Niels Penke entdeckt im Antiquariat ein Buch des Bestsellerautors Umberto Eco – eine Fälschung, wie sich bald herausstellt. Aber wer schreibt eine Novelle und verkauft sie unter falschem Namen? Eine Spur führt nach Hamburg.
Für gewöhnlich sind Bücher von denen verfasst, deren Name auf dem Titel steht. Das dachte ich auch, als ich die Kriminalnovelle „Carmen Nova“ in meinem Briefkasten fand, nachdem ich sie in einem Antiquariat bestellt hatte. „Umberto Eco“ stand auf dem vergilbten Einband, der Name des italienischen Bestsellerautors und Sprachwissenschaftlers. Hatte ich also einen echten Eco in den Händen, den ich noch nicht kannte?
Beim Lesen des Büchleins aus dem Jahr 1983 kamen mir erste Zweifel. Der Text war spürbar anders geschrieben als Ecos andere Erzählungen. Angeblich war er 1966 erstmals in einer italienischen Zeitschrift veröffentlicht worden, und man könnte ihn aus heutiger Sicht wie ein Vorspiel zu Ecos großem Roman „Der Name der Rose“ lesen. Ich blieb dennoch skeptisch.
Vor allem, weil ich nirgends etwas über die Novelle herausfand. Nichts in den wissenschaftlichen Standardwerken zu Eco und seinem Schaffen, nichts außer dem Buchcover bei der Googlesuche und keine Treffer bei der Abfrage in den üblichen Bibliothekskatalogen. Selbst „Worldcat“, ein Katalog, der nahezu alle Bibliotheksbestände weltweit verzeichnet, kennt nur ein einziges Exemplar, das in der Universitätsbibliothek in Bremen steht. Äußerst kurios für einen Autor wie Umberto Eco, dessen literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen ansonsten in unzählbar vielen Bibliotheken in aller Welt zu finden sind.
Irgendetwas konnte also mit diesem Buch nicht stimmen – und bald war klar, dass hier eigentlich nichts stimmte: Der Verlag, der nur dieses eine Buch veröffentlicht hatte, war eigentlich kein richtiger Verlag. Die ISBN war fingiert, das Nachwort stammte auch nicht wie angegeben von dem prominenten französischen Theoretiker Roland Barthes. Das ganze Buch war offenbar ein Fake.
Spätestens damit war meine Neugierde geweckt, und ich begann, akribisch zu recherchieren. Das Recherchefieber war offenbar ansteckend: Meine Posts dazu bei Twitter fanden große Resonanz. Manchmal bekam ich spät abends noch Nachrichten, auch aus der Hinz&Kunzt-Redaktion, die sich zeitweise auch mitreißen ließ. Doch die Spur zu einer angeblichen Übersetzerin der Novelle, die wir in Düsseldorf aufgespürt zu haben glaubten, verlief leider im Sand. Woher stammt also diese Novelle? Wer macht sich überhaupt solche Mühe, einen literarischen Text von 60 Seiten zu verfassen, diesen als kleines Buch zu veröffentlichen und zu behaupten, er sei von Umberto Eco? Und wie fand dieses Buch sein Publikum?
„Carmen Nova“ wurde dort verkauft, wo in den 1980er-Jahren Raubdrucke gehandelt wurden. Zum Beispiel auf dem Hamburger Schulterblatt: Bei meiner Recherche stieß ich auf Martin Eberhardt, der seit 1984 ein eigenes Exemplar im Bücherregal stehen hat – und es bislang für einen authentischen Eco gehalten hatte. Gegenüber der Roten Flora, in der damals noch das Geschäft „Tausend Töpfe“ war, wurden ihm in einer verqualmten Kneipe aus einem Bauchladen heraus raubkopierte Bücher angeboten, erzählt er. Damals kein ungewöhnlicher Vorgang in der Schanze und im Grindelviertel: „Das waren junge Leute“, erinnert sich Eberhardt. „Ich bin immer davon ausgegangen, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Bücher billiger zu verkaufen für Leute, die nicht viel Geld hatten.“
Umberto Ecos Bücher gab es häufig als Raubdruck zu kaufen. „Der Name der Rose“ erschien 1982 auf Deutsch und wurde zum großen Erfolg. Statt 40 D-Mark für das Original kostete eine Kopie nur ein Viertel davon. Auch Martin Eberhardt hat auf dem Schulterblatt zugeschlagen und neben dem „Namen der Rose“ auch eine Nachschrift zum Roman erstanden. „Ich kam mir furchtbar kapitalismuskritisch vor“, sagt er. „Heute weiß ich es besser, aber wenn es den eigenen Geldbeutel schont, ist man ja gerne etwas kapitalismuskritisch.“
Die Fälscher:innen von Eberhardts Nachschrift zum Eco-Klassiker machten allerdings anders als bei „Carmen Nova“ keinen Hehl daraus, dass es sich nicht um ein Original handelte: Als Verlag ist der „Deutsche Rosenzüchterverband“ angegeben, beratend zur Seite gestanden haben soll ihm die „Selbstschutzorganisation gegen Seitenschinderei und Zeitschriftenartikel in Buchform“. Als Erscheinungsort ist, na klar, Rosenheim angegeben.
