Behinderte aus Bulgarien und Rumänien betteln seit Monaten in der City. Aber nicht unbedingt freiwillig. Das recherchierte RTL-Autor Andreas Keuntje mit drei Teams und mit versteckter Kamera
(aus Hinz&Kunzt 149/Juli 2005)
Behinderte Menschen in Kälte, Hitze oder Regen betteln um ein paar Almosen, Tag für Tag. Diese Bilder sind die Regel in den Fußgängerzonen westeuropäischer Großstädte – wie in Hamburg.
Seit Monaten kursiert das Gerücht: Diese Menschen sind moderne Sklaven – Opfer skrupelloser Menschenhändler. Nur Vermutungen oder tatsächlich organisierte Kriminalität?
Auf der Mönckebergstraße sehen wir eine junge Frau im Rollstuhl, die offensichtlich zu der Gruppe der rumänischen oder bulgarischen Bettler gehört. Wir werden Zeugen einer merkwürdigen Szene: Sie verlässt plötzlich ihren Platz und rollt los. Sie beeilt sich. Wir folgen ihr bis zum Busbahnhof. Die-ser Bus hat das Ziel Sofia in Bulgarien. Sie redet mit dem Fahrer, doch der winkt ab. Es sieht aus wie ein Fluchtversuch – der scheitert. Langsam rollt sie zurück zu ihrem Arbeitsplatz.
Stimmen unsere Vermutungen? Mit drei Reporter-teams und versteckten Kameras beobachten wir die Szene eine Woche lang.
Morgens um 9.30 Uhr tauchen die Bettler auf. Der Junge mit dem wei-ßen Käppi ist offenbar eine Art Aufpasser. Er zieht einen verkrüp-pelten Mann auf einem alten Dreirad zu seinem „Parkplatz“. So einen Aufpasser hat auch die behinderte Frau im Rollstuhl. Wortlos wird sie an einem strategisch günstigen Ort abgestellt. Den wird sie die nächs-ten neun Stunden nicht mehr verlassen. Wir haben auch nicht gesehen, dass sie mal auf die Toilette gebracht wurde oder etwas zu essen be-kam.
Ungefähr alle 30 Minuten kommen die Aufpasser, um zu kontrollieren, wie die Geschäfte laufen. Eine freundliche Unterhaltung sieht anders aus. Ihr Weg führt direkt zu einem jungen Mann, wohl eine Art Ober-aufseher, der sein „Human-Kapital“ ständig observiert.
Beide Bettler gehören zum gleichen Clan. Dieser teilt sich den Bezirk an der Binnenalster. Auch der Junge mit dem weißen Käppi trifft den Oberaufseher. Und immer wieder kann man beobachten, dass dem Boss etwas zugesteckt wird. Der hält dafür seinen „Schützlingen“ die deutsche „Konkurrenz“ vom Leib. Die Bettel-Mafia hat die Innenstadt unter sich aufgeteilt. Ein zweiter Clan hat sich die Gegend um den Hauptbahnhof gesichert.
Die offiziellen Stellen, wie Staatsanwaltschaft, Polizei und der Innen-senat der Stadt Hamburg, schweigen zu diesem Thema. Sie wollen keine Auskunft geben, solange sie keine gerichtsfesten Beweise haben.
Wer versuchen herauszufinden, wer die Hintermänner sind. Wir sprechen den Mann auf dem Dreirad an. Er sagt, er komme aus Rumänien. Deshalb engagieren wir einen Dolmetscher. Vielleicht fasst er Vertrauen, wenn jemand in seiner Muttersprache mit ihm redet. „Wie geht es dir?“, fragt der Dolmetscher. „Gut!“ Woher kommst du? „Aus Rumänien!“ Doch auf alle weiteren Fragen folgt nur noch ein nichtssagendes Nicken. Nicht nur bei diesem Mann, bei allen. Es wirkt einstudiert. Aber jetzt wissen wir immerhin, die Spur führt nach Rumänien.
Bukarest. Auf den ersten Blick eine Metropole europäischen Zu-schnitts. Große Boulevards mit westlichem Warenangebot. Doch hinter der Fassade, nur wenige Schritte abseits der Prachtstraßen: Armut. Und ähnliche Bilder wie in Hamburg.
