Das Thalia Theater inszeniert die Geschichte der Hamburger Jüdin Esther Bauer im Kellinghusenpark und mit Laienschauspielerinnen
(aus Hinz&Kunzt 157/April 2006)
Sie ist eine waschechte Hamburger Deern. Bis zu dem Tag, an dem man ihr den Judenstern an die Brust heftet: Esther Bauer, geborene Jonas. Sie kommt nach Auschwitz, überlebt den Holocaust, wandert nach New York aus, legt ihren Glauben ab, sagt: „Es gibt keinen Gott, sonst würde ich mich umbringen.“ Heute besucht die 82-Jährige ihre Geburtsstadt regelmäßig. Das Thalia Theater widmet der außergewöhnlichen Frau jetzt die Open-Air-Inszenierung „Esther Leben“.
„Ich glaube, ich war die einzige Jüdin, die sich freiwillig für einen Transport nach Auschwitz gemeldet hat.“ Einer der erstaunlichen Sätze, die der Thalia-Regisseur Herbert Enge in vielen Gesprächen mit Esther Bauer aufgezeichnet hat. Aber es ist auch ein erstaunliches Leben, das sie geführt hat. Die Hamburgerin überlebte nicht nur das Konzentrationslager Auschwitz, sondern auch das Ghetto Theresienstadt, das Zwangsarbeitslager Freiberg und das KZ Mauthausen. „Ich habe immer Glück gehabt“, sagt sie schlicht. Wieder einer dieser erstaunlichen Sätze. Doch der Reihe nach.
Am Anfang war ein Park, der Kellinghusenpark in Eppendorf. Ein kleines Mädchen, die Hamburger Deern Esther Jonas, spielt dort im Schatten der Bäume. Der Parkwächter Vogel, ein etwas schrulliger Mann, ist ihr Freund. Hier, mit den ersten Kindheitserinnerungen im Park, lässt Thalia-Regisseur Herbert Enge seine Inszenierung beginnen. Er greift dabei auf Originalzitate von Esther Bauer zurück. Der Parkwächter und das siebenjährige Kind unterhalten sich über Blattläuse, es folgen Assoziationen von Läusegas, Entlausung, Gaskammer, Auschwitz… Das Schicksal des jüdischen Kindes scheint schon jetzt besiegelt.
Als 15-Jährige muss Esther den Judenstern tragen und darf ihren geliebten Park nicht mehr betreten. Parkwächter Vogel verwehrt ihr den Eintritt. Und doch sagt Esther Bauer: „Die Hamburger waren immer sehr nett zu uns.“ Sie erzählt: „Den ersten Morgen ging ich also zur Kellinghusenstraße in die Hochbahn. Und ein Mann stand auf und sagte: Setzen Sie sich hin. Mit meinem Stern!“
In der Familie sei kaum über Antisemitismus gesprochen worden. Obwohl Esther Bauers Vater, Alberto Jonas, Direktor der Israelitischen Töchterschule an der Karolinenstraße war und damit in einer herausgehobenen Stellung in der jüdischen Gemeinde. „Für mich war mein Vater sehr, sehr streng. Alles musste genau gemacht werden, wie er es wollte. Ich habe schon rebelliert als kleines Kind. Ich hab immer gern mit meinen Händen gearbeitet, Handarbeiten, Perlen aufziehen und so Sachen, und dann am Freitagabend, wenn der Sabbat anfing, musste ich aufhören. Das konnte ich nicht verstehen.“
Zwei Ereignisse gibt es, die sie ihrem Vater bis heute nicht verzeihen kann: „Da muss ich zurückgehen auf den ersten Schultag. Alle Kinder hatten eine Schultüte, mit Bonbons und Schokolade drin. Ich durfte keine haben. Mein Vater sagte, da gibt es arme Kinder, die keine Schultüte haben werden, und dann sollst du nicht dastehen mit einer Schultüte.“ Doch er irrte sich, auch die mittellosen Eltern hatten ihren Kindern Schultüten gekauft. „Alle hatten eine. Nur ich nicht.“
Das andere unverzeihliche Ereignis wiegt schwerer: 1939 begleitet Alberto Jonas einen Transport von jüdischen Kindern nach England, um sie dort in Sicherheit zu bringen. Seine Tochter nimmt der Schuldirektor nicht mit. „Ich durfte nicht. Er hat gesagt, ich würde einem anderen Kind den Platz wegnehmen. Da wurde nicht diskutiert. Du gehst nicht, fertig. Und so bin ich ins KZ gekommen.“
Selbst nach seiner Rückkehr nach Hamburg habe ihr Vater geglaubt: „Ich habe nichts Böses getan, mir wird nichts Böses passieren.“ Wieder irrt Alberto Jonas: Die Familie wird 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert, der Familienvater stirbt sechs Wochen später an Hirnhautentzündung.
Die 18-jährige Esther lernt am ersten Tag in Theresienstadt einen jungen Koch im Lager kennen, verliebt sich, heiratet 1944, drei Tage bevor er nach Auschwitz deportiert wird. Esther meldet sich für einen der folgenden Transporte, folgt ihm in das KZ. Doch sie sieht ihn nie wieder. Auch ihre Mutter stirbt später in Auschwitz.
Doch wieder hat die junge Frau das, was sie „Glück“ nennt, Glück im Unglück. Nach zehn Tagen in Auschwitz wird sie nach Freiberg in Sachsen in eine Rüstungsfabrik gebracht zur Zwangsarbeit. Kurz vor Kriegsende wird sie mit weiteren 1000 Frauen ins KZ Mauthausen verschleppt und dort endlich befreit.
Ihr erster „Boyfriend“ aus Hamburg, Heinz Viktor, sucht und findet Esther in Österreich. Sie lebt mit ihm bis 1946 in Bremen, trennt sich aber dann von ihm und wandert nach Amerika aus. Gleich am ersten Tag in New York, in einer Eisdiele, trifft sie ihren zweiten Ehemann, Werner Bauer, ebenfalls ein jüdischer Emigrant. In einem Interview über seine Frau hat Bauer gesagt, sie „erinnere sich nur an die guten Sachen“. Sie entgegnet: „Ich habe mir sofort gesagt, ich fange ein neues Leben an, mache einen Strich drunter, es ist vorbei.“ Ihr Mann habe jedes Buch gekauft, das über den Holocaust geschrieben wurde. „Direkt am Eingang auf einem großen Bücherbord musste ich jeden Tag sehen: Treblinka, und Auschwitz, und Theresienstadt, und Birkenau. Eines Tages habe ich gesagt: Weißt du, ich war da, ich brauche das nicht jeden Tag sehen.“
„Ich hatte immer Glück“, erklärt sich Esther Bauer ihre Fähigkeit zu Überleben. Regisseur Herbert Enge glaubt, sie sei eine „geborene Kommunikatorin“. „Sie ist in der Lage, sehr schnell intensive Kontakte aufzubauen, was in den Lagern und KZs enorm geholfen hat. Sie ist in Theresienstadt an einem jungen Koch vorbeigegangen, und in der nächsten Sekunde hatte der sich verliebt und sie hatte etwas mehr zu essen.“ Diese Fähigkeit sei noch heute bei den Besuchen der 82-Jährigen spürbar: „Man kann sie in einen Raum stellen und da entwickelt sich sofort ein Gespräch. Wenn sie hier ist, ist Hamburg anders.“