Wie selbstlos die Raubkopierer:innen mit Sinn für Humor waren, lässt sich rückblickend nicht beantworten. Bei den meisten Raubdrucken politischer Klassiker von Marx, Engels oder Adorno ging es ihnen oft um die Versorgung mit schwer verfügbarem Material. Sie wurden in Hamburg seit den späten 1960er-Jahren vor allem in linken Buchhandlungen wie „Arbeiterbuch“ im Grindelhof oder der „Spartakus-Buchhandlung“ in der Schlüterstraße verkauft – oder auf Verkaufstischen vor der Unimensa. Unter dem „Abaton“-Kino habe es damals ein großes Lager mit Raubdrucken gegeben, sagt der Hamburger Verlagshistoriker Klaus Körner. Erst später seien auch Bestseller kopiert worden – mutmaßlich von denselben Raubdruckereien in Städten wie Berlin, Marburg oder Frankfurt. „Die haben damit Geld verdient, aber furchtbar rentabel war das nicht“, glaubt Körner. Auch nicht für diejenigen, die Bücher in Kneipen verkauft haben: Oft sei das ein Zuverdienst zum Taxifahren gewesen. „Reich wurde damit niemand, dafür waren die Auflagen zu klein und der Aufwand zu hoch.“
Welches Motiv hinter der Fälschung steckte, bleibt also unklar. Auch wenn die Novelle zusammen mit anderen Eco-Werken verkauft wurde, handelt es sich um keinen gewöhnlichen Raubdruck – denn es gibt ja kein Original. „Carmen Nova“ ist zwar den Angaben nach eine Übersetzung, aber eine italienische Fassung gibt es nicht, wie ich über Nachfragen bei Eco-Expert:innen erfuhr. Sie kontaktierten eigens die Familie Eco und ließen diese den Nachlass des Autors sichten – doch auch Ecos Nachfahren fanden keine Spur von „Carmen Nova“.
Das Buch wurde also offenbar auf Deutsch verfasst, mit allerhand Nebentexten wie Vor- und Nachwort, Kommentaren und einem Interview ausgestattet, um den Eindruck eines echten Eco-Textes erwecken zu können. Auffällig ist jedoch, wie wenig die Autor:innen den Versuch unternehmen, etwas zu erzählen. Wer die Romane Ecos zur Hand nimmt, findet zwar ähnlich wie in „Carmen Nova“ viel Philosophie und Zeichentheorie, Überlegungen zur Kirchengeschichte oder Verschwörungstheorien, aber immer in eine nachvollziehbare Erzählhandlung eingebunden. In „Carmen Nova“ geht es über 60 Seiten bloß um die Suche nach Carmen, aber wer diese Carmen ist oder sein könnte, bleibt unklar. Im Text findet sich dabei aber eine Vielzahl von literarischen Anspielungen und kritischen Auseinandersetzungen mit dem Genre Kriminalroman.
Dass die Fälschung 40 Jahre nach der Entstehung und Veröffentlichung erstmals für Aufsehen sorgt, spricht dafür, dass die Verbreitung nicht allzu groß gewesen sein kann. Kein Verlag, der sich zum Schutz der Namensrechte Ecos einschaltete, kein einziger Eco-Sammler und keine einzige Literaturwissenschaftlerin sind je auf diesen Text gestoßen? Diesem ebenfalls rätselhaften Befund gehe ich weiter nach und fühle mich fast in einen Eco-Roman versetzt, in denen es häufig um die Suche nach mysteriösen Texten und ihren Ursprüngen geht. Wer diesen Text warum in die Welt gesetzt hat, ist noch offen. Es gibt Spuren, aber noch keine zuverlässigen Antworten.