Dart-Reportage : Der Zauber des Märchenviertels

Jenseits von Ikea herrscht im Königskinderweg in Schnelsen Idylle pur. Mittendrin: eine Firma namens Liebe, Kostas von der Insel Kos und die Schilf-Sackspinne. Eine Dart-Reportage.

(aus Hinz&Kunzt 259/September 2014)

Die Schnelsen-Flagge im Vorgarten ­hat mit Tradition wenig zu tun: Es gibt sie erst seit 2010. Sie zeigt das letzte Bauernhaus Schnelsens, den Born- kasthof, zwei Meilensteine und – ganz unromantisch – einen Verkehrsknotenpunkt.
Die Schnelsen-Flagge im Vorgarten ­hat mit Tradition wenig zu tun: Es gibt sie erst seit 2010. Sie zeigt das letzte Bauernhaus Schnelsens, den Born-
kasthof, zwei Meilensteine und – ganz unromantisch – einen
Verkehrsknotenpunkt.

Normalerweise verschlägt es mich nur nach Schnelsen, wenn ich Teelichter oder ein neues Regal brauche. Im Nordwesten der Stadt sitzt der große, schwedische Möbelkonzern, von dem jeder Hamburger vermutlich mindestens ein Teil bei sich zu Hause hat. Aber „Billy“ interessiert heute nicht. Ich bin auf Dart-Reportage: Dazu wirft man einen Dartpfeil, ohne zu zielen, auf den Stadtplan. Nun werde ich Stunden in einer Straße verbringen, in der ich in den 15 Jahren, die ich in Hamburg lebe, noch nie war: im Königskinderweg.

Prolog: Der Weg ist das Ziel

Mit dem Bus kommt man gut hin. Eigentlich. Es sei denn, es ist Tag der Großbaustelle. Wie heute. Wir kriechen. „Das ist nicht normal. Und das an einem Freitag!“, schimpft der Busfahrer. Das Verkehrschaos, allenthalben beschworen, wir ­befinden uns mittendrin: Der Eidelstedter Platz ist gesperrt, der Verkehrsknotenpunkt überhaupt, erklärt mir der Busfahrer, zu dem ich mich gesellt habe. Dabei ist es verboten, während der Fahrt mit dem Fahrer zu sprechen.

Ich könnte aussteigen, zu Fuß gehen. „Viel zu weit“, sagt der Busfahrer. „Ich habe Zeit“, sage ich. Die Ampel springt erneut auf Rot. Wir halten an einer Ersatzhaltestelle. Eine Frau steigt zu: „Sie sind zu früh!“ Der Busfahrer lacht, er hat genau 26 Minuten Verspätung. Nichts gegen seinen Rekord von 130 Minuten, aufgestellt an einem Tag, an dem sowohl Fußball-WM als auch ein Konzert gleichzeitig stattfanden. 2006 war das. Sowieso, die Leute aus den Teppichetagen, die machten sich keine Vorstellung. Jeden Tag auf der Straße, die Pausenzeiten zu kurz – fragen Sie nicht nach Sonnenschein!

Kapitel 1: Liebe am Straßenrand

Irgendwann kommen wir an. Der erste Eindruck: grün, ruhig, Vögel tirilieren. Die Straßennamen für das sogenannte Märchenviertel klauten sich die Stadtplaner bei den Gebrüdern Grimm: Dornröschenweg, Rumpelstilzchenweg und Eisenhansweg. Es gibt einen Hänselstieg und einen Gretelstieg und es gibt das heutige Ziel: den Königskinderweg. Da klingelt was: Es waren zwei Königskinder / Die hatten einander so lieb / Sie konnten zusammen nicht kommen / Das Wasser war viel zu tief.

Ziemlich morbider Stoff für so eine schöne Adresse. Wie gemacht für einen kunstvollen Stempel, am besten auf Büttenpapier. Ich bin sofort neidisch auf alle, die hier wohnen dürfen, fantasiere herum: Simone Kaiser, wohnhaft im Königskinderweg, von Beruf Prinzenrollen-Keksbäckerin. Der Zauber des Märchenviertels.

Viele alleinstehende Häuser mit Garten gibt es hier. In einem hat der Besitzer einen massiven Flaggenmast gepflanzt. Oben flattert eine Flagge mit dem Wappen von Schnelsen. Notiz: „Schnelsen hat ein eigenes Wappen!“ Fotograf Mauricio geht in die Knie: Geranien fotografieren.

