Meldungen: Politik und Soziales

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

Erhaltungsverordnungen kommen zu spät
Mieter im Schanzenviertel und in Ottensen müssen weiter auf Maßnahmen warten, die sie vor Verdrängung bewahren. Wie die Stadtentwicklungsbehörde mitteilte, laufen Untersuchungen, ob die Gebiete „schützenswert“ sind. „Voraussichtlich im Herbst“ entscheide das Bezirksamt Altona, ob Soziale Erhaltungsverordnungen erlassen werden. Das Bezirksamt könne aber schon jetzt Anträge auf Abriss, bauliche Änderungen und Nutzungsänderungen zurückstellen und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen vorläufig untersagen. Auch für St. Georg, St. Pauli, Eimsbüttel-Süd, Altona-Altstadt und Wilhelmsburg stehen lange angekündigte Erhaltungsverordnungen weiter aus. UJO •

Esso-Häuser: Künstler fordern Erhalt und Stadtteilkonferenz
Der Streit um die Esso-Häuser am Spielbudenplatz spitzt sich zu. Künstler wie Udo Lindenberg und Ted Gaier stellten sich hinter die „Initiative Esso-Häuser“ und forderten den Erhalt des Ensembles sowie eine Stadtteilkonferenz. Bezirks-amtsleiter Markus Schreiber erklärte hingegen: „Der Bezirk sieht einem Abriss positiv entgegen, denn es werden mehr Wohnungen und vor allem bezahlbare Wohnungen entstehen.“ Der Eigentümer, die Bayerische Hausbau, wolle 210 neue Wohnungen bauen. Sie bestätigte diese Zahl nicht, erklärte aber, je ein Drittel Eigentumswohnungen, frei finanzierte Mietwohnungen und Sozialwohnungen zu planen. 110 Wohnungen würden dafür ebenso abgerissen wie die Esso-Tankstelle. Wie sich die Mieten entwickeln sollen, verriet der Eigentümer nicht. UJO •

Mehr Personal für Wohnraumschutz?
Die SPD-Bürgerschaftsmehrheit hat den Senat aufgefordert, das Wohnraumschutzgesetz zu verschärfen, um Leerstand, Verwahrlosung und Zweckentfremdung wirksamer zu bekämpfen. Die Linke schloss sich der Initiative an und forderte „die sofortige Aufstockung der Dienststellen um 20 Personen“. SPD-Stadtentwicklungsexperte Andy Grote sagte auf Nachfrage: „Zehn neue Mitarbeiter sollten es schon sein.“ Derzeit sind in den Bezirken 8,5 Stellen beim Wohnraumschutz angesiedelt. UJO •

Ein-Euro-Jobber künftig ohne Betreuung?
Die Evangelische Obdachlosenhilfe in Deutschland (EvO)warnt vor den Folgen des Kahlschlags bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen. Nach den Plänen der Bundesregierung sollen Beschäftigungsträger pro Teilnehmer und Monat nur noch 30 bis 120 Euro bezahlt bekommen. Das bedeute, „dass Ein-Euro-Jobs nur noch in sehr geringem Umfang durchführbar sind“, so Stefan Gillich von der EvO. „In keinem Fall dürfte es möglich sein, mit so geringen Beträgen besonders benachteiligte, ausgegrenzte Menschen zu fördern.“ UJO •

Neues Konzept für Kantinen-Jobber
Die Ein-Euro-Jobs in Schulkantinen sollen bis Ende 2011 erhalten bleiben, „in begründeten Einzelfällen“ bis Mitte 2012. Kantinenbetreiber sollen dann, so die Schulbehörde, „die Mitarbeiter im Rahmen sozialversicherungspflichtiger Jobs beschäftigen“. Einen Teil der Kosten dafür will die Schulbehörde tragen. Laut Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) sollen Ein-Euro-Maßnahmen künftig grundsätzlich vor allem jenen zugutekommen, „die fern vom Arbeitsmarkt sind“. UJO •

87 Pförtnerlogen bleiben erhalten
In den Saga-GWG Pförtnerlogen sollen künftig 260 Langzeitarbeitslose Beschäftigung finden. Das teilte die Sozialbehörde mit. 190 davon werden Ein-Euro-Jobber sein, die restlichen 70 werden mithilfe des Bundesprogramms Bürgerarbeit für drei Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 150 der Arbeitsgelegenheiten werde die „Chance“ betreuen, eine Tochtergesellschaft der Saga-GWG. Neu: Die Chance verzichtet auf die Betreuungspauschale von 350 Euro pro Teilnehmer und Monat. UJO •

