Schietwetter draußen? Fünf Hinz&Künztler hatten eine gute Idee: Sie haben einen Ausflug ins Warme gemacht, in die Hamburger Kunsthalle.
(aus Hinz&Kunzt 229/März 2012)
Ein bisschen wie ein Comic ist das, sagt Kurator Dr. Ulrich Luckhardt gerade, obwohl der Altar von Meister Bertram aus dem Jahr 1383 ganz und gar nicht aussieht wie ein Comic. Aber der Künstler erzählt eben die biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Flucht aus Ägypten in einzelnen Bildern. „Die wenigsten Menschen konnten damals lesen, deswegen mussten die biblischen Geschichten so erzählt werden, dass sie auch ohne Worte verstanden wurden“, erläutert Luckhardt.
Holger ist einer der fünf Hinz&Künztler, die heute die Kunsthalle besuchen, einfach so, um sich ein Lieblingsbild auszusuchen, eins, das ihnen wirklich etwas bedeutet. Fasziniert steht er vor dem riesigen Altar: „Das erinnert mich total an meine Kindheit“, sagt der 26-Jährige. „Der Altar, den ich meine, stand in einem katholischen Kloster, er war nicht ganz so schön, aber für mich als Kind war er großartig.“
In mehreren Heimen und Pflegefamilien ist Holger aufgewachsen, auch in einem katholischen Internat. Fünf oder sechs Jahre war er alt, und jeden Sonntag musste er zum Gottesdienst. „Die langweilige Zeit“ hat er sich damit vertrieben, „die Geschichten auf den Altartafeln anzugucken“, sagt er. Irritiert ist er von Meister Bertrams Interpretation der Geschichte von Abraham und Isaak. „Die kenne ich anders“, sagt er. „Nämlich, dass Abraham seinen Sohn nicht auf den Altar legen muss, sondern Gott schon vorher sagt, dass er Isaak nicht opfern muss.“ Sowieso: „Dass überhaupt ein Vater in Erwägung zieht, seinen Sohn zu opfern, auch wenn Gott es befohlen hat, finde ich schrecklich und abartig.“
Ulrich Luckhardt hat den anderen Hinz&Künztlern inzwischen die skurrile Geschichte des Altars erzählt: Der gehörte der Hauptkirche St. Petri, die fand das Schnitzwerk irgendwann zu altmodisch und verschenkte kunstbanausig den Altar an eine arme Gemeinde in Grabow. 1903 erst kam der Altar nach Hamburg zurück – direkt in die Kunsthalle. Kurator Luckhardt hat sich für den Rundgang ein paar Highlights ausgesucht wie die Flora von Jan Massys aus dem Jahre 1559. Es zeigt eine Frau in einem so durchsichtigen Gewand, dass man sie mit Fug und Recht als fast nackt bezeichnen kann. „Der Maler hat ein mythologisches Thema genutzt, um ein ganz weltliches malen zu können“, sagt der Kurator, „eine nackte Frau.“
Oder das Riesentableau von Hans Makart. Offiziell handelt es sich bei dem Bild um den „Einzug Kaiser Karls V. in Antwerpen“. Aber Makart nutzte die Gelegenheit zu einer fantastischen Darstellung der Szene – und dazu, eine Menge nackter Frauen zu zeigen. Er löste damit 1878 in Wien einen Riesenskandal aus. Vor allem auch deshalb, weil die nackten Frauen aussahen wie Damen der Wiener Gesellschaft. Das Bild wurde in ganz Europa ausgestellt, meist in einem zu diesem Zwecke aufgebauten Zelt. Ein Riesenskandal, ein Riesenevent – und ein Riesenreibach. 1881 erwarb die Hamburger Kunsthalle das Gemälde – „zu einem Schnäppchenpreis“, so der Kurator. „Das freute die Hamburger Kaufmannsseele.“
Hinz&Künztler Marcel hat im selben Saal sein Lieblingsbild entdeckt. Kontrastprogramm: „Glaubenstrost“ von Giovanni Segantini aus dem Jahr 1897. „Das Bild würde ich sofort in meiner Wohnung aufhängen“, sagt der 28-Jährige. Ein Friedhof, schneebedeckt, oben drüber zwei Engel. „Die Engel, die bedeuten Schutz und Geborgenheit“, sagt er. „Aber auch Glück.“ Und Friedhöfe mag er. „Ein Friedhof ist ein Ort der Ruhe, auch für Lebende.“ Eigentlich kommt er aus einem Dorf bei Parchim, aus Neuruthenbeck. „Und immer, wenn ich nachdenken musste, bin ich auf den Friedhof dort gegangen, da liegt auch meine verstorbene Cousine.“ Auch hier in Hamburg hat er „viel nachzudenken“, aber einen geeigneten Friedhof hat er noch nicht gefunden. Er ist erst seit ein paar Wochen hier, wohnt in einem Fünf-Mann-Zimmer im Winternotprogramm. Hofft, dass er in der Großstadt mehr Glück hat als in Parchim und Schwerin. „Da gibt es einfach keine Arbeit für Ungelernte wie mich.“
Apropos Ungelernte: Eigentlich müsste sich Marco für die Künstler der Brücke interessieren, die Ulrich Luckhardt gerade vorstellt. Eine Gruppe von jungen Malern, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Dresden zusammentun, „alles Autodidakten“, sagt der Kurator, „die unbefangen an die Kunst herangehen, nach dem Motto: Wir malen die Welt, wie wir sie sehen und fühlen.“ Auch Hinz&Künztler Marco malt die Welt, wie sie ihm gefällt, und ist Autodidakt.