Wir versuchen, Opfer der Bettelmafia zu finden, die reden. Als uns eine Frau um ein Almosen bittet, fragen wir einfach nach. Ob sie von Schlepperbanden gehört hat, die Bettler nach Europa bringen? „Nein“, sagt sie. „Ich sage dazu nichts.“ Warum nicht? „Sonst schlagen sie mich.“
Unser nächster Weg führt uns ins Pressezentrum von Bukarest. Wir treffen uns mit dem Journalisten Daniel Neamu. Er hat mit einem Kollegen undercover ermittelt und die Methoden der Mafia in Rumänien enthüllt. „Wir haben ein Sklaverei-Netzwerk aufgedeckt, das Menschen an jeden verkauft, der sie haben will“, sagt er. Nicht nur Behinderte, sondern auch Frauen; noch „besser“ sind Kinder. Er hat mit den Men-schenhändlern verhandelt: Für 4000 Dollar kann man ein einjähriges Mädchen kaufen. „Auf dem Schild hinter der Mutter stand: Frisch-Ware!“ Einige Opfer erzählten ihm, dass sie geschlagen wurden. „Aber ich habe den Eindruck, dass sie dermaßen eingeschüchtert werden, dass sie es schon als ‚normal‘ ansehen, geschlagen zu werden.“
Wir fahren nach „Ferentari“, einem Roma-Ghetto am Rande von Buka-rest. Ein Informant hat uns den Tipp gegeben: Hier leben Menschen, die für das Netzwerk der Menschenhändler arbeiten.
An einer Straßenecke fragt uns ein Mann, was wir hier wollen. Er nennt sich Remus. Ja, auch er habe für die Mafia gearbeitet. Ganz offen erzählt er uns, wie die Menschenhändler ihre Opfer über die EU-Grenze schleusen.
„Die Schleuser leihen ihnen die 500 Euro, die Touristen an der Grenze vorzeigen müssen. Gleich nach der Grenzkontrolle nehmen sie ihnen das Geld wieder ab. Sie bezahlen die 250 Euro für die Reise und 35 Euro für eine Krankenversicherung. Das schießen sie vor.“
Diese Kosten schreiben die Schleuser an, genau wie das Geld für die Unterbringung. Von den Schulden kommen die Opfer nicht mehr runter – und landen so in der Abhängigkeit.
Wieder zurück in Hamburg. Es ist 19 Uhr. Der Bettelclan vom Jungfernstieg sammelt sein „Hu-man-Kapital“ von der Straße. Wir folgen ihnen mit versteckter Kamera, um herauszufinden, wo und vor allem wie sie leben. Der Weg endet hier: am Hintereingang einer herunter gekommenen Ab-steige an der Reeperbahn, dem Hotel Hanseat. Da kommt der Oberaufseher mit dem Mann auf dem Dreirad im Schlepptau. Der hat neun Stunden auf seinem Platz gesessen. Der Weg zum Hotel ist der abwechslungsreiche Höhepunkt seines Arbeits-tages. Unter dem Vorwand, für einen Monat selbst Zimmer für eine größere Gruppe Südost-Europäer anmieten zu wollen, gehen wir ins Hotel. Und spre-chen mit dem Besitzer. Der will 500 Euro für zwei Personen.
Wir geben vor, mehr Leute pro Zimmer unterbringen zu wollen, damit sich das rechnet. Deshalb fragen wir ganz offen nach den Zimmer im hinteren Trakt. Die müssten doch irgendwann frei werden. Der Besitzer winkt ab: Nein, da kämen immer neue. Und anschauen könnten wir die Räume auch nicht.
Verbote wecken Neugier. Warum will der Hotelier uns partout nicht zei-gen, wie seine Kundschaft dort wohnt? Als die Rezeption später nicht besetzt ist, riskieren wir doch einen Blick.
Und finden diese Zustände vor: Zu sechst hocken die Bettler mit ihren Aufpassern auf etwa sechs Quadratmetern. Und teilen sich ein Doppelbett. Kein WC, kein TV, nur ein defektes Waschbecken.
Erst einmal konnte ein Menschenhändler verurteilt und aus Ham-burg ausgewiesen werden. Sein „Schützling“ ertrug die Schläge nicht mehr und redete. Doch die anderen schweigen.
Die Branche brummt: Ein behindertes Kind nimmt schätzungsweise pro Stunde zehn Euro ein, das macht nach durchschnittlich neun Stunden 90 Euro. Bei sechs Bettlern pro Clan sind das im Monat rund 15 000! Nach Abzug der „Spesen“ für Hotel und Reise bleibt ein Traumverdienst – aber nur für die Bosse der Organisation.
Hamburg, 0.30 Uhr. Die Zuhälter leisten sich einen kleinen Bummel auf der Reeperbahn, ihre „Schützlinge“ haben sie im „Hotel“ zurückgelassen. Seit sie hier abgelegt wurden, haben sie ihren Verschlag nicht mehr verlassen. Erst morgen früh werden sie wieder auf die Straße gerollt.