Oft unsichere Jobs für Hartz-IV-Empfänger
Langzeitarbeitslose ergattern auf dem ersten Arbeitsmarkt – wenn überhaupt – oft nur unsichere und schlecht bezahlte Jobs. Das zeigt eine neue Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). 45 Prozent aller Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die Arbeit finden, verlieren diese nach sechs Monaten. Fast die Hälfte der Beschäftigten muss ergänzend Hilfe vom Staat beantragen, weil der Lohn zum Leben nicht reicht. UJO •

… dann messen sie noch heute
Neun Monate nach ihrer Absichtserklärung hat die Stadt erst die Hälfte der Wohnungen des mutmaßlichen Mietbetrügers Thorsten Kuhlmann vermessen. „Das Verfahren ist schwierig und langwierig“, so die Sozialbehörde. In wie vielen Fällen die Ämter infolge falscher Quadratmeterangaben im Mietvertrag die Zahlungen gekürzt haben – Kuhlmann vermietet oft an Hilfeempfänger – und wie viele Wohnungen die Stadt vermessen will, wollte die Behörde Hinz&Kunzt nicht sagen. UJO •

Gagfah: Bezirksamt mahnt Wohnungsunternehmen
Der Wohnraumschutz des Bezirksamts Mitte hat Anfang Juni in Wilhelmsburg elf Gagfah-Wohnungen besichtigt und „Mängel festgehalten“. Die betroffenen Mieter hatten sich in Bürger-Sprechstunden über unzumutbare Wohnverhältnisse beschwert. Ein Gagfah-Vertreter sei bei den Besichtigungen vor Ort gewesen, so ein Bezirksamts-Sprecher. „Jetzt hat der Vermieter in einer Frist den Auftrag der freiwilligen Abhilfe.“ Sofern die Gagfah die Mängel nicht behebt, „wird es Ordnungsgelder geben“. Seit Monaten protestieren Mieter gegen schimmelige Wohnungen, defekte Toiletten und Aufzüge, kaputte Heizungen, verkommene Flure und undichte Fenster (H&K 219, 220). UJO •

Tafeln: Aufschwung nicht für Arme
Die gute Wirtschaftsentwicklung führt nicht zu einem Rückgang der Hilfesuchenden, so der Bundesverband Deutsche Tafel. 1,3 Millionen Menschen holen sich Lebensmittel bei den Tafeln, vor allem der Anteil von Kindern und Senioren steigt. Der Verband warnt vor Kürzungen staatlicher Sozialleistungen: „Der Wirtschaftsaufschwung geht an Millionen Menschen vorbei.“ UJO •

Dichter an Deck

Seit 1908 schippert der Dampfer Schaarhörn über die Elbe. In dessen elegantem Salon veranstaltete Gudo Mattiat eine musikalische Ringelnatz-Lesung für Hinz&Kunzt.

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

11 Quadratmeter beste Nachbarschaft

Kreditinstitut und Kummerkasten, von Abendzeitung bis Zigaretten, von Rätselheft bis Eis am Stiel: Gudrun Eskötters Kiosk in Eimsbüttel ist mehr als ein kleiner Laden.

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

Und raus bist du!

Jan Sjoerds schläft auf der Straße. Doch die Sozialbehörde hat neu definiert, wer als Obdachloser gilt. Jan und viele andere gehören nicht mehr dazu – und bekommen weniger Hilfe bei der Wohnungssuche.

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

„Ich habe mich auf den Tod gefreut“

Fußballer müssen ganze Kerle sein – auf dem Platz und im richtigen Leben. Doch dem immensen Druck des Leistungssports sind nicht alle gewachsen. Über sein Leben mit der Depression hat St.- Pauli-Profispieler Andreas Biermann jetzt ein Buch geschrieben: „Rote Karte Depression“ erzählt von seinem schwersten Kampf und dem größten Sieg – gegen seine Krankheit.

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

Monopoly in der Altonaer Altstadt

Alle wollen, dass es schöner wird in der Neuen Großen Bergstraße, und viele freuten sich auf Ikea. Auch die meisten kleinen Gewerbetreibenden. Aber viele von ihnen werden vermutlich beim Aufschwung nicht mehr mitspielen und fühlen sich deshalb ausgebootet. Müslin Sahin ist einer von ihnen. Der Imbissbetreiber trat in den Hungerstreik. Und erfährt Solidarität von Menschen, die ihn nicht mal kennen.

