Gunther von Hagens und seine fragwürdigen „Körperwelten“
(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)
Körperwelten heißt die weltweit berühmteste und umstrittenste Ausstellung – und zu sehen sind präparierte Leichen. Hamburg will „in“ sein und reißt sich um Gunther von Hagens’ Exponate – obwohl nicht einmal die Herkunft der Leichen geklärt ist.
„Wer so lustig ist, muss nicht auch noch gut aussehen“ ist einer der Sprüche von Radio Hamburg-Moderator John Ment. Heute ist der Witzlemacher besonders guter Dinge. Er sitzt neben einer Leiche und hält ihr das Mikrofon unter die Nase. Die Leiche gehört zu den Plastinaten der Ausstellung „Körperwelten – Die Faszination des Echten“, und der Moderator weiß, dass er mit dieser Schaufensterdekoration mit Sicherheit zum Stadtgespräch wird. Und weil die ganze Sache so witzig ist, trägt er ein Solidaritäts- T-Shirt: „Ich bin ein Plastinat“.
Die Stimmung ist aufgekratzt. Tja, die Hamburger sind eben wirklich weltoffen, das findet inzwischen auch der Leichen-Bastler Gunther von Hagens. Nicht so wie die Münchner, die so „spießige“ Forderungen an den Anatom stellten wie: Die Ausstellung soll wissenschaftliche Standards erfüllen und nicht das Schamgefühl der Menschen verletzen – und wo, bitte schön, sind die Einverständniserklärungen der Menschen, die hier plastiniert ausgestellt werden?
Das mit dem Schamgefühl ist in unserer Gesellschaft und angesichts von elf Millionen Besuchern weltweit so eine Sache. Doch dass viele der Exponate nicht von wissenschaftlichem Interesse sind, das hat der Anatom Prof. Reinhard Putz von der Ludwig-Maximilian-Universität in München in einem Gutachten dargelegt. Viele Ganzkörperexponate seien „schlichtweg als unsinnig zu bezeichnen“.
Und zwar gerade die, die vermutlich die Zugpferde der Ausstellung sind. Die Tänzerin etwa, deren Muskeln so vom Knie abgelöst wurden, dass sie aussehen wie ein hochwehendes Röckchen.
Aber mal abgesehen von der Wissenschaftlichkeit: Auch im Gutachten von Professor Putz taucht eine Frage auf, die die Schau zum Gruselkabinett werden lässt. Wie konnte der Plastinator das Einverständnis einer jungen Frau bekommen, sie mitsamt ihrem toten Fötus öffentlich auszustellen? Das „Exponat“ steht – zusammen mit zahlreichen Föten – in einem Sonderraum, dem „Anatomischen Kabinett“. Die Frage blieb bis heute unbeantwortet.
Und viele bezweifeln, dass von Hagens die Einverständniserklärung überhaupt hat. Den Münchner Beamten des Kreisverwaltungsreferats legte der Popstar der Leichenkunst jedenfalls keine einzige Einverständniserklärung vor. Nach intensiver Beratung mit Experten aus Kirche, Kunst und Wissenschaft beschloss der Münchner Stadtrat deshalb fast einstimmig, die Ausstellung nicht zuzulassen. Von Hagens zog vor Gericht – und gewann. Dem Gericht genügte im Eilverfahren eine Eidesstattliche Versicherung des Plastinators, in der er angab, für jede Leiche eine Einwilligungserklärung zu besitzen.
„Die Angelegenheit ist noch lange nicht zu Ende“, sagt Sebastian Groth, Sprecher des Münchner Kreisverwaltungsreferats. „Denn im noch ausstehenden Hauptsacheverfahren müssen die Einverständniserklärungen geprüft werden.“ Nach Akteneinsicht sind sich Groth und seine Kollegen nämlich sicher, dass die dort vorliegenden Erklärungen in keiner Weise ausreichend sind: „Sie sind den Leichen nicht zuzuordnen und entsprechen nicht den gängigen Standards.“ In der Wissenschaft werden Leichen mit einem Zahlencode versehen und sind so reidentifizierbar.
Auch die Journalisten Torsten Peuker und Christian Schulz glauben, dass von Hagens Menschen ohne deren Wissen und Einwilligung plastiniert hat. Sie recherchierten unter anderem in China und Novosibirsk. Aus Novosibirsk wurden demnach mindestens 50 Leichen an von Hagens’ Heidelberger Institut geliefert. Ein Anatom der dortigen Medizinischen Akademie bestätigte den Journalisten, dass sein Institut Leichen nach Heidelberg geschickt habe.
