Er startete als Rock ’n’ Roller mit den Rattles, spielte Shantys und vertonte Lyrik. Seit 47 Jahren steht Achim Reichel auf der Bühne. Im Herbst geht er wieder auf Tournee.
(aus Hinz&Kunzt 225/November 2011)
„Wir sind ja hier direkt neben meinem Elternhaus“, freut sich Achim Reichel. Unser Treffpunkt ist die Amphore, ein Café mit Elbblick direkt an der St. Pauli Hafenstraße. Im obersten Stock des Nebenhauses, gleich unter dem Dach, hat der Musiker als Kind gewohnt. Das ist schon ein paar Jahrzehnte her, Reichel ist 67 Jahre alt. Mit seiner Freizeitkleidung in Naturtönen und dem grau melierten Haar sieht er aus wie ein jung gebliebener Alter, aber vom Ruhestand ist er weit entfernt. Seit 47 Jahren steht der Unermüdliche auf der Bühne, und im Herbst geht er wieder auf Tournee. Dabei wollte er eigentlich Seemann werden, wie sein Vater und sein Großvater.
Reichel wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Der Vater stirbt als Achim sechs Jahre alt ist. Seine Mutter muss viel arbeiten, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Reichel erinnert sich trotzdem gern an die 50er- und 60er-Jahre auf St. Pauli, an das Treiben auf der Elbe. Oft hat er dem Be- und Entladen der Schiffe zugesehen. „Wir haben darauf geachtet, ob nicht irgendwo mal ’ne Banane runterfällt. Und wir haben in der Nähe der Landungsbrücken im Sommer immer gebadet.“
Sein Berufswunsch ist klar. „Meine Mutter sagte immer: ,Dein Vater hat die ganze Welt gesehen, hatte immer eine weiße Jacke an, mit den Taschen voller Trinkgeld‘“, erzählt Achim Reichel. „Das hörte sich gut an, das wollte ich auch. Also habe ich eine Kellnerlehre gemacht, um dann Schiffssteward zu werden.“ Nach der Arbeit hört der Lehrling Radio Luxemburg. „Dort spielten sie Rock ’n’ Roll, meine Lieblingsmusik.“ Im Partykeller eines Kumpels trifft er sich mit Freunden, sie spielen sich Platten vor, Rock ’n’ Roll versteht sich. Im Keller hängt eine Gitarre an der Wand, die den Jugendlichen fasziniert. So eine Gitarre, das wäre was! Aber er hat kein Geld. Schließlich kann er seinen Freund überreden, ihm das Instrument im Tausche gegen einen alten Plattenspieler zu überlassen.
Bald gründet er seine erste Band, die Rattles. Im Übungsraum hinter dem damaligen Oase-Kino auf der Reeperbahn treffen sie sich. Einen Verstärker haben die Jungs nicht, sie nehmen das Radio von Achim Reichels Mutter und nutzen dessen Plattenspielereingang, um die Gitarre einzustöpseln. „Hat ganz schön Lärm gemacht“, grinst Reichel.
Die Stadt vibriert damals: Der Star-Club und der Kaiserkeller eröffnen, jede Woche spielen angesagte, internationale Bands in der Stadt. Im Sog der aufblühenden Musikszene werden die Rattles zu Lokalmatadoren. „Es gab zu der Zeit nur ein knappes Dutzend Bands in Hamburg, die mit elektrischen Gitarren spielten“, so Achim Reichel. Die Vier gewinnen 1963 den Star-Club-BandWettbewerb, gehen kurze Zeit später auf Tournee mit Little Richard und den damals noch unbekannten Rolling Stones. „Wir hatten Glück und waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“
Die Bundeswehr beendet 1967 für Achim Reichel die Karriere als Frontmann der Rattles. Anschließend schlägt er musikalisch neue Wege ein. „Rock ’n’ Roll nahm keiner ernst, und ich wollte etwas Eigenes schaffen.“ Er gründet die Band „Wonderland“ und landet mit dem von James Last produzierten Song „Moscow“ einen Hit. In den 70er-Jahren produziert er einige psychedelisch angehauchte Krautrock-Platten, die überall Anerkennung finden – nur nicht in Deutschland.
1976 schlägt Achim Reichel den Marketing-Strategen seiner Plattenfirma wieder ein Schnippchen: Er veröffentlicht ein Album mit Seemannsliedern und Shantys im Rockgewand. Kurze Zeit später vertont er Balladen von Goethe, Fontane und François Villon. Das hatte es in der deutschen Schlagerseligkeit bisher noch nie gegeben. „Aber eigentlich war es keine große Sache, in Englands Folk-Rock-Szene war das gang und gäbe.“
In den 80er-Jahren vertont Achim Reichel zeitgenössische Schriftsteller, vor allem den gleichaltrigen Underground-Dichter Jörg Fauser. Das Lied „Der Spieler“ nach einer kurzen Erzählung von Fauser wird 1981 ein Riesenhit, landet sogar in der ZDF-Hitparade. Als Jörg Fauser an seinem Geburtstag bei einem Unfall 1987 stirbt, veröffentlicht Reichel das erste Album, bei dem er auch selbst textet. „Ich war so weit.“
Seitdem hat er alle paar Jahre eine Platte gemacht, fürs Fernsehen gearbeitet und live gespielt. „Ich bin hibbelig. Wenn ich nichts zu tun habe, geht es mir nicht gut.“ Wichtig war ihm immer, sich nicht zu verstellen. „Ich konnte immer gut von der Musik leben, aber um den ganz großen Speck hab ich mich nie gerissen, weil ich schon früh lernen musste, wie krank es sein kann, Begierdeobjekt der Medien zu sein.“ Ist denn immer alles glatt gegangen in seinem Leben? Achim Reichel überlegt einen Moment. Nein, auch er hat gelegentlich Erschütterungen verspürt. Er hat Freunde aus Jugendtagen verloren, weil sie plötzlich die Meinung vertraten, „Du bist ja jetzt ein Star, etwas Besseres, keiner mehr von uns.“ Er wurde bei Verträgen übers Ohr gehauen, seine Familie hat unter dem Medienrummel gelitten und der Neid unter Musikerkollegen ärgert ihn. „In den USA oder Großbritannien hält die Szene viel mehr zusammen.“
Aber das sind nur kleine Kratzer in einer großen Karriere. Jetzt will Achim Reichel wieder Neuland betreten. „Ich würde gern auf einem Frachter mitfahren und meine Biografie schreiben.“ Also fährt er am Ende dann doch zur See. Nur nicht in der weißen Jacke eines Schiffssteward, sondern in Jeans und Pulli.
Text: Sibylle Arendt
Foto: Stefan Malzkorn
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