Anwältin über Lampedusa-Geflüchtete

„Der Kampf war so erfolgreich wie keiner zuvor.“

Anwältin Insa Graefe ist bis heute beeindruckt von der Solidarität, die die Lampedusa-Geflüchteten erfahren haben. Foto: Mauricio Bustamante

Die Anwältin Insa Graefe hat für die kirchliche Beratungsstelle „Fluchtpunkt“ Dutzenden Lampedusa-Geflüchteten zu ihrem Aufenthaltsrecht verholfen. Pläne der EU zur weiteren Grenzabschottung machen ihr Angst. 

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Brauchen Sie für Ihre Arbeit als Rechtsberaterin für Geflüchtete ein dickes Fell, Frau Graefe?

Insa Graefe: Ich brauche Durchhaltevermögen. Vieles klappt nicht beim ersten Mal, und man arbeitet gegen ein System an, das gar nicht möchte, dass die Menschen hierbleiben können. Deswegen muss man beharrlich sein.

Haben Sie ein aktuelles Beispiel?

Ein Klient von mir ist durch Folter in Guinea schwer erkrankt und hat in Italien überhaupt keine medizinische Versorgung bekommen, was seine Krankheit noch verschlimmert hat. Deswegen ist er nach Hamburg gekommen. Er sollte aber trotzdem wieder nach Italien abgeschoben werden. Da besteht seitens der Behörden wenig Bereitschaft, die Umstände in den anderen europäischen Ländern zu würdigen. Nur mit sehr viel Beharrlichkeit haben wir diesen Fall gewonnen, er konnte hierbleiben.

Dieses Hin und Her geht auf eine Grundgesetzänderung zurück, die sich in diesem Monat jährt: Am 26. Mai 1993 hat der Bundestag das „Grundrecht auf Asyl“ stark eingeschränkt. Wer über sogenannte sichere Drittstaaten einreist, kann seitdem in diese zurückgeschickt werden. Kurz für die später Geborenen: Wieso gab es daran so viel Kritik?

Das Grundrecht auf Asyl war nach den Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg bewusst sehr unbeschränkt eingeführt worden: „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Vor 30 Jahren sind dann viele Bedingungen hinzu­gekommen. Das war der Anfang davon zu ­sagen: „Deutschland ist gar nicht mehr zuständig!“

Inzwischen ist europaweit über die Dublin-Verordnungen geregelt, dass die Länder zuständig sind, die die Geflüchteten zuerst betreten. Logisch: Politische Verfolgung droht ihnen in der EU wohl kaum.

Die Idee war mal, dass überall in Europa die gleichen Standards für Asyl­verfahren gelten. Aber das hat keine Sekunde lang funktioniert, die Bedingungen sind in einigen Ländern kata­strophal! Rechtsstaatliche Mindeststandards werden nicht eingehalten: In Rumänien und Bulgarien werden Asylsuchende inhaftiert, in Kroatien werden viele Schutzsuchende gar nicht erst ins Land gelassen. In Frankreich werden viele nicht in die Unterkünfte reingelassen und müssen tagelang auf der Straße bleiben. In Italien bekommt man keinerlei Unter­stützung mehr, sobald man ein Asylverfahren durchlaufen hat.

Harter Tobak.

Ich fühle mich als Europäerin verantwortlich für die Dinge, die hier geschehen sind. Es gibt sexualisierte Gewalt gegen geflüchtete Frauen. In Europa. In den Haftlagern. In den Unterkünften. Das sind Dinge, die glaubt einem fast niemand. Ich kenne aber fast keine Frau, die in den griechischen Lagern nicht solche Erfahrungen gemacht hat.

Wer sind die Täter – andere Geflüchtete oder staatliche Bedienstete?

Sowohl als auch. Es gibt unfassbar viel Machtmissbrauch. Wir haben viele Fälle von Frauen, die auf der Flucht vergewaltigt wurden, sogar von den Bediensteten von Haftanstalten. Aus Kroatien wird uns immer wieder berichtet, dass Menschen von Polizisten komplett ausgezogen und im Wald ausgesetzt werden. Das klingt vielleicht ein bisschen krass – aber es ist das, was wir jeden Tag hören. Es ist normaler europäischer Alltag.

Vor zehn Jahren stattete Italien Geflüchtete mit Aufenthaltspapieren aus und schickte sie nach Norden, auch um Länder wie Deutschland dazu zu bringen, mehr Geflüchtete aufzu­nehmen. Bis zu 300 der so­genannten Lampedusa-Geflüchteten kamen im Mai 2013 in Hamburg an und landeten hier zunächst auf der Straße. Ziemlich zynisch von Italien, auf dem Rücken dieser Menschen Politik zu betreiben.