Unser Blick fällt auf ein Werbeschild: „Fa. Liebe“. Das kommt wie gerufen. Wir klopfen an die Tür. Ein Angestellter winkt uns weiter. Ins Haus. Zu Frau Liebe. Die wundert sich über die neugierigen Gäste. Besonders interessant sei ihr Betrieb ja nicht. Aber wo wir schon mal hier sind: Sie planen Großküchen für die Gastronomie, „mit allem Drum und Dran“. Dem bekannten Fernsehkoch und Restauranttester Christian Rach haben sie seine erste Küche eingerichtet, Ende der 80er war das. Wo heute Büro und Werkstatt sind, war früher mal ein Frisörladen, noch früher eine Schlachterei. Mit Räucherei. Damit hatte sich der Schlachter bei den Nachbarn nicht nur Freunde gemacht. Bei den Liebes räuchert nichts, seit 1992 sind sie an diesem Standort.

Für Familien sei das hier eine tolle Gegend. Frau Liebe zählt die Kindergärten auf: der eine vorn, dann noch der andere und der neue. Bäcker gibt es hingegen eher keine, da müsste man ganz schön laufen. Im Internet hört sich das auf der Seite eines Immobilienportals so an: „Das Märchenviertel bietet zentrales, grünes und verkehrsgünstiges Wohnen mit sehr guter Nahversorgung.“ Es wird gebaut. So viel Grün in zentraler Lage, natürlich wird da gebaut.

Mein Blick bleibt an der Wand hängen. Am Fotokalender. Der Familienhund, ein Collie-Mischling, hechelt uns vom Foto an. Auf dem Chef-Bürostuhl döst die Familienkatze. Dann kommt Herr Liebe aus der oberen Etage herunter: Nun sei es mal gut mit der ganzen Fragerei.

Zweites Kapitel: Ausflug auf die Insel

Ein paar Meter weiter hantiert ein Mann auf einer Leiter an einer Deutschland-Flagge. „Lieber weiter links oder mittig“, fragt er und lacht. Theodoros, genannt Theo, führt die Geschäfte im griechischen Restaurant „Der Insulaner“. Ob wir nicht reinkommen wollen? Wollen wir. Seit 1987 sind sie hier. Vorher haben sein Vater und sein Onkel Kostas in Eppendorf zwei Lokale gehabt. Dann wollten sie „raus aus dem Schickimicki“, zur Rente hin „es etwas ruhiger angehen lassen“. Wählten den so friedlich wirkenden Königskinderweg. Doch Theos Vater starb unerwartet früh. Schwarz-Weiß-Fotos im Gastraum erinnern an ihn.

Drinnen ist es rustikal-gemütlich: Orient-Läufer auf dem Boden, viel dunkles Holz, Polstergarnituren in Rot. Auf einer sitzt der schon erwähnte Kostas. Jetzt Küchenchef. Seit mehr als 50 Jahren kocht er. Gelernt hat er sein Handwerk auf der Insel Kos. „Darum auch der Name Insulaner.“ Hätten wir auch von alleine draufkommen können. Kostas ist ein stolzer Grieche und ein stolzer Koch. Auf sein Lammge-richt (Stifado) lässt er nichts kommen. Ebenso wie auf sein selbst gemachtes Zaziki. Und seine Scampi. Man könnte jetzt einfach sitzen bleiben, stundenlang seinen Geschichten lauschen. Wie die von dem Professor, der immer das Rinderfilet von der Kinderkarte bestellte, weil ihm das so gut schmeckte. 90 Prozent der Gäste hier sind Stammgäste. Vor allem Familien mit Kindern kommen gern. Dicke Stapel weißes Papier und Buntstifte zum Malen liegen an der Theke bereit.

Und eben die Kinderkarte, auf der es auch Räuberteller und grüne Fanta mit Waldmeistergeschmack gibt. Wie auf Stichwort kommt Theos Frau mit zwei der drei Kinder zur Tür herein. „Das ist die Chefin“, sagt Theo, drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Die Familie hat es nicht weit: Sie wohnt direkt über dem Restaurant. Trotz familiärer Atmosphäre: Heile Welt herrsche im Gastrogewerbe nicht. Die Konkurrenz sei groß. „Heute ist es nicht mehr so einfach wie früher“, sagt Theo. Die vielen Ketten, außerdem sei Fleisch ja gerade bei den Jüngeren nicht mehr so „angesagt“. Bevor wir weiterziehen, hat Kostas noch einen Tipp gegen Knoblauchgeruch: „Frische Milch trinken und Petersilie essen!“

Kapitel 3: Expedition in die Wildnis

Wir dackeln weiter. Wirklich grün hier. Auf der Straße begegnet man kaum jemandem. Ab und an fährt langsam ein Auto vorbei. Ansonsten: Stille. Plopp, plopp – plooopp, ertönt es plötzlich. Aus der Entfernung sehen wir, wie ein Tennistrainer den Nachwuchs auf einem der Plätze des Sporthotels „Racket Inn“ herumscheucht. Die Tennisbälle lagern in einem Ein-kaufswagen. Alte Tennislehrer-Marotte. Kurz denke ich an meine Tage als Jugendspielerin des HTC Blau-Weiß zurück. Damals bildete ich mir ein, Boris Becker zu lieben. Heute finde ich den Ex-Tennis-Profi und seine dummen Tweets nur noch peinlich.

