Vier Monate Hartz IV: Behördenmitarbeiter klagen über unzumutbare Arbeitsbelastung, und Erwerbslose sind auf sich allein gestellt
(aus Hinz&Kunzt 147/Mai 2005)
Persönliche Beratung, passgenaue Vermittlung: Mit diesen Schlagworten warben Politiker für Hartz IV. Doch vier Monate nach der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe herrschen katastrophale Zustände in Hamburg: Hilfeempfänger werden wahllos in Ein-Euro-Maßnahmen geschickt oder schlicht nicht betreut. Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft SGB II (ARGE) kämpfen mit Personalnot und unzulänglichen Computerprogrammen.
Die moderne Arbeitslose ist bescheiden. Als Sevda (Name geändert) im Februar zu ihrer ARGE ging und nach Arbeit fragte, bot ihr die Beraterin eine Ein-Euro-Maßnahme an. „Ich bin zufrieden damit“, sagt die 25-Jährige sechs Wochen später. Die schlanke, akkurat gekleidete Frau mit den langen braunen Haaren hat Kauffrau für Bürokommunikation gelernt. Doch fiel ihr Abschlusszeugnis mit 4,0 „nicht gerade prickelnd“ aus. Nach zwei Jahren, fast 100 vergeblichen Bewerbungen und „einer ziemlichen Depri-Phase“ ist die Tochter türkischer Einwanderer dankbar für jedes Angebot. Also setzt sie sich jeden Morgen in die Räume eines Beschäftigungsträgers, lernt angeleitet von einer Computerstimme Computerprogramme und sagt: „Je mehr Erfahrungen man macht, desto reifer wird man.“
Würde jeder der gut 125.000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger Rat bei der neuen Behörde suchen, müsste diese schnell kapitulieren. Bei der ARGE herrsche ein Chaos an Zuständigkeiten und ein „unberechenbares“ Computerprogramm, klagen gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter in einem Protestbrief an den Bundeswirtschaftsminister. Raum- und Personalsituation seien „katastrophal“ und „nur wenige Beschäftigte ausreichend geschult“, so die ver.di-Vertrauensleute. Statt des versprochenen Betreuungsschlüssels von 1 zu 150 habe ein Berater „Fallzahlen zwischen 220 und 400“ zu bewältigen.
Trotzdem herrsche in der Behörde „eine gnadenlose und falsch verstandene Effizienz-Erwartung“, so eine Mitarbeiterin hinter vorgehaltener Hand. „Ich habe noch nie so viel Druck erlebt“, sagt die Beraterin, für die Zwölf-Stunden-Arbeitstage derzeit normal sind. „Wir werden nur an vordergründigen Zahlen gemessen, nicht daran, ob wir die Leute tatsächlich in Arbeit bringen.“ Manch Kollege überschreite seine Leistungsgrenzen seit Monaten und stöhne nur noch: „Ich kann einfach nicht mehr so viel arbeiten!“ Von oben komme aber immer nur die Forderung: „Mehr! Mehr!“
Eine der Vorgaben laute: Bis Ende April müsse jeder Hilfeempfänger „mindestens einmal angefasst worden sein“. Um dieses Ziel trotz hoffnungsloser Überlastung zu erreichen, ist offenbar jedes Mittel recht: So berichtet ein Mitarbeiter, dass Hilfeempfänger in 20er- oder 30er-Gruppen einbestellt werden. Sicherlich sei das nicht die versprochene persönliche Beratung. Doch gebe es immerhin „Möglichkeiten, sich zum Gespräch zurückzuziehen“. Andere ARGE-Standorte in Hamburg schicken gleich Serienbriefe raus. „Ich freue mich, Ihnen folgende Arbeitsstelle vorschlagen zu können: Maßnahme gem. § 16/3 SGB II“, heißt es darin, und weiter: „Wenden Sie sich bei o. angegeb. Arbeitgeber an die kostenlose Hotline zur Terminvereinbarung.“
Hinter den Chiffren des Amts verbirgt sich das reale Angebot von Hartz IV: die Ein-Euro-Beschäftigung. Im Gesetz ist die bis zu zehn Monate währende Maßnahme als letztes Mittel für jene gedacht, für die es keine Jobs oder besseren Qualifizierungsangebote gibt. In der Praxis schickt die ARGE derzeit offenbar wahllos Menschen zu Beschäftigungsträgern, um die rund 10.000 Plätze in Hamburg zu besetzen und so die Arbeitslosenquote zu senken. Dieses Vorgehen sei „rechtswidrig“, meinen Sozialpolitische Opposition und DGB. Denn zunächst müsse das Amt versuchen, die Betroffenen in einen regulären Job zu vermitteln, und prüfen, ob die Maßnahme überhaupt erforderlich sei. Während Kritiker auf den ersten Klagewilligen warten, weiß nur die ARGE, wie vielen Menschen die Hilfe gekürzt oder gestrichen worden ist, weil sie der Aufforderung nicht gefolgt sind – Zahlen gab die Behörde bis Redaktionsschluss nicht heraus.
