Mehrere tausend Menschen in Hamburg leben ohne Krankenversicherung. Warum?
(aus Hinz&Kunzt 163/September 2006)
Seit einem Jahr plagen Bertram Maier (Name geändert) Schmerzen in der Schulter. Der gelernte Tischler hat eine Rigipsplatte angehoben, seither taucht der Schmerz immer wieder auf. „Wahrscheinlich ein gezerrter Muskel“, meint der 44-Jährige. Doch was es genau ist, weiß er nicht. Manchmal geht er zu Freunden, die sind Heilpraktiker, und kauft sich bei ihnen homöopathische Kügelchen für 9,90 Euro. Die Schulter röntgen oder vom Arzt Medikamente verschreiben lassen – unbezahlbar. Denn Maier ist, seit er sich vor zehn Jahren selbstständig gemacht hat, nicht mehr krankenversichert.
Er hat ein Ladenatelier, in dem er Kunstwerke aus Holz schafft und verkauft. Außerdem arbeitet er als Subunternehmer: „Das wird ja immer üblicher, wer stellt schon noch jemanden fest an?“ Wenn ein Handwerker ein Projekt an Land gezogen hat, telefoniert der seine Liste mit selbstständigen Facharbeitern durch. Wer den Auftrag übernimmt, arbeitet ein paar Tage mit und schreibt am Ende eine Rechnung. Versichern müsste sich Maier deswegen privat, für mindestens 300 Euro monatlich – aber dazu müssten die Geschäfte besser laufen.
Keine Krankenversicherung? Das kommt immer häufiger vor. In seiner letzten Erhebung 2003 schätzte das Statistische Bundesamt die Zahl der Deutschen ohne Krankenversicherung auf 188.000 – 25 Prozent mehr als vier Jahre zuvor. Das fällt auch in Hamburgs Krankenhäusern auf. Sie bleiben nach eigenen Angaben jährlich auf etwa 2,5 Millionen Euro Behandlungskosten sitzen, weil sie Patienten ohne Versicherung im Notfall versorgen. „Tendenz steigend“, sagt Dr. Fabian Peterson von der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft. Vor allem Selbstständige wie Bertram Maier fallen leicht aus dem Versicherungssystem. Sie gelten zwar als Leistungsträger der Gesellschaft. Doch laufen ihre Geschäfte schlecht, können sie sich die Prämien privater Krankenversicherungen oft nicht mehr leisten. „Als Erstes wird bei der Altersvorsorge gespart, dann ist die Krankenkasse dran“, sagt Ulrike Fürniß, Selbstständigenberaterin bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. „Die ganz Armen trifft das weniger, sie können Arbeitslosengeld II beantrgen und ihrer selbstständigen Tätigkeit weiter nachgehen – dann sind sie wenigstens versichert.“ Denn staatliche Hilfe können auch Berufstätige beantragen, um ein sehr geringes Einkommen aufzustocken. Eine Krankenversicherung gibt es dann dazu.
In Frage kommt Arbeitslosengeld II aber kaum für Unternehmer, die sich etwas aufgebaut haben, bevor sie in die Krise kommen. „Die müssten ja erst alles verkaufen, bevor sie Unterstützung erhalten“, erklärt ver.di-Beraterin Fürniß. „Da verzichten sie lieber erst mal auf Versicherungen, nach dem Motto: Es wird schon nichts passieren.“ Und hoffen, dass die Geschäfte in ein paar Monaten wieder besser laufen.
Seit etwa drei Jahren kommen vermehrt Selbstständige ohne Krankenversicherung in die Beratung von Ulrike Fürniß. Für sie nicht nur ein Zeichen der schleppenden Konjunktur, sondern auch verfehlter Arbeitsmarktpolitik: „Viele sind ja nicht freiwillig selbstständig, sondern aus der Erwerbslosigkeit in diesen Status gezwungen worden.“ Sie meint die Ich-AGs, bei der Arbeitslose höchstens drei Jahre lang einen Zuschuss bekommen, sich jedoch selbst um ihre Krankenversicherung kümmern müssen. Auch beim neusten Existenzgründer-Fördermodell der Arbeitsagentur entscheiden die Betroffenen selbst, ob sie die vorgesehenen 300 Euro monatlich tatsächlich für Krankenund Rentenversicherung verwenden. Viele seien mit ihrem Mini-Unternehmen überfordert und gäben ihren Versicherungsschutz auf, so Fürniß: „Das ist ein riesiger Stressfaktor, ein angsterfülltes Leben ohne Grundsicherung, das erst recht krank macht.“
Eine Studie der Universität Duisburg-Essen über nicht versicherte Personen in Deutschland macht auf eine weitere Gruppe aufmerksam, die aus dem Versicherungsnetz fällt: Arbeitslose, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, weil sie zu hohe Rücklagen haben. Bis die aufgebraucht sind, müssen sie sich selbst versichern – tun es aber oft nicht.
Und noch eine große Gruppe ist in den Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht mitgerechnet: die illegal in Deutschland lebenden Ausländer – Schätzungen gehen von bis zu einer Million Menschen aus. „Diese Flüchtlinge müssen unter Bedingungen leben, die ihren Gesundheitszustand verschlechtern“, sagt Dr. Nikki Rink von der Medizinischen Beratungsstelle für Flüchtlinge und MigrantInnen in Hamburg. Aus Angst, abgeschoben zu werden, zögern viele einen Besuch beim Arzt möglichst lange hinaus. Seit elf Jahren vermittelt die Medizinische Beratungsstelle kranke Flüchtlinge an Ärzte ihres Netzwerkes, die sie anonym und kostenlos behandeln.
Egal warum Menschen nicht mehr krankenversichert sind: Eine Rückkehr zur gesetzlichen Versicherung ist schwierig. „Der Gesetzgeber wollte die Hürden für Menschen, die sich aus der Solidargemeinschaft verabschiedet haben, möglichst hoch setzen“, erklärt AOKSprecher Tom Reher. Wer wieder in die gesetzliche Krankenversicherung will, muss in der Vergangenheit mindestens ein Jahr lang Mitglied gewesen sein. Immerhin: Die Politik hat das Problem erkannt. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist vorgesehen, Menschen, die aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschieden sind, zukünftig ein erweitertes Rückkehrrecht einzuräumen. Wann das umgesetzt wird, ist offen.