Hamburger Tafel : Danke, Ami!

Sie ist Gründerin der Hamburger Tafel. Als Annemarie Dose ihr öffentliches Leben begann, war sie 66 Jahre alt. Jetzt, 18 Jahre später, will sie sich zurückziehen. Eine Liebeserklärung.

(aus Hinz&Kunzt 237/November 2012)

Unvorstellbar, dass sie nicht mehr mitmacht: Ami Dose, die Gründerin der Hamburger Tafel, will ihr Projekt jetzt den „Jungen“ übergeben.

„Klopapier“, sagt Ami Dose allen Ernstes, „ist ganz schwer zu kriegen.“ Man glaubt es nicht. Da stehen wir mit der Gründerin der Hamburger Tafel in einem Riesenlager an der Bramfelder Straße. Mit der Frau, die mit ihrem 130-köpfigen Team von Ehrenamtlichen tonnenweise „alles außer Drogen und Waffen“ einsammelt und verteilt – und reden über Klopapier. „Ja, du lachst!“, sagt sie gespielt empört. Aber natürlich: Die Hamburger Tafel bekommt eher Joghurt, Gemüse und Fertiggerichte als Klopapier, das kein Verfallsdatum kennt. Aber Ami wäre nicht Ami, wenn sie dafür keine Lösung gefunden hätte.

Einmal stand sie an einer roten Ampel. Wer Ami kennt, weiß: Sie steht nie einfach so an einer roten Ampel, ohne den Blick schweifen zu lassen. Neben ihr steht ein Laster mit einer Aufschrift, in der das Wort „Fließ“ vorkommt. Ami schließt daraus, dass der was mit Papier zu tun haben müsse. Nein, diesmal springt sie nicht aus dem Auto, um den Lkw-Fahrer gleich seine Fracht abzuschwatzen. Sie erkundigt sich erst mal … und überzeugt den Chef. Wie sie so etwas immer wieder schafft, ist ihr Geheimnis. Jedenfalls bekommt sie jetzt regelmäßig Klopapier geliefert. Das lagert sie mit bestimmten Schätzen, die nur für ganz besondere Zwecke herausgerückt werden, in ihrem „Hühnerstall“, einem Drahtkäfig.

Ganz offen räumt die 84-Jährige ein, dass sie unter einem Hamstersyndrom leidet. Bei ihr wird nichts so schnell weggeworfen. Manchmal waren wir regelrecht beleidigt, weil bei manchen Waren das Haltbarkeitsdatum schon abgelaufen war. „Bei Trockenware halten die Lebensmittel mindestens noch ein Jahr länger“, sagt Ami. Das ist wohl typisch für ihre Generation, sagt sie. Ami stammt aus einem wohlhabenden, behüteten Elternhaus. Dann kam der Krieg. 1948 schlägt sie sich nach Hamburg durch, landet auf einem Bauernhof als Magd. Auch damals war sie sich für keine Arbeit zu schade.

Später lernt sie „ihren“ Herbert kennen. Die beiden haben zwei Kinder, er verdient das Geld, sie hält ihm den Rücken frei. Sie führen ein sorgenfreies Leben in Volksdorf. Dann stirbt ihr Mann. Ami ist damals Mitte 60. „Manchmal wusste ich gar nicht mehr, warum ich morgens aufstehen sollte“, sagt sie über diese Zeit. Ihre Kinder gaben ihr Tipps: zu verreisen, es sich gut gehen zu lassen. „Ich habe alle Ratschläge befolgt“, sagt sie. Aber nichts half.

Dann sieht sie im Fernsehen einen Bericht über die Berliner Tafel. Das ist 1994. Sie ist wie elektrisiert. Und ruft bei Hinz&Kunzt an. Sie ist nicht die Einzige. Bei uns stehen nach diesem Beitrag die Telefone nicht mehr still: Leserinnen fordern uns auf, auch so eine Tafel zu gründen. Nur eine, nämlich Annemarie Dose, sagt etwas ganz anderes: „Ich würde gerne so eine Tafel gründen, ich weiß aber nicht, wie man das macht.“ Ein paar Tipps von uns, dann startet sie durch. Anfangs ist es nur ein kleiner Kreis um Ami, mit den Jahren werden es immer mehr. Anfangs sind es nur Lebensmittel, die sie und ihr Team abholen. Inzwischen ist es alles: von Kaffee bis Matratzen, von Joghurt über Gemüse, Schlafsäcke bis Betten.

Ami und ihre Helfer versuchen, alles möglich zu machen. Inzwischen haben sie einen Fuhrpark, der sich sehen lassen kann. Neun Transporter – „alle bar bezahlt von Spenden“. Darauf legt Ami wert. Auf Pump – das geht für sie gar nicht. Aber man kann sicher sein: Ami hat selbst beim Autohändler den ultimativen Tiefpreis rausgeschlagen. Wie immer. Den besten Spruch über Ami, den wir immer wieder gerne zitieren, ist von Ex-Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram: „Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der einem die Tür eintritt – und man sagt noch Danke.“ Apropos Danke: Wenn jemand sich bei ihr bedanken will, dann sagt sie gern: „Das tue ich auch für mich.“ Das stimmt zum Glück. Dass allen die Arbeit Spaß macht, spürt man sofort. Im Lager wird ordentlich angepackt, aber zwischendurch trifft man sich am Riesenküchentisch – wie in einer großen Familie oder Wohngemeinschaft.

Damit die Arbeit auf sichere Beine gestellt wird und nicht den saisonalen Spendenschwankungen ausgesetzt ist, hat Ami eine Stiftung gegründet. Ihr Nachfolger Achim Müller glaubt, dass die Frontfrau zumindest weiter für die Stiftung tätig sein wird. Aber Ami behauptet eisern: „Wenn ich gehe, dann gehe ich ganz. Wenn man die Jungen nicht irgendwann ranlässt, dann gehen sie weg – und wenn Achim geht, dann kann die Tafel einpacken.“ Achim Müller – der „Junge“ ist übrigens selbst um die 60 – will sie gar nicht ganz gehen lassen: „Sie wird das Gesicht der Hamburger Tafel bleiben.“

Text: Birgit Müller
Foto: Cornelius M. Braun