Der Langzeitarbeitslose Klaus Hauswirth wird zum Beschäftigungsträger „Hamburger Arbeit“ geschickt. Seine Beraterin dort will klären, welcher Ein-Euro-Job passen könnte für den 46-jährigen Drucker. Doch Haus-wirth, ehrenamtlicher Sprecher des ver.di-Erwerbslosenrates, will reguläre Arbeit und findet die neue Art der Beschäftigung „entwürdigend“. Er beharrt auf seinen Rechten: „Ich möchte erst meinen Fallmanager sprechen.“ Also schickt er der ARGE das Rückmeldeformular und bittet um ein Gespräch. Als Antwort bekommt er die Zuweisung zu einer privaten Arbeitsvermittlung geschickt, diesmal deutlich schärfer formuliert. Doch ein Jobangebot hat auch die nicht für ihn.
„Das Verfahren ist irre“, sagt der hochrangige Mitarbeiter eines Beschäftigungsträgers. „Zu Hunderten“ kämen die Hilfeempfänger,
„darunter findet sich alles: Kranke, Leute mit Kindern und auch Hochqualifizierte.“ Allen gemeinsam sei: „Die haben noch nie einen Fallmanager gesehen.“ Manche müssten zunächst erklärt bekommen, dass es nicht um einen Arbeitsplatz für sie gehe, sondern nur um einen Ein-Euro-Job auf Zeit. „Dass wir ausführlich beraten, das war nicht vorgesehen.“ Weil aber die Beschäftigungsträger von der ARGE nur die tatsächlich besetzten Plätze bezahlt bekommen sollen, traut sich öffentlich keiner, die Missstände anzuprangern – gibt es doch kaum noch andere Verdienstquellen.
Auch Sozialarbeiter klagen: Die Mitarbeiter der ARGE seien telefonisch kaum erreichbar und schlecht informiert, heißt es unisono. Und in nicht-öffentlichen Runden teilten ARGE-Teamleiter mit, ihre Behörde sei „vor Spätsommer nicht arbeitsfähig“. Doch auch dann werde sich für die Verlierer des Arbeitsmarkts die Situation nicht bessern, fürchtet Jörg Bretschneider von der Landesarbeitsgemeinschaft Straßensozial-arbeiter: „Durch Hartz IV wird doch kein einziger Arbeitsplatz geschaffen.“ Der 38-Jährige berät junge Arbeitslose mit schlechter Ausbildung und kann vom immer härteren Verdrängungskampf um Arbeit manch Geschichte erzählen. „Wenn unsere Leute Jobs suchen, heißt es selbst bei einer Putzstelle inzwischen: ,Bei uns wird fließend Deutsch vorausgesetzt.‘“ Bretschneiders Klienten kommen jedoch oft aus Einwande-rerfamilien: „Wenn’s da ein bisschen holpert am Telefon, ist das Gespräch schon vorbei.“
Ulrich Jonas
10.000 Ein-Euro-Jobs
In Hamburg entstehen für Empfänger von Arbeitslosengeld II rund 10.000 Aktiv-Jobs, wie offiziell die Ein-Euro-Jobs heißen. Mit der Durchführung sind Beschäftigungsträger beauftragt. Sie sollen die Langzeitarbeitslosen drei bis zehn Monate lang betreuen, qualifizieren und beschäftigen oder bei Dritten („Kooperationspartnern“) Beschäftigung einwerben. Die Tätigkeiten sollen laut Gesetz „im öffentlichen Interesse“ und „zusätzlich“ sein. Die Ein-Euro-Jobber arbeiten bis zu 30 Stunden/Woche und bekommen pro Stunde 1 bis 2 Euro zusätzlich zur Hilfe.