Gustav Solberg verkauft seit Jahren Hinz&Kunzt in der Langen Reihe. Nun hätten ihn Zugezogene fast vertrieben. Joachim Wehnelt (Text) über solidarische Nachbarn, eifrige Politiker und ein Quartier im Visier der Investoren
(aus Hinz&Kunzt 192/Februar 2009)
Lange Reihe 29: Zwei Arbeiter tragen eine Stange durch das eingestaubte Treppenhaus. Die Fassade ist sauber, frisch saniert. Der Platz vor dem Eingang ist leer. Jemand fehlt: Gustav Solberg. Fast fünf Jahre lang, bis vor wenigen Wochen, stand der Hinz&Kunzt-Verkäufer vor der Glastür und verkaufte das Straßenmagazin: „Das Eingangsdach schützt mich vor Wind und Regen“, sagt der 57-Jährige.
2001 verlor er den Halt, als seine Frau starb. Die Arbeit bei Olympus gab er auf, trank Alkohol. Seit er 2003 zu Hinz&Kunzt kam, fing er sich und bessert seitdem seine 351 Euro Hartz IV im Monat durch den Zeitungsverkauf auf. „Für uns ist er eine Art Doorman, ein wachsamer Türsteher“, sagt Andreas Pfadt, der als Geschäftsführer des Stadtentwicklerbüros ASK im fünften Stock arbeitet. Während das Haus umgebaut wurde, gab es im ASK-Büro drei nächtliche Einbrüche. „Gustav sorgte für mehr Sicherheit.“ Mitte Dezember musste er den Platz verlassen. Neue Mieter hätten sich beschwert, teilte die Hausverwaltung mit. Eine Frau aus dem Haus ging an ihm vorbei und sagte: „Ist der Penner immer noch hier?“ Gustav Solberg erstattete Anzeige: „Ich muss mich nicht als Penner beschimpfen lassen.“
„Gentrification“ nannte Soziologin Ruth Glass die Entwicklung in vielen Städten der Welt, bei der sozial schwache Menschen aus einem Viertel verdrängt werden, wenn es durch Sanierung aufgewertet wird. Das Wort geht auf „gentry“ zurück, was Landadel oder feine Leute bedeutet. Seit vor den Toren von Hamburg im Jahr 1200 das St.-Georg-Asyl gebaut wurde, weil Kreuzfahrer von ihren christlichen Glaubenskriegen mit Lepra zurückkehrten, entwickelte sich dort ein Viertel der Armen; der Unerwünschten. In der Legende vom Heiligen Georg siegt ihr Schutzpatron über den Drachen und damit das Böse. In St. Georg ging der Kampf zwischen Licht und Schatten immer unentschieden aus. Bis heute. Arbeitsplatz für Hunderte Prostituierte rund um den Hansaplatz, Firmensitz für Zentralen wie Philips am Lübeckertordamm, Anziehungspunkt für Schwule an der Langen Reihe, religiöses Zentrum für Moslems am Steindamm, Zuflucht für Drogenabhängige am Besenbinderhof: St. Georg vereint Gegensätze wie kein anderer Hamburger Stadtteil. Wie lange noch?
Seit 1951 wohnt Michael Schwarz in der Langen Reihe 23. Als er von der Vertreibung des Hinz&Kunzt-Verkäufers von seinem Standplatz hörte, schlug er Alarm: „Gustav gehört zu St. Georg.“ Am 18. Dezember 2008 brachte Schwarz das Thema in die Bezirksversammlung ein. Die 53 Abgeordneten berieten im großen Sitzungssaal am Klosterwall 4 darüber, welche Möglichkeiten es gibt, dass Gustav Solberg vor der Langen Reihe 29 bleiben kann. Drei Jahre lang hatte er sogar den Haustürschlüssel dafür. „Ich konnte abends meine Sachen in einen Spind im Flur stellen“, erzählt Gustav Solberg. Im vergangenen Jahr gab er die Schlüssel ab: „Es gingen so viele Bauarbeiter und neue Mieter ein und aus, da konnte ich keinen Überblick behalten.“
Als er ab Mitte Dezember nicht mehr am Hauseingang stehen durfte, ging er ein paar Schritte weiter, vor das Schaufenster von „Dat Backhus“. „Bei uns ist er gerne gesehen“, sagt Filialleiterin Michaela Kayser. „Er kann jederzeit bei uns reinkommen.“ Die Stammgäste der Bäckerei mögen seinen Humor: „Er hat immer einen freundlichen Spruch auf den Lippen. Wenn er draußen steht, kommen oft Stammgäste rein und fragen: ‚Wie trinkt Gustav seinen Kaffee?‘“ Dann bringen sie ihm einen.
