Kurz bevor Deutschland und Österreich wieder Grenzkontrollen einführten, verließ unser Autor Frank Keil Ungarn in Richtung Hamburg. Am Bahnhof lernte er in den zuvor Tagen Flüchtlinge und Helfer kennen, über die er in dem letzten Teil seines Budapester Tagebuchs berichtet.
Samstagmorgen, mein Zug wird gleich fahren, pünktlich, von Budapest-Keleti nach Hamburg-Altona; direkt, also ohne dass ich einmal umsteigen muss. Für die Flüchtlinge kommt diese Zugverbindung nicht infrage: Es geht bei Szob rüber in die Slowakei und bei Kúty nach Tschechien – beide Länder haben eine verwandt harte Haltung den Schutzsuchenden gegenüber wie Ungarn und diesmal wird Polizei durch die Gänge gehen und sich jeden Fahrgast genau anschauen. Besonders die mit dunklen Haaren und dunklerer Haut.
Ich aber habe einen deutschen Pass, alles ist bestens. „Germany – good!“ – wie oft habe ich das in den letzten Tagen gehört, in Gesprächen und als Zuruf im Vorbeigehen. Nicht einfach so daher gesagt, sondern – so wirkte es – aus tiefstem Herzen empfunden. Eigentlich müsste ich als Deutscher stolz auf Deutschland sein.
Nun bin ich noch für einige Minuten in Ungarn; noch schaue ich, wenn auch ein letztes Mal zu, wie die Flüchtlinge die Treppen hinaufeilen, nachdem man ihn die Polizei ein entsprechendes Zeichen gibt und sie sich dann in den hinteren Teil des Zuges setzen, der auf dem Nachbargleis steht.
Und ich steige nun in meinen Zug, suche meinen reservierten Sitzplatz und schaue in die Abteile gegenüber, die sich rasch füllen. Bei mir wird es sehr leer bleiben, bis auf die drei amerikanischen Touristen, die sich untereinander von ihrer Wanderung im Süden Ungarns vorschwärmen und später die Gruppe Koreaner, die Europa in einer Woche absolvieren und die sehr enttäuscht sind, dass kein Plan zu bekommen ist, der alle Zwischenhalte auflistet plus aller Anschlussmöglichkeiten und den sie so gerne als Souvenir mitgenommen hätten.
Am gestrigen, letzten Nachmittag habe ich noch eine kleine Oppositionsgruppe besucht, die irgendwo in der Stadt in einem Hinterhof Räume hat und sich dort trifft und ihre Aktionen berät. Schnell kamen wir auf die Flüchtlinge zu sprechen – denen man hier hilft. Explizit und mit großem Einsatz. Nicht nur am Bahnhof Keleti.
Als ich genaueres wissen wollte, wurde ich freundlich gebeten, mein Aufnahmegerät auszuschalten. Denn dass, was die überwiegend jungen Budapester gerade machen, ab kommendem Dienstag könnte es strafbar sein. Könnte!
Denn niemand weiß genaues. Stand ist nur, dass die Orbán-Regierung im Parlament 13 Eilgesetze durchgebracht hat, dass dafür sorgen könnten, die einreisenden und die durchreisenden Flüchtlinge zu kriminalisieren. Und die, die ihnen helfen. Hilfen wie das Kaufen von Zugtickets oder das Aufsammeln erschöpfter Flüchtlinge am Straßenrand könnten dann als Schleppertätigkeit bewertet werden – das Verteilen von Lebensmittelspenden soll als gewerbsmäßige Tatigkeit verstanden werden und müsste angemeldet und auch bezahlt werden.
