Der georgische Mönch Maxime Kavtaradze lebt auf einer 40 Meter hohen Felsnadel im Kaukasus. Dort oben durfte Fotograf Dmitrij Leltschuk den wohl einzigen Säulenheiligen Europas zwei Wochen lang besuchen. Seine Fotoreportage aus unserer Dezember-Ausgabe 2015 hat es nun in die Endauswahl für den Henri Nannen Preis geschafft.
Wüsste man es nicht besser, man könnte glauben, Sisyphos sei aus der Unterwelt heraufgestiegen, um seine Strafe mit dem verflixten Felsblock fortan auf Erden abzuleisten. Aber Maxime Kavtaradze hat nichts mit der griechischen Mythologie am Hut. Er ist ein Mönch – allerdings kein gewöhnlicher. Denn der 64-Jährige lebt allein an den Ausläufern des Kaukasus, in einer selbst errichteten Klause hoch oben auf einem 40 Meter hohen, frei in der Landschaft stehenden Felsen. Wie ein Eremit, der aber mit den Menschen spricht, ihnen Trost spendet, zuhört, mit ihnen betet und der eine gewaltige Anhängerschaft in Georgien hat.
Das war nicht immer so, denn in jungen Jahren war Maxime Kavtaradze ein kettenrauchender, alkoholkranker und hoch verschuldeter Kleinkimineller, der mit 17 am Kartentisch beim Schummeln erwischt und aus seinem Heimatdorf Katsiki gejagt wurde. Geschnappt wurde er schließlich in Moskau beim Stehlen einer Ikone. Im Gefängnis bekam er Tuberkulose, was zu Sowjetzeiten einem Todesurteil gleichkam. Doch er überlebte die Krankheit. Dieses Wunder, wie Maxime es nennt, brachte ihn dazu, sich an das Lebensmotto seiner streng gläubigen Familie zu erinnern: Wenn du dir etwas ausleihst, etwas annimmst oder geschenkt bekommst, musst du etwas zurückgeben. Gott und den Menschen.
Um den Menschen seine Schulden zurückzahlen zu können, begann er nach seiner Haftentlassung 1991, in einer Manganfabrik in der Nähe seines Heimatdorfes zu arbeiten. Für sich selbst behielt er nichts. Er schlief in einer Höhle, die er am Sockel einer gigantischen Felssäule fand. Ansonsten betete er. Sicher wäre er verhungert, hätten die Dorfbewohner nicht doch Mitleid mit dem einstigen Dieb und Betrüger gehabt. Sie brachten ihm zu essen – und er hörte sich ihre Sorgen an.
Trotzdem wäre Maxime Kavtaradze beinahe in seiner Höhle gestorben: Denn zum Schlafen legte er sich in einen alten Kühlschrank, der wie ein Sarg auf dem Boden lag. In einer besonders kalten Nacht entzündete er neben dem Kühlschrank ein Lagerfeuer, um das kalte Bett zu erwärmen. Dadurch traten Ammoniakdämpfe aus dem alten Gerät aus, die den Mann vergifteten. Als ihn Dorfbewohner fanden, war er schon fast tot. Doch er überlebte wieder, und so war für Maxime Kavtaradze erneut ein Wunder geschehen, für das er sich bei Gott bedanken wollte – mit einer Kapelle und einer Eremitenklause oben auf dem Gipfel „seiner“ Felssäule.
Es war eine gewaltige Herausforderung, das Baumaterial in die Höhe zu befördern. Doch mit seinem unbedingten Willen, viel Zeit, Muskelkraft und der Hilfe der Dorfbewohner schaffte er das Unmögliche. 20 Jahre lang – von 1991 bis 2011 – lebte der wohl einzige Säulen- heilige Europas zunächst an, später auf seinem Felsen. Nur selten stieg er über eine wackelige Eisenstiege hinunter, meist, um in einem nahe gelegenen georgisch orthodoxen Kloster zu beten. Und doch blieb er den Menschen immer zugewandt, die ihm großen Respekt zollen. Maxime Kavtaradze ist inzwischen so bekannt und beliebt bei den Georgiern, dass es sogar Kühlschrankmagneten mit dem Bild seiner Steinsäule gibt.
Warum er eines Tages trotzdem ganz und gar von seinem Berg herabstieg, ist unklar. Gerüchte kursieren im Dorf, der Bischof habe Maxime verboten, als nicht geweihter Priester dort oben weiterzuleben – aus Neid auf die Beliebtheit des Eremiten. Maxime Kavtaradze selbst sagt dazu nichts. Er begann damals stattdessen, auf einem 500 Meter entfernten, zweiten frei stehenden Felsen ein neues Haus zu errichten. Das Baumaterial fand er in der nächstgelegenen Stadt, wo ein 100 Jahre altes, unbewohntes Holzhaus stand. Gemeinsam mit einigen seiner Anhänger baute er es samt Steinsockel Stück für Stück ab. Profikletterer halfen, einen Seilzug am Felsen anzubringen, mit dem die Einzelteile in die Höhe gehievt und oben neu zusammengesetzt werden konnten.
In diesem Haus lebt der Mönch nun seit vier Jahren. Einem Haus, wiederum ohne fließend Wasser und jeglichen Komfort, in dem er betet und Gläubige empfängt. Immer in Sichtweite zur Kapelle auf seinem ersten Felsen. Kurz sah es so aus, als könne Maxime Kavtaradze auch dort nicht bleiben. Doch wieder halfen ihm seine Anhänger, darunter sein gesamtes Heimatdorf. Sie setzten sich beim Patriarchen für ihren Mönch ein. Der weihte ihn zum Priester und verfügte: Der alte Säulenheilige darf auf seinen ersten Felsen zurückkehren.
Und Maxime? Der hätte klaglos auch eine dritte Klause gebaut. Schon war er auf der Suche nach einem neuen, geeigneten Felsen, von denen es an den Ausläufern des Kaukasus noch einige gibt. Die Strafe des Sisyphos, sie endet eben nie. Aber Maxime Kavtaradze ist nicht diese Figur aus der griechischen Mythologie. Er hat sich seine Buße selbst auferlegt.
Text: Annette Woywode
Fotos: Dmitrij Leltschuk
Unser Fotograf Dmitrij Leltschuk hat es mit dieser Foto-Reportage auf die Short List des diesjährigen Nannen Preises geschafft. Mit dem Preis werden herausragende Arbeiten im deutschsprachigen Journalismus ausgezeichnet. Alle für die Endauswahl ausgewählten Beiträge sind unter www.henri-nannen-preis.de/download-bereich abrufbar. Die Preisverleihung findet am 28. April im Curio-Haus statt.
Mehr Fotos der Serie „Dem Himmel so nah“ unter www.leltschuk.com