Italien ist seit vielen Jahren mit dieser Problematik komplett alleingelassen worden, wie Griechenland auch. Das sind nun mal die Länder in Europa, in denen die meisten Geflüchteten ankommen, und es hat keinerlei europäische Solidarität mit ihnen gegeben. In dieser Situation hat Italien zu den Geflüchteten gesagt: „Dann geht halt weiter!“ Dabei war rechtlich eigentlich klar, dass Italien zuständig für sie war.

In Hamburg haben die Geflüchteten sich zu einer Gruppe zusammen­geschlossen, Dutzende haben
in der St. Pauli Kirche Unterschlupf gefunden und eine riesige Welle der Unterstützung losgetreten.

Für uns bleibt es bis heute ein Wunder, was dann in der Stadtgesellschaft ­passiert ist. Es hat sich eine Art von ­zivilgesellschaftlicher Unterstützung formiert, die wir so nie wieder erlebt haben, mit mehreren 10.000 Teilnehmenden auf Demonstrationen. Auch der Erfolg ist wirklich einzigartig: Dass Menschen es durch ihren politischen Kampf schaffen, ein Bleiberecht zu erhalten, hat es so nie wieder gegeben.

Die Nordkirche hatte dem SPD-Senat damals ein Eingeständnis abgerungen: Wer aus der Gruppe einen offiziellen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung gestellt hat, durfte so lange in Hamburg bleiben, bis darüber und über Widersprüche gegen eventuelle Ablehnungen entschieden ist. Am Ende hätte das auch die Abschiebung bedeuten können. Deshalb war der Deal unter den Geflüchteten umstritten, nur etwa ein Drittel der Gruppe hat sich darauf eingelassen. War ihr Kampf wirklich erfolgreich?

Er war so erfolgreich wie kein anderer zuvor. Gesetzlich war die Lage völlig klar: Diese Menschen hatten kein Recht, hier zu bleiben. Trotzdem haben die Leute, die wir vertreten haben, inzwischen fast alle einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Das ist der Beweis, dass sich gesellschaftlich etwas ändern lässt!

Haben die Behörden unter dem Eindruck der Proteste Spielräume genutzt, die sie sonst nicht nutzen?

Es gab eigentlich keine Spielräume, aber die hat der Senat über diese poli­tische Lösung geschaffen. Das zivil­gesellschaftliche Engagement der ­Kirchen, Verbände und der großen Anzahl von Hamburger:innen hat wirklich Einfluss gehabt. Ich hätte vorher nicht gedacht, dass man auch eine B­ehörde bewegen kann. Wir haben die Verfahren dann juristisch so betrieben, dass sie nicht nach einem Jahr schon vorbei waren.

Sie haben die Verfahren in die Länge gezogen?

Wir haben zum Beispiel oft die gesellschaftlichen Auswirkungen der Dublin-Verordnungen in den Verfahren thematisiert und erklärt, was den Leuten in Italien widerfahren ist. Auch dass sie ja gar nicht nach Europa kommen wollten, sondern vor dem Krieg in Libyen fliehen mussten, haben wir immer wieder angesprochen. Die Verfahren dauerten häufig lange, dadurch hatten die Menschen Zeit für ihre Integration. Fast jeder Einzelne hat es am Ende geschafft, sich ein Bleiberecht zu er­arbeiten. Die Unterstützung der Ham­burger:innen hat eine Wahnsinnsmacht entwickelt: Die Menschen haben hier teilweise Lesen und Schreiben gelernt, Deutsch gelernt und Arbeit gefunden. Sie haben es erreicht, Teil der Hamburger Gesellschaft zu sein.

Wie begegnen die Hamburger Behörden den Geflüchteten, wenn keine Solidaritätswelle hinter ihnen steht? Im Koalitionsvertrag von Rot-Grün heißt es: „Willkommenskultur fängt für Migrant*innen und Geflüchtete bei der Ausländerbehörde an.“ Die Parteien haben versprochen, Geflüchtete dort künftig „individuell, zeitnah und zugewandt“ zu beraten.