Und offensichtlich gibt es keine Opposition im Lande, die wenigstens bremsend eingreift. Im Gegenteil: Jüngst hat bei Gemeindewahlen in der westungarischen Stadt Tapolca die Jobbik-Partei diese gewonnen – mit über 50 Prozent Wählerstimmen; Leute, die noch rechts von Victor Orbáns rechtskonservativen Fidesz-Partei stehen; Leute, die nur den wirklich Verfolgten etwas zu Essen und Kleidung geben wollen – und dann sollen diese sofort wieder verschwinden; Leute, die unumwunden von einem wiedererstarkten Großungarn in den Grenzen von vor dem ersten Weltkrieg träumen und die mit „Magyar Gárda“ einer Art Schlägertruppe unterhalten, die Anfang September auch am Keleti Bahnhof aufgetaucht war, um die Flüchtlinge aufzumischen, angeblich auf eigene Faust. Und Joppik ist dabei in ganz Ungarn zweitstärkste politische Kraft zu werden. Ganz legal – durch Wahlen.
Nach dem Besuch bei der kleinen NGO, ging ich noch mal zurück auf den Bahnhof, die Szenerie dort ist mir mittlerweile sehr vertraut: Die Männer, die sich an der Wasserstelle waschen; die kleinen Grüppchen, die plötzlich aus der Nacht auftauchen und denen man dann zeigt, wo Platz ist, sich hinzulegen und wo es Essen gibt und Decken und wo medizinische Hilfe etwa für entzündete Füße zu erhalten ist; die Kinder, die aufgekratzt über das Pflaster laufen – einerseits völlig übermüdet, andererseits hellwach. Wie werden sie später diese Tage und Wochen erinnern? Was wird ihnen an Eindrücklichem bleiben?
Ich sprach einen der Helfer an, frage ihn, wie sie mit der hiesigen Polizei klarkommen, weil mich die rasch kursierenden Handybilder eines österreichischen Grünen-Politikers aus einem Auffanglager bei Röszke (das früher eine Strafanstalt war) noch so sehr beschäftigten, wo Polizisten mit Mundschutz in hohem Bogen Brote und Wasserflaschen in die Menge werfen, als würden sie Raubtiere füttern. „Wir kooperieren hier am Bahnhof gut mit der Polizei; es gibt keine Probleme, es ist ein sachliches Verhältnis“, sagte der Helfer.
Um die Lage an der ungarisch-serbischen Grenze einzuschätzen, von wo es ähnliche Bilder zu auch handfesten Übergriffen gibt, müsse man übrigens eines wissen: „Die Polizisten dort stehen im Nassen in der Pampa rum, sie haben Schichten von bis zu 20 Stunden. Dabei werden sie nicht verpflegt, sie bekommen kaum etwas zu trinken, sie können sich nicht ausruhen – kein Wunder, dass sie irgendwann gereizt sind und dass dann leider an den Flüchtlingen ablassen.“ So sei das nun mal. Er lachte kurz auf: „Man könnte sagen: Orbán geht mit den Polizisten fast genauso schlecht um, wie mit den Flüchtlingen.“
Die Helfer selbst wechseln, wenn möglich, jeden Tag: einen Tag hier am Bahnhof, wo es im Grunde sehr komfortabel sei und wo sie eben die Polizei in Ruhe ließe und einen Tag an der Grenze, wo langsam alles im Schlamm versinke und wo der Staat nichts, aber auch gar nichts für die Versorgung der Flüchtlinge unternehme. Zum Glück halte die Spendenbereitschaft der Ungarn an; seinem Endruck nach, wachse sie noch.
Später lernte ich Abdurrahman kennen, aus Syrien, aus der Gegend um Rakka, wie Ar-Raqqa auf türkisch heißt (Abdurrahman hat in Aleppo Türkisch studiert). Dort ist er aufgewachsen, erzählte er mir; dort hatte man ihn zur Armee gezogen – und eines Tages war er nach einem Wochenende nicht mehr zurückgegangen, war er getürmt. Wurde erwischt, landete für zwei Jahre im Gefängnis, kam dann frei – wobei man ihm die Freilassung amtlich bescheinigt habe. Er hofft sehr, dass ihm dieses Stück Papier bei seinem Asylantrag in Deutschland (wohin sonst, als nach Deutschland will er?) nun hilft.
„Ich bin Kurde, kein Araber!“, sagte er. Und das ist ihm sehr wichtig, denn er unterstrich es mit einer dynamischen Handbewegung: Kurde, kein Araber. Mit Arabern will er offensichtlich nicht verwechselt werden. Er sei auch kein Moslem! Kein Kurde sei Moslem! Was mir ehrlich gesagt komplett neu ist. Aber er war nicht davon abzubringen.