„In dem entsprechenden Vertrag steht nichts darüber, dass es sich um Körperspender handeln muss, die ihre Überreste freiwillig zur Verfügung stellen“, so MDR-Journalist Torsten Peuker. Vor laufender Kamera sagt der Anatom: „Das Leichenmaterial kam aus Altersheimen, aus Tuberkulose-Krankenhäusern, aus Pflegeheimen. Es wurden nur die Toten ausgewählt, die keine Angehörigen mehr hatten.“
Abgesehen davon, dass auch das illegal ist, ermittelte die russische Staatsanwaltschaft, dass das eine glatte Lüge ist. Alle hatten Angehörige. Doch die seien mit einer Urne und falscher Asche abgespeist worden. Svetlana Kretschetova beispielsweise erfuhr erst auf Nachfrage im Krankenhaus, dass ihr Vater gestorben sei. In einer Eidesstattlichen Versicherung gegenüber den deutschen Journalisten erklärte sie, dass man ihr dort eine Urne ausgehändigt habe.
In Wirklichkeit, so ermittelte die Staatsanwaltschaft, war die Leiche des Vaters jedoch an von Hagens geschickt worden. Svetlana Kretschetova ging davon aus, dass von Hagens ihr die Leiche ihres Vaters zurückgeben würde. Das habe er bis heute nicht getan, sagte sie den MDR-Rechercheuren. Kann er vielleicht auch gar nicht. Denn angeblich gibt es keine individualisierten Einverständniserklärungen aus Novosibirsk. Wo ist die Leiche von Svetlana Kretschetovas Vater geblieben? Vielleicht längst verkauft.
Denn das Plastinieren hat sich zum Millionengeschäft entwickelt. In der chinesischen Stadt Dalian hat von Hagens „Plastination City“ errichtet. In der Fabrik mit unterirdischen Produktionshallen fertigen mehr als 200 Menschen immer neue Leichen. Und die werden nicht nur ausgestellt, sondern auch verkauft. Knapp 150.000 Euro (damals 300.000 Mark) brachte beispielsweise die Lieferung von vier plastinierten Leichen an die Universität von Tobago, recherchierten die MDR-Journalisten.
Von Hagens hat es allerdings nicht nur auf die Toten abgesehen, sondern anscheinend auch auf die Noch-Lebenden. Christian Schulz traf auch den russischen Ex-Basketballspieler Alexander Sisonenko. Der 2,40 Meter-Mann ist aufgrund seiner Größe schwer krank, ärztliche Behandlung kann er sich nicht leisten. Von Hagens, so sagte er den deutschen Rechercheuren, habe ihn nach Deutschland eingeladen und ihm medizinische Hilfe in Aussicht gestellt. In Heidelberg sei jedoch weniger von Sosinenkos Heilung die Rede gewesen als von seinem Tod. Von Hagens habe ihn aufgefordert, ihm seinen Körper zu vermachen. Der Basketballer reiste schockiert ab.
Der Plastinator ließ angeblich nicht locker. Er bot sogar rund 50.000 Euro (damals 100.000 Mark) als humanitäre Hilfe. Alles weitere sollte dann mündlich besprochen werden. Ein entsprechendes Fax liegt den MDR-Journalisten vor.
Die massive Kritik scheint den Hamburger Senat kalt zu lassen. Als Markus Schreiber, Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte, einige Exponate für die Ausstellung nicht zulassen wollte, wurde er als „Zensor“ diffamiert, und die Ausstellung wurde zur Chefsache erklärt unter Leitung von Roger Kusch (CDU), Senator für Bezirksangelegenheiten. Trotz der massiven Vorwürfe und obwohl in München bald das Hauptverfahren eröffnet wird, sieht der Senat keinen Handlungsbedarf. Verwaltungsrechtlich sei nichts zu beanstanden.
Außerdem kann man ja sicher sein, dass die Körperwelten auch die Kassen der Stadt klingeln lassen. Da ist’s wohl egal, dass in Deutschland sonst nichts ohne Bescheinigungen und Genehmigungen läuft. Auch die Staatsanwaltschaft sieht keinen Grund zu ermitteln. Vor allem, weil die Ausstellung schon „unbeanstandet in so vielen anderen Städten gelaufen“ ist.
Normalsterblichen stellt sich allerdings noch eine andere Frage: Wie wollen wir in Zukunft mit dem Tod umgehen? Ist es bald schick, Omi Fahrrad fahrend im Wohnzimmer aufzustellen, statt sie ins Grab zu legen? Haben wir überhaupt noch so etwas wie einen gemeinsamen Begriff von Pietät? Oder sind solche ethischen Fragen angesichts des Plastinationsbooms sowieso out?
Fakt ist, dass Gunther von Hagens schon jetzt der lachende Sieger ist. Denn seine Leichen haben ihm in Kirgisien und in China einen Gast- und einen Ehren-Professorentitel eingebracht – etwas, was ihm in Deutschland bislang verwehrt geblieben ist. Rechtliche Probleme sind für die weitere Zukunft nicht mehr zu befürchten. Denn er hat jetzt schon so viele quicklebendige Fans, die ihm liebend gern ihre Leichen vermachen wollen oder sie ihm längst vermacht haben, dass er mit Sicherheit mehrere Ausstellungen bestücken kann. Und zur Not kann er ja immer noch seine Leichen verscherbeln…