Neckels Klima-Fragen

Das Ideal des Kaputten

Wegwerfen statt reparieren – so entsteht bergeweise Elektroschrott. Foto: picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte
Wegwerfen statt reparieren – so entsteht bergeweise Elektroschrott. Foto: picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte
Wegwerfen statt reparieren – so entsteht bergeweise Elektroschrott. Foto: picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte

Sighard Neckel schreibt in seiner Kolumne, warum das „Recht auf Reparatur“ gestärkt gehört.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Im Frühjahr 1926 flieht der marxistische Nationalökonom Alfred Sohn-Rethel aus dem grauen Berlin in die Sonne Neapels, wo er auf seinen Streifzügen durch die Stadt mit zunehmender Neugier das eigensinnige Alltagsleben der Neapolitaner studiert. Besonders fasziniert ihn der listige Umgang mit der Technik, den er hier beobachten kann. Das perfekte Funktionieren, sei es einer Maschine oder von Motorrädern, lasse die Neapolitaner vollkommen kalt. Im Gegenteil scheine alles, was schon von sich aus einwandfrei klappt, geradezu unheimlich zu sein. Eine höhere Macht der Dinge will in Neapel kaum jemand akzeptieren, weshalb allein das Geschick, mit der man die Tücken eines Objekts überwindet, allgemeine Bewunderung findet. Sohn-Rethel nennt dies das „Ideal des Kaputten“: Alles, was nicht (mehr) intakt ist, wird mit Improvisationskunst wieder zum Laufen gebracht. Statt in Ehrfurcht vor der Technik zu erstarren, wird der persönliche Stolz gerade darin gesehen, ihr ein Schnippchen zu schlagen.

Heute ist unser Alltag von solchen italienischen Momenten weit entfernt. Aus der Ehrfurcht vor der technischen Welt – in Neapel verschmäht – ist schlichte Achtlosigkeit geworden, weil man kaputte Dinge einfach wegwerfen und sich neue anschaffen kann. Waschmaschinen, Fernseher, Küchengeräte, Handys oder Computer landen heute schneller denn je auf dem Müll. Pro Kopf fallen in Deutschland jährlich 22 Kilo Elektroschrott an, von dem nicht einmal die Hälfte recycelt wird. Der toxische Rest türmt sich auf Deponien. Nach Prognosen der OECD könnte die Herstellung ständig neuer Geräte wie Laptops oder Smartphones im nächsten Jahrzehnt bereits ein Siebtel der weltweiten Schadstoff-Emissionen ausmachen. Viele Elektrogeräte werden nicht für eine lange Nutzung entwickelt, sondern für den schnellen Verschleiß. Wenn der Akku vom Handy kaputt ist, soll sich die Kundin gefälligst ein neues kaufen.

Die Reparatur von Konsumgütern hingegen verlängert die Nutzungsdauer, reduziert Abfall, schont die natürlichen Ressourcen und das Klima. Bereits vor zwei Jahren hat die EU ein „Recht auf Reparatur“ eingeführt, das bisher kaum umgesetzt wurde. Hierfür müssten die Gewährleistungsgarantien von Anbietenden erweitert und Geräte für eine Instandsetzung zugänglicher werden. Davon würden nicht nur Handwerk und Dienstleistung profitieren. Wer selbst ein Kabel ersetzen oder einen Ventilator wieder herrichten kann, hat die Aussicht, sich wie seinerzeit in Neapel zu fühlen. Helfen können dabei die Improvisationskünstler und -künstlerinnen in unserer Stadt: zum Beispiel in den selbst organisierten Repaircafés, in Hamburg in zahlreichen Stadtteilen zu finden.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 384

Hamburg geht wählen

Schwerpunkt Wahlen: Wie wollen die Parteien in Bürgerschaft und Bundestag Wohnungslosigkeit und Armut bekämpfen? Außerdem: Baulücken in Hamburg, Reisen für arme Menschen mit schweren Behinderungen und 100 Jahre alte Nachrichten.

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Autor:in
Sighard Neckel
Sighard Neckel ist Soziologe und Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Uni Hamburg, an der er seit 2019 auch Mitglied der Forschungsgruppe „Zukünfte der Nach­haltigkeit“ ist.

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