Und ich bekam eine Ahnung, dass es nicht leicht werden wird, die tiefen Konflikte, die in den Herkunftsländern der Flüchtlingen am gären und wirken sind, etwa bei uns abzumildern und irgendwann hoffentlich aufzulösen – so wie mir vorhin ein Helfer erzählte, dass es durchaus gewisse Spannungen zwischen den Arabern und den Nicht-Arabern, also den Kurden und Afghanen und den Pakistani und den wenigen Afrikanern, gebe. „Wir wissen das, wir haben das auf dem Schirm, wir achten darauf – bisher habe ich außer einer kleinen, von uns schnell beendeten Prügelei nichts gravierendes erlebt, zum Glück“, sagte er.
Was Abdurrahman aus dem Land getrieben hat? „Es gibt bei uns keine Ordnung mehr. Man weiß nie, was am nächsten Tag passiert; wer von dir Geld verlangt und wofür. Das Leben ist hart, sehr hart.“ Und so habe er sich zuletzt überlegt: Wenn sich nichts ändert und wenn es nicht danach aussieht, als würde sich je etwas ändern, dann muss man eben selbst etwas tun. Und er hat sich auf den Weg gemacht.
Er will nach Stuttgart (vielleicht aber auch nach Dresden). In Stuttgart hat er einen Schwager, über Facebook stünden sie in Kontakt. Morgen früh um fünf Uhr geht ein Zug, er hofft, dass er mitfahren kann. Dann geht es an die Grenze, zu Fuß über die Grenze, dann mit Bussen weiter nach Wien (so hat er gehört), dann weiter nach München.
Er freute sich. Freute sich, dass die Reise dann zu Ende ist – zehn Tage lang saß er allein am Stadtrand von Athen fest, bis man ihn dann doch weiterreisen ließ, einfach so. Er hatte auch nicht verstanden, warum man ihn plötzlich weiterwinkte, warum er mit einem mal verschwinden sollte: „Go! Go!“ Er machte vor, wie ihn ein Polizist angeherrscht habe und seine Stimme wurde kurz laut. „Die Griechen waren okay“, sagte er noch. Aber die griechische Polizei …
Wir plauderten noch ein bisschen, was man dann so plaudert: Er will studieren, er hat in Rakka immer Bundesliga geschaut, ist bekennender Borrusia Dortmund-Fan, für die zweite Liga ist es St. Pauli. Dann verabschiedete ich mich, und wir reichten uns die Hand.
Und ich ging noch einmal die sechsspurige Rákóczi utca entlang, die vom Bahnhof aus runter bis zur Donau das Bahnhofsviertel von Keleti einmal in der Mitte zerschneidet und wo die dann und wann in den Hauseingängen stehenden, jungen Frauen – das ist mir mittlerweile klar geworden, ich brauche da immer etwas länger – mich aus rein finanziellem Interesse ansprechen und mit nach Hause nehmen möchten.
In meinem kleinen Apartment angekommen, schaute ich vorsichtshalber noch mal bei „www.bahn.de“ nach den Zugverbindungen: Alle Züge nach Wien sind ersatzlos gestrichen („Grund: Behördliche Maßnahmen“), die Verbindung nach Hamburg aber steht (nur das behindertengerechte Klo wird fehlen, da möge man im Bedarfsfall die Hotline der Bahn anrufen).
Dann stellte ich mich ein letztes Mal ans geöffnete Fenster und schaute auf die Partymeute, die unter mir am Feiern war. Junge Leute, nüchtern, angetrunken, schwankend. Gut gelaunt und ausgelassen. Und jede Menge der gelben, ungarischen Taxis fuhren wie am Fließband auf, die neue Gäste anlieferten und die mitnahmen, die genug hatten oder woanders weiterfeiern wollten. Ein ständiges Kommen und Gehen auch hier. Wie wird das wohl alles weitergehen?
Text und Fotos: Frank Keil