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

Kollaps droht: Notunterkünfte weiter überfüllt

Im Pik As wird jedes Fleckchen Platz zur Schlafstatt
Im Pik As wird jedes Fleckchen Platz zur Schlafstatt

Im Pik As und im Frauenzimmer schlafen nach wie vor mehr Obdachlose als vorgesehen. Seit mittlerweile einem Jahr sind die Einrichtungen überbelegt. Hinz&Kunzt warnt erneut vor dem Zusammenbruch des Hilfesystems.

Raus aus den Schulden!

Millionen Menschen in Deutschland haben so hohe Schulden, dass sie sie alleine nicht bewältigen können. Doch es gibt zu wenig Beratungsstellen. Darauf wollen die Schuldnerberater selbst während einer Aktionswoche ab Ende Juni aufmerksam machen.

Freiheit für Nepals Töchter

Aufm-Sklavenkind

Elf Jahre lang wurde Urmila Chaudhary als Sklavin ausgebeutet – ein Schicksal, das Tausende junge Mädchen in Nepal trifft. Heute kämpft Urmila erfolgreich für die Abschaffung dieses Systems.

Was Tafeln leisten können – und was nicht

01HK206_Titel.inddTafelarbeit allein ist keine Armutsbekämpfung, kritisiert der Soziologe Stefan Selke. In Hinz&Kunzt erklärt er, warum die Tafeln aufpassen müssen, dass ihre Zuverlässigkeit nicht vom Staat ausgenutzt wird.

In Zeiten steigender Armut und sinkender sozialstaatlicher Leistungen kommt der Verdacht auf, dass das „System Tafel“ nur ein Symptom sozialer Versäumnisse ist und das Engagement der Tafelhelfer die Einschnitte lediglich abfedert, ohne die Armut nachhaltig zu bekämpfen. Der eigentliche Skandal aber ist die Tatsache, dass durch die Verlässlichkeit der Tafeln immer weniger über Alternativen der Armutsbekämpfung nachgedacht wird. Wie kam es dazu?
Die ursprüngliche Idee der Umverteilung von Überfluss wandelte sich bei den Tafeln zur Prämisse, das Fehlende zu ersetzen. Jetzt etablieren sich Tafeln als Regelangebot in der Armutsversorgung. Sie erschaffen eigene Märkte und parallele gesellschaftliche Strukturen. Die Tafelbewegung ist Ausdruck privater Mildtätigkeit und ersetzt schleichend lang erkämpfte Bürgerrechte. Ihre Entwicklung zeigt beispielhaft, wie Leistungen der Existenzsicherung zunehmend durch Privatpersonen statt vom Staat übernommen werden.
Was Tafeln leisten können, ist erfolgreiche Armutsbewältigung, nicht aber nachhaltige Armutsbekämpfung. Tafeln sind ein Freiwilligensystem, das jederzeit wieder verschwinden kann. Das ist der Unterschied zwischen einem privaten Almosensystem und rechtsstaatlicher Absicherung. Dem Sozialstaatsgedanken liegt die Überzeugung und die Garantie zugrunde, dass jedem Bürger die Teilhabe an materiellen und geistigen Gütern ermöglicht werden soll, damit alle ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Selbstachtung führen können. Das kann von den Tafeln nicht garantiert werden.
Die Hilfe, die bei Tafeln geleistet wird, kann deshalb im engeren Sinne niemals solidarisch sein. Solidarität ist eine Haltung der gegenseitigen Verbundenheit und Unterstützung zwischen gleichgestellten oder gleichgesinnten Personen. Bei Tafeln begegnen sich aber meist Personen mit unterschiedlicher sozialer Stellung. Die Begegnungen sind nicht symmetrisch: Die unterschiedlichen Gesten des Gebens und des Nehmens sind verbunden mit Macht- und Demutserfahrungen. Als pragmatische Hilfseinrichtungen greifen Tafeln erkennbar vor Ort ein. Das ist wichtig und für viele Bedürftige unverzichtbar. Immer aber besteht die Gefahr, dass die Hilfe zum Selbstzweck für die Helfenden wird und die eigentlichen Adressaten aus dem Blick verliert. Die Hilfe bei Tafeln wird dann eine Art „Solidarität mit Pay-back-Funktion“ für die Helfenden.

Prof. Dr. Stefan Selke lehrt Soziologie an der Hochschule Furtwangen University und ist als Autor und Publizist tätig. Er hat das Onlineportal www.tafelforum.de initiiert.