„1978 saßen noch Prostituierte in den Fenstern, ein Drittel der Wohnungen hatte kein Bad“ Seit die Lange Reihe 1978 zum Sanierungsgebiet wurde, verändert sich St. Georg. „Damals saßen noch Prostituierte in den Fenstern, ein Drittel der Wohnungen hatte weder Bad noch Dusche“, sagt Stadtentwickler Pfadt. 30 Millionen Euro investierte die Stadt alleine in die Lange Reihe – förderte modernisierte Wohnungen, beruhigte den Verkehr, pflanzte Bäume. 2009 kommen weitere Baustellen hinzu: Das ehemalige Volksfürsorge-Haus an der Außenalster wird zum Alstercampus, das Hochhaus am Steindamm 98, das als verlassenes Horrorhaus Schlagzeilen machte, weicht einem Neubau. 30 Jahre Sanierung St. Georg: Das hinterlässt Spuren. Die meisten Wohnungen haben nun ein Bad. Aber die Immobilienpreise stiegen zwischen 2001 und 2006 um 21,5 Prozent. Der Anteil von Ausländern, früher bei 50 Prozent, sank auf heute 31,4 Prozent. Unser Dorf soll schöner werden – für alle?
Michael Joho steht vor dem Laden des Einwohnervereins auf dem Hansaplatz und raucht. Er ist Vorsitzender der alternativ ausgerichteten Interessenvertretung, die sich im Zeichen des Drachen für Vielfalt einsetzt – von der Geschichtswerkstatt über den Chor „Drachengold“ bis zum Bündnis „Ohne Mix is nix“. Joho wirft die Kippe weg und setzt sich an den Tisch mit Blick auf den Brunnen. Viel Zeit hat Joho nicht. Er muss umziehen. „Meine Wohnung wird in eine Eigentumswohnung umgewandelt.“ Seine Altbauwohnung hätte er vor neun Jahren für 200.000 Mark, also knapp 100.000 Euro, selbst kaufen können. Er lehnte ab. Inzwischen wird eine gleich große Nachbarwohnung auf seiner Etage für 330.000 Euro angeboten – eine Wertsteigerung um mehr als das Dreifache. „Mir war klar, dass sich der Stadtteil verändert“, sagt Joho. „Dass es in dem Tempo passiert, hätte ich nicht gedacht.“
Ingrid Mock hat die Veränderung gesehen, jeden Tag. Mit fünf Jahren ging sie an der Danziger Straße zur Schule. Seit 1958 arbeitete sie an der Langen Reihe. Erst lernte sie Textilkauffrau, dann lernte sie ihren Mann Friedrich Albert Mock kennen. Sanitätshaus Mock, Lange Reihe 83: Eine Institution in St. Georg. Seit dem 3. Januar 1967 arbeitete Ingrid Mock in der Firma und lieferte von der Liege bis zur Pinzette alles. Vor einem halben Jahr musste sie von der Langen Reihe wegziehen, in einen kleinen Eckladen in der Parallelstraße. „Die Miete von 8000 Euro wurde zu teuer“, sagt die 66-Jährige. Die Originaltheke des Sanitätshauses steht nun als Requisite bei Studio Hamburg. Wie die Lange Reihe heute aussieht, bedauert sie: „Es gibt kein Fisch, kein Gemüse mehr auf der Langen Reihe. Für sie ist das auch zu teuer geworden.“
An den runden Tischen im Café Gnosa schlagen Gäste die Zeitung auf, ein Löffel fällt klirrend auf eine Untertasse, es riecht nach Kaffee. Kai Reinecke setzt sich auf einen roten Stuhl vor dem großen Fenster. „Als wir 1987 an die Lange Reihe kamen, war es hier für Spekulanten nicht interessant“, sagt Reinecke, einer der Inhaber des Cafés. Zuvor waren viele der älteren Stammgäste gestorben, die jüngeren blieben aus. Da verkaufte die Wirtin, Frau Gnosa. Nach der Eröffnung des neuen Gnosa reservierten Reinecke und seine