Die Weiß-braunen Kaffeetrinker:innen starten eine Revolution

Der Fußball als Lebensversicherung

Die Weiß-braunen Kaffeetrinker:innen bei ihrem Treffen im Fanladen des FC St. Pauli. Foto: Dmitrij Leltschuk

Die Weiß-braunen Kaffeetrinker:innen sind ein besonderer Fanclub des FC St. Pauli. Vor einigen Jahren starteten sie eine alkoholfreie Revolution im Fußball, die langsam an Einfluss gewinnt.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Es  ist schon dunkel draußen, als neun Männer und drei Frauen im Bauch des Millerntor-Stadions auf Ledersofas und Bierbänken sitzen und über das nächste Heimspiel des FC St. Pauli diskutieren. Sie tragen braune Trainingsjacken, schwarze Hoodies mit Totenkopf, braune Jalousien verdunkeln den Fanladen. Überall kleben Sticker an den Wänden, auf einem Plakat steht: „Treppenbenutzung ab 1,5 Promille nur mit Helm“. Einer von ihnen steht auf, sagt in die Runde: „Gebt ihr mir mal die leeren Flaschen?“ Die anderen rutschen auf ihren Sitzplätzen hin und her, ­Flaschen klirren aneinander, ratschen in einen Getränkekasten, neue werden mit einem Klacken geöffnet und auf den Tisch gestellt.

Es ist alles ein bisschen anders, als es scheinen mag, denn das hier ist, man kann es kaum anders sagen: eine Revolution. In den Flaschen sind Cola und Schorle, auf dem Tisch stehen selbst gebackene Kekse und, natürlich, eine Kanne voll Filterkaffee. Der ist das Herz dieses Fanclubs, er trägt ihn gar im Namen: Diese Gruppe, das sind die Weiß-braunen Kaffeetrinker:innen.

Deren Gründer trafen sich vor 27 Jahren in einer Nachsorgeeinrichtung. Beide hatten einen Alkohol­entzug hinter sich, beide besaßen auch ­Dauerkarten für die Nordkurve. Also beschlossen sie, fortan gemeinsam ins Stadion zu gehen und suchten weitere Mitglieder für ihren Fanclub, der gleichzeitig eine Selbsthilfegruppe wurde.

Die Weiß-braunen Kaffeetrinker:innen treffen sich während der Fußballsaison an jedem zweiten Montag im Monat ab17 Uhr im Fanladen im Millerntor-Stadion. Mehr Infos unter: www.weiss-braune-kaffeetrinker.de

Heute besteht der Club aus 39 Personen, ältere und jüngere, die alkoholkrank sind oder andere Drogen konsumiert haben, manche auch ­verschiedene Substanzen auf einmal. Einige wenige haben selbst keine Suchtgeschichte, aber möchten im Stadion einfach nicht mehr trinken.

Da ist zum Beispiel Michael, der vor 16 Jahren fast am Alkohol gestorben wäre und gleich nach dem Entzug wieder ins Stadion ging. Heute organisiert er die Gruppe, gerade erinnert er die anderen an „Grünkohl und Kegeln“, das steht nächste Woche an. Oder Claus, graues Haar, Colaflasche in der Hand, der erzählt, dass er heute endlich mitbekommt, wie seine Mannschaft überhaupt spielt. Und es gibt Alex in der Trainingsjacke,
52 Jahre alt, der durch den Fußball in die Sucht rutschte.

Viele hörten den therapeutischen Rat, wer mal abhängig war, der sollte ehemalige Orte des Konsums meiden. Nun ja, das sehen sie ein bisschen ­anders. Sie sitzen in einem Fußball­stadion, an kaum einem anderen Ort ist Alkohol so allgegenwärtig. Und trotzdem verpassen die meisten von ihnen kein einziges Spiel.

Wenn Alex heute ins Stadion geht, dann ist er ganz aufmerksam, weil er weiß, jeden Moment könnte etwas passieren, jemand könnte ihm einen Becher anbieten und er könnte ihn nehmen. Getrunken hat er schon, bevor er das erste Mal ins Stadion ging, doch der Fußball habe eine große Rolle dabei gespielt, dass er suchtkrank ­wurde. Fußball und Alkohol wurden zu einem gemeinsamen Ritual: Der Morgen eines Auswärtsspiels beginnt mit Bier, ein Besuch im Stadion auch. Wenn jemand zum Getränkestand geht, ruft der nicht: „Was wollt ihr trinken?“ Sondern: „Wer will noch Bier?“

Es scheint, als lebten der Fußball und seine Fans vom Rausch. Die Kaffeetrinker:innen wollen zeigen, dass es nicht unbedingt so ist: Ihre Leidenschaft für den Fußball und ihren Verein ist so groß, dass sie trotzdem ins Stadion gehen, zu Auswärtsspielen fahren, ihre Mannschaft unterstützen, obwohl viele von ihnen dabei immer wieder gegen den Suchtdruck ankämpfen müssen.