Drei Ecken weiter riecht es streng: Pferde grasen seelenruhig auf einer weitläufigen Wiese. Hier ist der Königskinderweg zu Ende. Allein die Bushaltestelle erinnert daran, dass es einen Rückweg in die Zivilisation gibt. Eines der Pferde wiehert. Doch die ländliche Idylle bekommt sogleich Risse. „Privatgrundstück: Betreten verboten“, steht da am Stacheldrahtzaun der Wiese. Und noch schlimmer: „Jeglicher Vandalismus wird zur Anzeige gebracht.“ Ich fühle mich sofort schlecht. Dabei hab ich nur geguckt! Meinen unsicheren Blick hat der Grundstückseigentümer nun auf Film. Mit Schildern allein belässt er es nicht, es wird auch videoüberwacht. Prinzessin, wir haben ein Problem!

Ein anderes, freundlicheres Schild zeigt an, dass hier ein Landschaftsschutzgebiet beginnt. Bunte Container warten auf Abfälle. Viele können es nicht sein, so aufgeräumt wie es im Märchenviertel ist. Ein massives Holzschild erregt meine Neugier. Der NABU hat es aufgestellt. Ich lerne, was hier alles kreucht, fleucht und gedeiht: Das hohe, wildwüchsige Gras etwa ist Schilfröhricht. Leider gibt es auch ein zu groß geratenes Foto von einer gewissen „Schilf-Sackspinne“, die diesen Lebensraum zu bevorzugen scheint. Den Blick nach unten gerichtet gehen wir vorsichtig weiter, zwischen den Halmen gen Teich. Vielleicht erhaschen wir ja einen Teichrohrsänger? Oder ein Blesshuhn? Die Halme ragen teilweise über zwei Meter hoch. Auf einem Quadratmeter finden sich hier mehr als 200. Ein unerschöpflicher Lebensraum für Vögel, Enten und ja – auch die leidige Schilf-Sackspinne.

Epilog: Stelldichein mit den Rollbrettfahrern

Wir drehen um. Gehen vorbei an neuen Häusern, in deren asphaltierten Einfahrten hier und da ein Basketballkorb hängt – wie in amerikanischen Vororten. Immer noch niemand zu sehen. Vorbei an Häusern, aus deren Vorgärten Hundebellen dröhnt. Bis wir am Wassermannpark stehen. Wiesen, Bäume, Sträucher, Menschen ohne Stress im Nacken. Später, bei der heimischen Recherche, erfahre ich, dass „H. Wassermann“ ein polnisches Mädchen war, das mit acht Jahren von den Nazis in der Schule am Bullenhuser Damm ermordet wurde. Zuvor wurde sie und 19 weitere Kinder im KZ Neuengamme für medizinische Versuche gequält. Sie starben am 20. April 1945, kurz vor Kriegsende. 2003 wurde der Wassermannpark nach ihr benannt. Ihren Vornamen weiß man bis heute nicht.

Vater, Mutter und zwei Kinder picknicken. Wir folgen dem kleinen Pfad, landen auf einem Sportplatz. Eine Gruppe Kinder wuselt auf dem Rasenplatz herum. Ein paar Jugendliche versuchen, einen Fußball möglichst lange in der Luft zu halten. Wir aber steuern direkt auf die Skater-Clique zu. Drei Jungs, enge Jeans, lässige T-Shirts, noch lässigere Frisuren, fahren unter dem lauten „Rrrrrrrrrrr“ ihrer Bretter auf der Rampe herum. Marvin (21), Nick (22) und Nico (20) sind fast jeden Tag hier. Sie kommen aus der Nachbarschaft. Die Gegend sei schon „ziemlich langweilig“ sagen sie und lachen, „aber idyllisch“. Aber sie hätten ja ihre Rampe. Besonders die „Spine-Rampe“, weil die in der Mitte eine Erhebung hat wie ein Grat. Auf so einer sei früher schon Jan Waage, der „ungekrönte König“ der Skater, gerollt: „Da waren wir nicht mal geboren.“ Um Meisterschaften gehe es ihnen nicht: „Wir machen das nicht, um uns was zu beweisen.“ Skaten sei vielmehr eine Lebenseinstellung.

Ein kleiner, etwa fünfjähriger Junge steht am Rand der Rampe und schaut mit großen Augen auf die großen Jungs. Unter seinem rechten Arm hat er ein schwarzes Mini-Skateboard geklemmt.

Text: Simone Deckner
Foto: Mauricio Bustamante

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