Kollegen vier der 20 Tische für schwule und lesbische Gäste und ihre Freunde. Widerstände bei Anwohnern gab es keine, nur die verbliebenen Stammgäste kamen nicht mehr. Heute sind die „Reserviert“-Schildchen passé. Das Gnosa ist bei Gästen aus der ganzen Stadt, egal mit welchen sexuellen Präferenzen, so beliebt, dass sie zum Sonntags-Frühstück von der Theke bis zum Eingang Schlange stehen. „Manche würden vielleicht sagen, dass wir zu einer Verdrängung beigetragen haben“, sagt Reinecke und blickt aus dem Schaufenster auf die Straße. „Aber wir sind hier in eine Lücke gestoßen, in die keiner gehen wollte.“
Steindamm, Feierabendverkehr. Die Straße hinter dem Hauptbahnhof führt zur rauen Seite von St. Georg: zu den Prostituierten, die abends an der Brennerstraße stehen, weil sie drogensüchtig sind, zum Drob Inn am Besenbinderhof, in dem Heroinabhängige saubere Spritzen bekommen. Sie verbindet aber auch das neu eröffnete Kino Metropolis und die kleinen Restaurants und Gemüseläden miteinander, die nach Orient riechen. Stadtplaner des ASK-Büros fanden heraus, dass türkische, afghanische und persische Läden Pioniere waren, als es darum ging, verwahrloste Häuser rund um den Steindamm wieder zu nutzen.
Über dem Supermarkt Lindenbazar hinter der Böckmannstraße ragen die beiden Minarette der Merkez Camii, der Zentralmoschee, hervor. „11.000 Kunden kaufen jede Woche hier ein“, sagt Lindenbazar-Geschäftsführer Ahmet Yazici im Büro hinter den Kassen. „Ungefähr zehn Prozent sind Deutsche.“ Türkische Volksmusik erklingt, ein Handy. Der stellvertretende Vorsitzende der islamischen Gemeinden in Norddeutschland kennt die Wünsche und Sorgen der Muslime im Stadtteil. „In St. Georg gibt es 16 Moscheen, manche nutzen ein Büro als Gebetsraum.“
Die islamische Gemeinde wollte ihre Zentralmoschee hinter dem Lindenbazar sanieren und mit Wohnungen und Geschäften verbinden. Doch sie bekam keine Kredite. „Da ist uns der 11. September dazwischengekommen“, sagt der 44-Jährige. Die Moslems mussten ihre Sanierungspläne fallen lassen. Die Sanierungen ganz in der Nähe schreiten voran. An der Adenauerallee stehen bereits die roten Bauzäune, hinter denen bald der sogenannte Hanse Cube wachsen soll, ein zehngeschossiges Bürohaus. Yazici hebt die Arme. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ein zentraler Standort wie St. Georg nicht den Randgruppen gehören darf.“
Von oben wirkt der Stadtteil wie ein Dorf. Im neunten Stock eines Blockbaus am Klosterwall kann Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) bis zu den Kirchtürmen St. Georgs und den Kränen der Hafencity blicken. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängt eine Karte des Stadtgebiets Hamburg-Mitte, für das er zuständig ist. Es reicht von Finkenwerder über St. Pauli bis nach Wilhelmsburg. „Die Lange Reihe ist die teuerste Straße, die ich hier habe.“ Das Mietniveau werde höchstens von der Elbchaussee in Altona übertroffen. Eine soziale Monokultur will er aber nicht: „Wir setzen uns für den Verbleib von Hinz&Kunzt-Verkäufer Gustav Solberg ein“, sagt Schreiber. „Nicht nur Reiche sollen sich St. Georg leisten können.“