Zum Beispiel Claus, der denkt noch immer jeden Tag an den Alkohol. Seit 13 Jahren ist er trocken, doch für ihn ist es noch immer schwierig, unter Fans zu sein, die betrunken sind. Denn klar, sagt er, die schönsten Rauscherlebnisse, die hatte er im Stadion, die haben ihn durch das Spiel getragen. Nach dem Entzug fühlte sich das Stadion, das früher ein geselliger Ort war, oft einsam an, und er selbst sich isoliert.

2019 hatte die Gruppe das erste Mal auf einer Mitgliederversammlung des FC St. Pauli einen anderen Umgang mit Suchtmitteln beantragt. Sie forderten den langfristigen Ausstieg aus der Suchtmittelwerbung, ein Verbot von Rucksackverkäufer:innen auf den Tribünen und die Einrichtung ­eines alkoholfreien Getränkestands pro Kurve. Ihr Antrag wurde ab­gelehnt, sie wurden von vielen Seiten als diejenigen verschrien, die anderen den Spaß verderben wollten. Warum, so hieß es, wollten sie den anderen ihren Rausch verbieten? Das wollten sie nicht, aber sie wollten sich selbst auch nicht den Fußball nehmen lassen.

Der Verein begründete seine Ablehnung in einem Schreiben an die Gruppe damit, dass alkoholfreie Tresen den Alkoholkonsum im Stadion nicht mindern würden, getrunken würde dann weiterhin vor und im ­Stadion. Sind ­Alkohol und Fußball einfach zu eng verbunden, ist ein Fußballstadion überhaupt der richtige Ort für Menschen, die suchtkrank sind?

Die Gruppe hielt zusammen, weil ihre Mitglieder wissen, wie schwer es ist, nach einer Sucht wieder in die Gesellschaft zurückzufinden. Der Fußball ist für sie Leidenschaft, er lässt sie Freude am Leben spüren, die gerade nach einem Entzug nicht immer so leicht aufrechtzuerhalten ist.

In den Jahren danach baute sich langsam etwas Hoffnung für das Anliegen der Gruppe auf, der Verein möchte die Initiative der Kaffeetrinker:innen aufgreifen, mehr Präventionsarbeit leisten. Am 29. April 2022 eröffnete dann das „Trockendock“, der erste alkoholfreie Getränkestand im Stadion. Und nun, vier Jahre nach ihrem ersten Antrag, fühlen sich die Kaffee­trinker:innen von den anderen Mitgliedern deutlich stärker respektiert. Das Trockendock habe sich etabliert, bald soll es ein zweites geben. Außerdem haben die Kaffeetrinker:innen
gemeinsam mit dem Verein ein Suchtpräventionskonzept entworfen. Entschieden ist darüber noch nicht, aber diesmal sind sie sicher, dass es gute Chancen hat.

Besonders wichtig ist ihnen dabei die Prävention für Kinder und Jugendliche. Ob Menschen in ihrem Leben ­eine Sucht entwickeln, das hängt von unterschiedlichen Einflüssen ab. Doch einer davon ist, ob sie schon in jungen Jahren lernen, dass Emotionen mit Rausch verknüpft sind, dass Alkohol immer ein Teil davon ist, wirklich tief zu fühlen und auch, sich zu­ge­­-hörig zu fühlen. Die Weiß-braunen Kaffetrinker:innen wollen, dass
gerade die Jugendarbeit des Vereins das Thema aufnimmt, dass man über Werbung im Stadion spricht, dass nicht schon jedes Kind den Fußball auch mit Alkohol verbindet. Während des Stadtderbys im Dezember, ein Hoch­risikospiel, bei dem Alkohol nicht
erlaubt war, sollen sich vor dem Trockendock jedenfalls lange Schlangen gebildet haben, denn nur hier gab es heißen Tee und alkoholfreien Punsch.

Keine:r von ihnen erlebt einen Stadionbesuch heute so wie früher, denn die Emotionen, die der Alkohol verstärkt hat, die gibt es so nicht mehr. Alex sagt, ein Fußballspiel ist nun ein anderes Erlebnis, für Michael war das Zuschauen sofort viel schöner, seit er nüchtern ist. Für einige, so wie auch für Claus, ist es aber schwieriger, zu den wenigen zu gehören, die nicht mehr trinken. Doch der Fußball schafft etwas Außerordentliches, er hält sie gemeinsam am Leben, im Stadion stehen sie meist zusammen und geben auf sich acht: Dieser Fanclub, sagen sie, das sei so etwas wie ­eine Lebensversicherung.

 

Artikel aus der Ausgabe:

Eins geht noch?

Laut einer Studie kann sich etwa jede:r Fünfte in Deutschland vorstellen, einen „trockenen Januar“ – einen „Dry January“ – einzulegen. Wir haben für Sie ohne moralischen Zeigefinger mit Suchtexperten und Menschen gesprochen, die mit und ohne Alkohol leben. Außerdem im Magazin: Warum unser Hunger auf Fisch im Senegal zum Problem wird.

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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