Palästinensische und israelische Angehörige, die im Krieg ein Familienmitglied verloren haben, werben in Hamburg für ihr Versöhnungsprojekt
(aus Hinz&Kunzt 142/Dezember 2004)
Israelis und Palästinenser, die im Nahost-Konflikt Angehörige verloren haben, kämpfen gemeinsam für Versöhnung anstelle von Rache. In Hamburg wurde jetzt ein Förderkreis für das Projekt gegründet.
Neun Jahre alt war Aziz, als seine Kindheit von einem auf den anderen Tag endete. Morgens um fünf stürmten israelische Soldaten die Wohnung der palästinensischen Familie in Ostjerusalem und nahmen Aziz’ älteren Bruder mit. Der 18-Jährige sollte angeblich Steine geworfen haben. Ein Jahr blieb er im Gefängnis. Als er wieder entlassen wurde, war er so krank, dass er wenige Wochen später starb. „Schon als kleines Kind habe ich immer wieder erlebt, dass Nachbarn oder sogar Freunde umgebracht wurden“, sagt Aziz heute. „Aber es ist etwas anderes, wenn es deine eigene Familie trifft.“
Die Familie trauerte jahrelang. Aziz spürte nur noch Bitterkeit. „Ich haderte mit Gott, wie er das hatte zulassen können.“ Der Hass in ihm wuchs. „Ich wollte nur eins: meinen Bruder rächen. Ich war es ihm schuldig.“ Mit 16 schrieb er Kolumnen in einem politischen Jugendmagazin. „Ich nutzte das Magazin, um zweimal die Woche meine ganze Wut in die Welt zu tragen.“ Aber irgendwann wurde ihm klar: Egal, was er auch tat, die Wut machte ihn nicht glücklicher, befreite ihn nicht, der Hass machte sein Leben unerträglich. „Ich war im Gefängnis meiner Gefühle eingesperrt.“
Aziz verließ die Zeitung, und am liebsten hätte er auch gleich Israel verlassen, um alles zu vergessen. Aber das klappte nicht. So besuchte er einen Hebräischkurs. Das hatte vor allem den Grund, dass er ohne Hebräisch beruflich nicht weiterkam – und bislang hatte seine Einstellung es ihm verboten, die Sprache der Feinde zu lernen. In der Schule lernte er nicht nur die Sprache, sondern auch Israelis kennen. „Ich kannte sie ja nur in Uniform und mit einem Gewehr über der Schulter. Meine neuen Klassenkameraden hatten die gleichen Probleme und Sorgen wie ich. Das war für mich ein richtiger Schock.“
Ein Aha-Erlebnis mit Folgen. Heute kann sich der 24-Jährige nicht nur „vorstellen“, mit jüdischen Israelis befreundet zu sein. Er ist es. Kennen gelernt hat er die meisten im Parents Circle Families Forum, auf Deutsch: Elternkreis Familienforum. Das Außergewöhnliche: Dort treffen sich trauernde Angehörige beider Seiten, sowohl Israelis als auch Palästinenser, die aufgrund des Krieges im Land einen geliebten Menschen verloren haben. Doch statt Rache zu üben, wollen sie mit ihrem Engagement zur Versöhnung beitragen. „Nur wenn die Gewalt aufhört, haben wir alle eine Zukunft“, sagt Nella. Die 56-jährige Israelin heißt eigentlich „Emanuel“ – nach ihrem Onkel, der zwei Monate vor ihrer Geburt von Palästinensern ermordet wurde. Es war ein Racheakt, weil vorher Israelis Palästinenser umgebracht hatten. „Ich bin die wandelnde Erinnerung“, sagt Nella. Später heiratete sie einen Piloten, der erschossen wurde, als ihre beiden Jungen noch in den Windeln steckten. Jahrelang war sie nur damit beschäftigt, ihre Trauer zu überwinden und ihre Kinder großzuziehen. Je älter sie wurden, desto mehr hatte sie Angst, dass sie in die Armee gehen würden, um ihren Vater zu rächen. Nella wollte nicht noch mehr geliebte Menschen verlieren. Sie fing an, mit ihren Söhnen zu diskutieren und ihnen die Unsinnigkeit der Gewalt klarzumachen. „Das Reden war nicht einfach. Es ist ja fast ein Automatismus, an Gewalt und Rache zu denken“, sagt sie. Auch sie schloss sich dem Parents Circle an.
Aziz und Nella — zwei Menschen, die wie inzwischen Hunderte von anderen Palästinensern und Israelis erkannt haben: Eine jüdische Mutter, die ihren Sohn verloren hat, leidet darunter genauso wie eine palästinensische Mutter. „Das Blut der einen und der anderen“, sagt Nella, „hat dieselbe Farbe.“ Und Aziz sagt: „Rache hilft nicht, sie bringt meinen Bruder nicht zurück. Und mit jedem neuen Mord wird wieder mehr Schmerz und Leid in die Welt gebracht, denn jeder Tote hat Angehörige.“ Seit der Gründung 1995 haben sich im Parents Circle Families Forum 500 Familien zusammengeschlossen. Erstaunlicherweise werden sie von niemandem offen angefeindet oder gar bedroht. „In beiden Gesellschaften genießen Trauernde hohen Respekt“, sagt Aziz. „Keiner bringt es über sich, einen Menschen, der seinen Angehörigen verloren hat, Verräter zu schimpfen.“ Die Organisation bietet Selbsthilfegruppen an und Sommercamps für Kinder, Angehörige gehen gemeinsam in Schulen und werben für Versöhnung statt Rache. Über eine bestimmte Telefonnummer können Israelis mit Palästinensern und umgekehrt in Kontakt kommen. Das Interesse ist überwältigend. Schon 460.000 Anrufe wurden gezählt. Immer wieder kommt es zu bewegenden Szenen. Neulich beispielsweise besuchte ein palästinensischer Vater, der seinen Sohn verloren hat, eine jüdische Schule. Ein israelisches Mädchen fragte zu Hause ihren Vater. „Papa, wenn ich ermordet würde, wärst du dann auch so mutig, für Versöhnung einzutreten?“
Trotzdem: Die Mitglieder von Parents Circle machen sich nichts vor. „Wir sind auf einer langen Reise“, sagt Nella. „Aber wichtig ist, dass wir Hoffnung vermitteln.“ „Ein Teil der Gewalt geschieht ja genau deshalb, weil viele ihn nicht mehr haben“, fügt Aziz hinzu, „den nötigen Funken Hoffnung.“
Birgit Müller
Infos unter www.theparentscircle.org