Wenn es nach SPD und GAL geht, soll der Umbruch im Stadtteil bald stärker reguliert werden. Sozialdemokrat Schreiber holt die Kopie eines neuen Antrags der Bezirksversammlung hervor, Drucksache 19/335/08. Darin fordern SPD und GAL im Dezember 2008 eine „Soziale Erhaltungsverordnung für St. Georg“. Würde sie – ähnlich wie einst in Eimsbüttel-Nord und südliche Neustadt – eingeführt, bräuchten Hausbesitzer eine Genehmigung, sobald sie eine Miet- in eine Eigentumswohnung umwandeln wollen. „Die soziale Erhaltungssatzung für St. Georg wird kommen“, davon ist Schreiber überzeugt, auch wenn der Weg dahin noch durch viele Gremien geht und es anderthalb Jahre dauern kann, bis sie angewandt würde. Noch ist auch offen, für welche Teile des Viertels die Verordnung gelten würde. „Das muss rechtssicher sein, sonst klagt ein Hausbesitzer dagegen, dass sein Gebäude noch in dem ausgewiesenen Gebiet liegt und ein anderes nicht.“
Mit der Satzung würde die Stadtverwaltung einen Trend kontrollieren wollen, den sie selbst mit angestoßen hat. Alleine den geplanten Umbau des Hansaplatzes, der noch 2009 beginnen soll, lässt sich die Stadt rund 2,4 Millionen Euro kosten. Eine Mauer am Rande des Platzes wurde bereits abgerissen. Beim Pressetermin griff Schreiber selbst zum Vorschlaghammer. Als er zwei Männer sah, die am Rande des Platzes Bier tranken, ging er auf sie zu und rief: „Das wollen wir hier aber nicht mehr sehen!“ In seinem Büro umkreist er den Stadtplan von St. Georg: „Ich möchte Saufgelage im ganzen Viertel verbieten. Stattdessen kann ich mir einen öffentlich finanzierten Trinkraum vorstellen, in dem jeder sein Bier mitbringen und trinken darf.“ In Kiel gibt es das bereits (Hinz&Kunzt Januar 2008). „Ich habe die Einrichtung besucht“, sagt Schreiber, „es scheint mir ein gutes Angebot zu sein.“
Am Hansaplatz sitzt Michael Joho im Laden des Einwohnervereins und schüttelt den Kopf: „Warum soll da nicht jemand sitzen und Bier trinken? Es gehört zu St. Georg, dass nicht alle Menschen den bürgerlichen Vorstellungen entsprechen.“ Der Streit um Hinz&Kunzt-Verkäufer spiegelt die Entwicklung in ganz St. Georg wider – zwischen Arm und Reich, Stark und Schwach.
Nachdem sich Anwohner wochenlang für ihn eingesetzt hatten, schaffte es der Vorsitzende des Bürgervereins, Helmut Voigtland, am 16. Januar 2009, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen. Vertreter von Hausverwaltung, des Hauseigentümers Philips Pensionskasse sowie zwei Politiker des Stadtbezirks diskutierten zwei Stunden in Voigtlands Kanzlei an der Langen Reihe. Nun sagt Objektmanager Thomas Warkus von der Philips Pensionskasse: „Wir wollen Gustav nicht vertreiben.“ Er darf seine Taschen nicht mehr in den Hausflur stellen. „Aber das kann er bei uns machen“, sagt Filialleiterin Michaela Kayser von „Dat Backhus“.
St. Georg und der fauchende Drache – diesmal siegte ein Schwacher, weil er von vielen unterstützt wurde. Die Konflikte um Sanierung und buntes Leben im Stadtteil gehen weiter. Gerade sammelte Michael Schwarz, der die Solidaritätsaktion für Gustav Solberg ins Rollen brachte, an der Langen Reihe Unterschriften. Das Häuserensemble aus der Gründerzeit, in dem er wohnt, wurde von einem Investor gekauft, der für Umwandlungen bekannt ist.