drückten der obdachlosen Frau ihre Visitenkarten in die Hand. Der eine sagte: „Aber ich weiß ja, dass Sie in Wirklichkeit gar keine Wohnung wollen, Frau V.“
Möchte sie wirklich keine Wohnung? Kann die Straße ein Zuhause sein? „Nein, eigentlich geht das “, antwortet Viola V., „ich bin ja dazu gezwungen.“ Sie hätte also gerne eine Wohnung? „Ja, natürlich.“ Und: „Ich möchte hier wirklich sehr gerne weg.“ Obdachlosigkeit abzuschaffen, das sei sehr schwierig, sagen viele Experten, noch mehr meinen, es sei unmöglich. Vielleicht ist Viola V. ein Beispiel dafür, dass das stimmt. Aber vielleicht krankt es ja auch an den Strukturen eines Hilfesystems, das von den vermeintlich schwierigen Bedürfnissen und Gewohnheiten einiger Menschen überfordert ist. Warum muss der Anspruch auf einen Wohnheimplatz an ein psychiatrisches Gutachten und gegebenenfalls an die Akzeptanz eines gesetzlichen Betreuers gebunden sein? Viola V. jedenfalls, mit ihrem Eigensinn, Stolz und ihrem Autonomiebedürfnis, kann solche Auflagen nicht erfüllen.
Text: Jutta Herms
Fotos: Antje Görner
Quelle: www.street-papers.org / Strassenfeger – Germany