Blühende Rekorde: ein Nachmittag im Dahliengarten
(aus Hinz&Kunzt 140/Oktober 2004)
„Eigentlich finde ich Dahlien ja ein bisschen langweilig“, sagt die Frau im roten Kleid.
Sie deutet auf ihre Kamera. „Ich mache am liebsten Nahaufnahmen, und da sind sie nun mal etwas, na ja, eintönig. Die Glockenblume, die ich bei meinem vorigen Besuch direkt hinter dem Ausgang im Volkspark fotografiert habe, gab da mehr her.“ Hat sie bei diesen Worten jetzt wirklich die Stimme gesenkt? Jedenfalls beeilt sie sich zu versichern, dass die Farben einmalig seien und sie diese Pracht heute noch einmal genießen wolle – nur eben nichts für Nahaufnahmen.
Ein Glück, dass der Mann das nicht hören kann, der im gegenüberliegenden Beet mit einer langen Schnur purpur- farbene Pompondahlien festbindet. Seinem gebräunten Oberkörper sieht man körperliche Arbeit an. Der Schweiß glänzt in der heißen Spätsommersonne, ein deutlicher Sonnenöl-Kokosgeruch erinnert an Freibadtage. Rolf Hofmann ist hier nicht einfach nur Gärtner, sondern seit fünf Jahren Chef des Dahliengartens. Für den 60-Jährigen, der sich immer wieder freut, wenn jemand sagt, „das Alter sieht man Ihnen aber gar nicht an“, sind seine Blumen das absolute Gegenteil von langweilig. Sie sind das Zentrum seines Lebens, Ziel allen Ehrgeizes, Quelle des Ruhmes und vor allem Objekt eines andauernden Wettstreits um Superlative und Rekorde: „die meisten Sorten“, „die höchsten Züchtungen“, „die meisten Prominenten-Dahlien-Weltpremieren“, „Europas größter Dahliengarten mit über 10.000 Pflanzen“. Das bekommt man, in deutlich bayrischem Tonfall, zu hören, wenn man versucht, sich mit Herrn Hofmann zu unterhalten.
Aber eigentlich hat Hofmann für Unterhaltungen sowieso keine Zeit, weil er Tag und Nacht mit Dahlien beschäftigt ist – „2000 Überstunden, unbezahlt“. Stattdessen drückt er einem an die fünfzig Seiten Papier in die Hand, „da steht alles drin, was Sie wissen müssen.“ Eine Pressemappe, zusammengestellt vom Chef persönlich, und die ausgedruckten Internet-Seiten – „die umfangreichsten, informativsten und aktuellsten Dahliengarten-Internet-Seiten“ – auch vom Chef selbst gestaltet und gefüllt mit zahlreichen Interviews. Natürlich mit dem Chef, mit wem sonst. Darin erklärt er neben vielem anderen, dass man den Besuchern heutzutage mehr bieten müsse als nur Blumen, weswegen der Hamburger Dahliengarten auch der „mit den meisten Publikumswettbewerben und Veranstaltungen“ sei. In diesen Tagen ist man beispielsweise aufgerufen, per Stimmzettel seine Lieblingsdahlie zu wählen.
[BILD=#dahlien3][/BILD]„Ich kann doch von diesen tausend Schönheiten keine bevorzugen“, sagt die zierliche weißhaarige Dame ehrlich empört. Der ältere Herr, den sie fest untergehakt hat, trägt eine dunkel getönte Brille und kann offensichtlich nicht mehr gut gehen. Aber eine Runde auf den ebenen Wegen, die machen sie jeden Herbst, erzählt sie lächelnd. Mit der riesigen gelben Dahlie in den Händen sieht sie ein wenig aus wie Alice im Wunderland, die gerade viel mehr geschenkt bekommen hat als eine Blume.