Schmidt-Rottluff, Kirchner und Nolde mit den knalligen Farben findet Marco zwar interessant, sein Lieblingsbild ist aber ein ganz anderes: die Atelierwand von Adolph Menzel aus dem Jahr 1872. „Mystisch“ sehe die Atelierwand aus. „Ich finde, Menzel beschreibt hier die Kunst selbst, das Erschaffen von Schönheit.“ Ein bisschen baff sind die Zuhörer ob solcher Worte. Marco ist sonst nämlich ganz bodenständig. Muss er auch sein. Er hat zwar wieder eine eigene Wohnung, lebt seit ein paar Jahren ohne Heroin und wird substituiert, „aber ich muss immer noch kämpfen“, sagt er. „Das Malen hilft mir dabei.“
Die anderen stehen vor der „Nana“ des Impressionisten Édouard Manet: Nana ist ganz offensichtlich eine Prostituierte, ihr Freier sitzt auf einem Sofa, sie schminkt sich vor einem Spiegel, nur mit einem Unterkleid bekleidet. „Ein absolutes Tabuthema in der damaligen Zeit“, sagt Ulrich Luckhardt. Auch dieses Bild aus dem Jahr 1877 ein Riesenskandal. Ein Privatbankier erwarb es, und wenn er ein Diner gab, lud er – natürlich nur die Herren – nach dem Dessert in sein Herrenzimmer ein. Bei einer Zigarre und Cognac enthüllte er seine Nana …
Nach Skandalen ist Leschek und Radek gar nicht zumute. Leschek steht vor Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. „Sehr schön“, sagt er und nickt anerkennend. Die Landschaft, der Wahnsinn, das erinnert ihn an seine eigenen Wanderungen in Österreich und im Erzgebirge, „obwohl der Mann nicht so aussieht, als wäre er mit dieser Kleidung da raufgekommen“. Eigentlich wollte er selbst früher Maler werden, sagt der 56-jährige Pole. Aber letztendlich habe es nicht gereicht für eine Karriere als echter Maler – Kristallschleifer wurde er dann. Dabei blieb es nicht. Als Kranführer und Transportarbeiter hat er gearbeitet, in ganz Europa. Als 1989 die Mauer fiel, „war ich zufällig in Berlin. Das Silvester danach war ein riesiges Feuerwerk.“
Doch die Jobs wurden weniger, er wurde alkoholkrank. Leschek landete auf der Straße. Seit zehn Jahren ist er jetzt bei Hinz&Kunzt. Für den Sommer hat er ein Zuhause gefunden. Eine Gartenlaube in Niendorf, im Winter lebt er in einem Wohncontainer in einer Kirchengemeinde. Versonnen steht sein Freund Radek (54) vor Théodore Rousseaus „Geschlagene Lichtung beim Dorf Pierrefonds im Wald von Compiègne“. Ein bisschen sieht es aus, als habe er Tränen in den Augen. „Das ist die Landschaft meines Herzens“, sagt der Pole. Nicht an seine echte Heimatstadt Posen erinnert ihn die Hügellandschaft, sondern an die Sudeten. „Und es erinnert mich an die Zeit, in der ich viele Probleme hatte.“ Einmal im Jahr ist er immer hingefahren und hat dort ein paar Tage verbracht. „Da ist alles ruhig, das Leben ist ganz gemächlich, das tut der Seele gut.“ Und dann erzählt er, dass er jahrelang alkoholabhängig war, in der Spitalerstraße und vor Karstadt Platte gemacht hat.
Fotograf Daniel Cramer will ihn mit seinem Lieblingsbild ablichten – aber es ist zu eng fürs Fotografieren. „Kannst du nicht das Bild nehmen?“, fragt er und deutet auf „Abend an der Oise“ von Charles-François Daubigny aus dem Jahr 1872, eine heitere Landschaft mit einem Fluss, lieblich und sonnenbeschienen. Radek überlegt. „Das mache ich“, sagt er – und strahlt plötzlich: „Ist vielleicht wirklich besser. Das andere Bild hat mich an meine düsteren Zeiten erinnert, dieses erinnert mich an meine guten.“ Seit sieben Jahren ist er trocken, hat eine Wohnung – und lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern zusammen. „Diese Landschaft, so beschaulich und gar nicht schwermütig – die ist meine neue Liebe.“
Text: Birgit Müller
Foto: Daniel Cramer
Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall am Hauptbahnhof, Di–So 10–18 Uhr, Do 10–21 Uhr und vor Feiertagen 10–18 Uhr, Eintritt: 12/5 Euro, Familienkarte 16 Euro.
Weitere Infos unter www.hamburger-kunsthalle.de