Weil er einen Obdachlosen mit einer Glasscherbe gefährlich am Hals verletzte, verurteilt das Amtsgericht einen 27-Jährigen zu 1 Jahr und 3 Monaten auf Bewährung.
Für den Obdachlosen Sven kam der Angriff wie aus dem Nichts: Er hatte am Abend vorher getrunken, um fester auf seiner Platte im S-Bahnhof Ohlsdorf schlafen zu können. Um 6.20 Uhr stand plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihm und ging ihn an. „Ich konnte mich gerade noch etwas aufrichten, da stach er schon zu“, erinnert sich der 45-Jährige. Der Angreifer rannte weg. 12 Zentimeter lang ist die Schnittwunde, die quer über Svens Hals ging – dennoch muss er nur ambulant im Krankenhaus behandelt werden.
„Er hat wahnsinniges Glück gehabt“, sagt die Rechtsmedizinerin Dragane Seifert im Prozess vor dem Amtsgericht knapp sieben Monate nach der Tat. Der Angriff hätte genauso gut auch tödlich ausgehen können. Trotzdem fällt das Urteil gegen Michael P. vergleichsweise milde aus: 1 Jahr und 3 Monate Haft wegen gefährlicher Körperverletzung, zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Genauso hatte es die Staatsanwaltschaft gefordert. Damit ist P. ein freier Mann.
Gericht sieht mildernde Umstände
Dass er so glimpflich davon kam, liegt vor allem an seinem Verhalten nach dem Angriff. So hatte er sich bei dem Obdachlosen kurz nach der Tat mehrfach persönlich entschuldigt. Und obwohl dieser ihm sagte, er brauche nicht zur Polizei zu gehen, stellte P. sich wenig später. „Ich wollte dafür gerade stehen“, sagt er vor Gericht. Sein Opfer Sven erscheint trotz Ladung am Tag zuvor nicht zur Verhandlung, sagt aber später im Gespräch mit Hinz&Kunzt: „Wenn er sich nicht bei der Polizei gemeldet hätte, hätten sie ihn nie gefunden. Dafür hat er meinen Respekt.“ Und vom Gericht bekommt er dafür mildernde Umstände.
An die Tat erinnert sich P. nach eigener Aussage nur schemenhaft. „Ich war betrunken“, sagt er. „Sonst hätte ich nicht so eine Dummheit gemacht.“ Außerdem hatte er aufgrund einer Nervenkrankheit Medikamente genommen. Ob die Kombination aus Alkohol und Pillen ihn aggressiv gemacht haben könnte? Nicht auszuschließen, sagt ein Gutachter. Allerdings: „Wie es letztendlich dazu kam, bleibt völlig unklar“, resümiert die vorsitzende Richterin Leonie Mengel nach zwei Verhandlungstagen in ihrer Urteilsbegründung. Sie mutmaßt auch, dass der Obdachlose Sven sein Leben wohl wie gewohnt und ohne nachhaltige Beeinträchtigung fortführen konnte, denn sonst wäre er wohl nicht auf seine Platte zurückgekehrt.
„Mein Schlaf hat sich verändert. Bei jedem Geräusch schrecke ich auf.“– Sven
Im Ohlsdorfer Bahnhof lebt Sven jetzt schon seit mehr als drei Jahren. Oft sei er dort schon bespuckt, getreten oder bestohlen worden, erzählt er. Doch der Angriff im vergangenen November hat ihn nachhaltig verunsichert. „Mein Schlaf hat sich verändert“, sagt Sven. „Bei jedem Geräusch schrecke ich auf.“
Michael P. will sich einen neuen Job suchen, nachdem er den alten wegen seiner Krankheit verloren hatte, wie er erzählt. „Ich will mein Leben wieder auf die Reihe kriegen“, sagt er nach vier Monaten Untersuchungshaft. Sven geht es da ähnlich: Er hätte am liebsten wieder eine eigene Wohnung, oder wenigstens ein Zimmer. „Da kann man dann auch wieder ganz anders schlafen.“