Es sind viele ältere Leute, die hier die ordentlich geharkten Sandwege zwischen den streng nach Sorten geordneten Dah- lien entlangflanieren. Frauen meist, zu zweit oder in kleinen Grüppchen, ab und an ein paar Touristen und Mütter mit Buggies, die versuchen, ihre Kinder von den Beeten fern zu halten und sich freuen, dass sie selbst mal was anderes sehen als buntes Sandspielzeug. Dazwischen ein Paar, Anfang 40 vielleicht. Er fotografiert eifrig, sie sieht aus, als habe sie sich verlaufen. Erst möchte sie gar nichts sagen, dann gibt sie zu, es hier ja eigentlich etwas spießig zu finden. „Aber so ein schöner Tag, die tollen Farben, und man kann einfach ein bisschen in der Sonne sitzen und gar nichts tun.“ Das gefalle ihr schon, auch wenn sie Gärten sonst lieber wilder habe und nicht so wie „in der Blumenzüchterschau“. Das solle jetzt aber auch nicht gemein klingen, denn sie bewundere den Idealismus derer, die das alles hier in Schuss halten, und dass es dann nicht mal Eintritt koste, „wo gibt’s so was denn noch.“ Leider hat Herr Hofmann das jetzt wieder nicht hören können, denn er holt gerade weiteres Informationsmaterial über Dahlienseminare und den Knollenversand, den er im Winter organisiert.
Als wir die skeptische Frau nach einer Stunde an einem anderen Beet wiedertreffen, hat auch sie eine Dahlie in der Hand, wie fast jeder hier. Denn alles, was Herr Hofmann und seine drei Gärtner-Kollegen im Auftrag der Gartenbauabteilung des Bezirksamtes Altona „ausputzen“, wird sofort verschenkt. „Da hinten steht ein großer Karren mit abgeknickten Blüten, die darf man sich nehmen“, erklärt Barbara Herklotz, während sie weiter energisch mit dem Pinsel in der gelben Farbe ihres Aquarellkastens rührt. Sie sitzt auf einer der zahlreichen Bänke, ein Blumenbeet im Rücken, eines vor Augen, ein paar Blüten hat sie auf dem Sitz ihres Elektro-Rollers abgelegt, und auf dem Aquarellblock auf ihren Knien entstehen – natürlich Dahlien.
[BILD=#dahlien2][/BILD]„Früher fand ich, das seien traurige Blumen, weil sie den Herbst einläuten, und den mochte ich nicht, weil er mit Ende und Trauer zu tun hat.“ Inzwischen habe sie gelernt, das anders zu sehen. „Ich habe viele Dahlienfotos zu Hause. An trüben Wintertagen breite ich die alle auf meinem Tisch aus und freue mich an der Farbenpracht – dann geht’s mir gleich besser.“ Seit ihrer Kindheit habe sie einen Tumor im Rückenmark, nach ihrem 40. Geburtstag habe sie als Sekretärin keine Arbeit mehr gefunden, obwohl sie sich mit knapp 50 viel zu jung fühle für die Frührente: „Man muss etwas haben, das den Tag strukturiert und einen erdet.“ So habe sie angefangen zu malen. Jeden Tag – und seit einiger Zeit nehme sie sogar Unterricht bei einem „professionellen Maler“. Man sieht ihr an, dass malen sie glücklich macht – „neulich hat mir eine Besucherin hier im Garten ein Bild abgekauft, das war eine tolle Anerkennung“, freut sie sich. Außerdem lerne man, genau zu gucken. So sei ihr aufgefallen, dass unterschiedliche Sorten Dahlien gemeinsam in der Vase ausdrucksstärker seien als eine Sorte allein.
Hallo, Herr Hofmann? Aber nein, der hat uns gerade noch zugerufen, dass im nächsten Jahr Michael Schumacher die Patenschaft für eine ferrarirote Dahlie übernähme, dann ist er weitergeeilt. Der Dahliengarten mit seinen anderthalb Hektar Fläche macht offenbar jeden auf seine Art glücklich. Und wer weiß, was aus Rolf Hofmann geworden wäre, wenn sein Fanatismus nicht ein so geduldiges, bescheidenes und durch und durch harmloses Opfer gefunden hätte wie die Dahlie.
Sigrun Matthiesen
Dahliengarten Hamburg, Stadionstraße 10, gegenüber vom Friedhof Altona. Geöffnet: täglich von 7 Uhr bis zur Dämmerung, Eintritt frei, Internet: www.dahliengarten-hamburg.de