Die Ausländerbehörden sind für uns und unsere Klient:innen im Prinzip seit Jahren nicht mehr erreichbar. Man kann in Hamburg seit Corona nicht mehr mit denen sprechen. Eine Kultur der zugewandten Beratung gibt es deswegen gerade nicht. Seit Monaten ist es zudem so, dass die Behörde Aufenthaltsgenehmigungen nicht ausstellt, obwohl wir das vor Gericht erstritten haben. Ich betreue ein schwerstbehindertes Kind, das seit dem vergangenen Herbst auf seine Aufenthaltsgenehmigung wartet. Da hängt wahnsinnig viel dran. Unbegleitete Minderjährige werden über Monate ohne Vormund alleingelassen und oft nicht mal mit dem Nötigsten versorgt. Ich habe Verständnis dafür, dass die Mitarbeiter:innen überlastet sind, aber diese Zustände kann man eigentlich niemandem zumuten.

Wie geht Hamburg mit den Menschen um, die nicht bleiben dürfen?

Abschiebungen haben in Hamburg Formen angenommen, die wir vorher so nicht kannten. Viele unserer Klient:innen sind zum Beispiel psychisch krank, da muss ein Arzt überprüfen, ob sich die Krankheit durch eine Abschiebung verschlimmern würde. Manche haben zig Gutachten von verschiedenen Fachärzt:innen, die alle bescheinigen, dass eine Abschiebung eine Katastrophe wäre, auch in Hinblick auf Suizidalität. In Hamburg sitzt da dann ein Arzt der Behörde und sagt: „Na ja, wird schon gehen, wenn er begleitet wird!“ Seit Jahren fordern wir, dass zumindest ein Facharzt hinzugezogen wird, um zu überlegen, wie man die Verschlechterung der Krankheit abmildern könnte – das machen die aber nicht, das ist nicht gewollt.

Wenn es nach den Plänen der EU geht, hat die Hamburger Ausländerbehörde bald weniger zu tun: Schon an den Außengrenzen soll künftig geprüft werden, ob ein Asylgrund vorliegt.

Das versetzt uns alle in Angst und Schrecken. Wenn man diese Schnellverfahren verliert, kann man sofort wieder weggeschickt werden, ohne dass gerichtlich überprüft wird, ob das überhaupt richtig war. Es gibt internationale Verpflichtungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die sehen immer vor, dass im Einzelfall geprüft wird, ob jemand Schutz benötigt. Gerade in Schnellverfahren lässt sich das nicht immer sicher herausfinden. Wenn eine Frau sexualisierte Gewalt erfahren hat, wird sie das nicht in einem Lager irgendwo an einer europäischen Außengrenze irgendjemandem mal schnell erzählen. Da braucht man ein vernünftiges Verfahren mit Zeit, Ruhe und Vertrauen. Unter diesen Umständen werden Menschen keinen Schutz bekommen, die dringend welchen brauchen, weil ihr Leben in Gefahr ist.

Dagegen rechtlich vorzugehen, dürfte schwierig werden, selbst wenn solche Regelungen gegen internationales Recht verstoßen sollten: Die Schutz­suchenden kommen ja gar nicht bis nach Hamburg zu Beratungsstellen wie Fluchtpunkt.

Wenn das so kommt, haben wir wirklich ein Problem. Ich bin davon überzeugt, dass sich Migration nie so steuern lassen wird. Es werden noch mehr Menschen ertrinken oder in irgendwelchen Zäunen festhängen. Man kann diese Probleme auf diese Art und Weise nicht lösen.

Um nicht ganz so negativ aus dem Gespräch zu gehen: Welche Erfahrung bei Fluchtpunkt ist Ihnen
besonders positiv im Gedächtnis geblieben?

Ich vertrete viele Klientinnen, die aus frauenspezi­fischen Gründen wie etwa Zwangsehen geflohen sind. Das sind oft Menschen, die in ihrem Leben nie gesehen worden sind, ihre Existenz hatte bislang keine Bedeutung. Die stehen vor mir und sagen: „Ich habe Rechte!“ Wenn wir dann vor Gericht gewinnen und die Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können, sind das schon tolle Momente.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikel aus der Ausgabe:

Zehn Jahre Lampedusa in Hamburg

Nach der Solidaritätswelle: Wie die Lampedusa-Geflüchteten in Hamburg angekommen sind – und wie die EU sich an ihren Grenzen immer weiter abschottet. Außerdem: Wieso Hamburgs Wohnunterkünfte überfüllt sind wie sich ein Festival gegen Antisemitismus stark macht. 

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Autor:in
Benjamin Buchholz
Benjamin Buchholz
Früher Laufer, heute Buchholz. Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

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