Die Wirklichkeit kann so tragisch sein, dass Strafe ihren Sinn verliert. Richter Claus Rabe und die Mutter, die ihr Baby tötete.
(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)
Der Richter sucht den Blick der Angeklagten. „Vielleicht wäre es sinnvoll, mit der Geburt zu beginnen“, formuliert er vorsichtig. Die Angeklagte nickt und fängt an zu sprechen. Vor wenigen Wochen leitete Claus Rabe, Vorsitzender Richter am Landgericht Hamburg, den Prozess gegen eine junge Frau, die ihr kleines Kind getötet hat. „Todes-Mutter“ hieß die Angeklagte in der „Morgenpost“. Die Anklage lautete Totschlag. Während der Ermittlungen hatte die Angeklagte behauptet, dass es ein Unfall gewesen sei.
Vor dem Richtertisch legt die junge Frau mit den streng nach hinten gebundenen Haaren erstmalig ein Geständnis ab. Sie erzählt ihre Geschichte und weint, immer wieder. Richter Rabe lehnt sich nach vorn. Der Abstand zwischen Richtertisch und Angeklagter schrumpft ein paar Zentimeter. „Möchten Sie eine Pause“, fragte er die in Tränen aufgelöste Frau. Sie schüttelt den Kopf und spricht weiter.
Sie hat ihre acht Monate alte Tochter absichtlich fallen gelassen. Das Kind starb an den Folgen der Kopfverletzung. Die Tochter war eine Frühgeburt gewesen, wie auch ihr erstes Kind. Nach drei Monaten Intensivstation war die Mutter zu Hause mit der Situation überfordert. Das unruhige Kind schrie viel. Sie betreute zudem den vierjährigen Sohn und musste im Familienunternehmen mitarbeiten. Vom Ehemann und Vater kam keine Unterstützung. Sie traute sich nicht, um Hilfe zu bitten. Es kam zur schrecklichen Tat, zur Katastrophe.
Die Staatsanwältin wertet die Tat als „eine Art Durchdrehen“ nach Monaten permanenter Überforderung. Auch Richter Rabe findet, dass sie keine Tötungsabsicht hatte. Zudem habe sie ein von Reue getragenes Geständnis abgelegt. Das Urteil: zwei Jahre Haft auf Bewährung wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Die Vollstreckung der Strafe sei hier völlig sinnlos, sagt der Richter. Die Frau habe sich die größte Strafe selbst auferlegt: Sie muss mit ihrer Schuld leben.
Solche Fälle „sind auch für mich nicht leicht zu verkraften“, räumt er später im Büro ein. Ein Mann mit aufmerksamem Blick und wenigen silbergrauen Strähnen im dunklen Haar, die seine seriöse Erscheinung noch unterstreichen. Schockiert war er insbesondere vom Verhalten des auch vor Gericht abwesenden Ehemannes: „Der eigentlich Schuldige – der Vater, der sich davor gedrückt hat, Verantwortung für das von ihm in die Welt gesetzte Kind zu tragen.“ Wer so handele, sei moralisch mitschuldig an der Katastrophe, meint der Richter. Als Vorsitzender des Schwurgerichts hat Rabe vor allem mit Tötungsdelikten zu tun. Schwerst-Kriminalität. Ihm ist nichts fremd, er hat schon alles gesehen: „Mich wundert gar nichts mehr. Alles, was Menschen denken können, kann passieren und passiert.“ Für das Strafrecht hat er sich dennoch bewusst entschieden, „weil man mit menschlichen Schicksalen konfrontiert wird. Im Zivilrecht geht es immer nur ums Geld“, sagt der 61-Jährige.
Bei jeder Verhandlung versuche er zu verstehen, warum dieser Mensch so gehandelt habe. Wichtig sei, eine gemeinsame Sprache zu finden und einfühlsame Fragen zu stellen, damit jemand die Wahrheit sagt: „Eine abgehobene Sprache ist dabei nur hinderlich.“
Der Richter versichert, in 34 Dienstjahren keinen Unschuldigen verurteilt zu haben. „Gott sei Dank“, fügt er hinzu. Wie kann er das wissen? Er beruft sich auf den Grundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Persönliches von seiner Seite spiele da nicht mit rein, behauptet Rabe. Sein Handeln und Urteilen sieht er vom Gesetz bestimmt. Doch manchmal kommt das Gesetz an seine Grenzen oder, wie Rabe formuliert, „werden die Mittel des Strafrechts dem tatsächlichen Geschehen nur unvollkommen gerecht“.
Schon einmal hatte er einen solchen Fall: Eine schwer krebskranke Frau hatte ihren Ehemann gebeten, sie umzubringen. Es war eine glückliche Ehe. Der Mann hat es getan. Tötung auf Verlangen heißt das bei Juristen. Der Richter verhängte, wie bei der verzweifelten Mutter, eine Bewährungsstrafe. Claus Rabe: „Da fragt man sich: Welchen Sinn hat eine Strafe noch bei so tragischen und traurigen Geschichten, die dahinter stehen?“