„Dort ein Fritz, hier ein Iwan“

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Viele Aussiedler fühlen sich nirgends willkommen. Nicht in der alten Heimat und nicht in Deutschland. Bloß gut, dass es die Familie gibt.

„Wenn wir nach Deutschland gehen, sind wir reich“, pflegte Oma Hertha zu sagen. Dabei klopfte sie auf die Kiste, die prall gefüllt war mit Reichsmark. Über Jahrzehnte hütete sie ihren Schatz im fernen Kasachstan. Um so größer war die Enttäuschung nach der Ankunft in Deutschland 1973. Keiner wollte die riesigen Geldlappen annehmen.

Elena Böhm erinnert sich gut an diese Zeit. Sie selbst kam, damals neunjährig, zusammen mit Oma Hertha als Aussiedlerin nach Deutschland. Nach der Landung am Flughafen Frankfurt sah sie in den Geschäften überall die Auslagen und Lichter glitzern. „Ich dachte, ich bin mitten im Paradies“, sagt die dunkelhaarige, fröhliche Frau. Doch schon beim ersten Mittagessen im Erstaufnahmelager Friedland wich die Euphorie: Es gab Spinat, und der schmeckte fürchterlich. „Was für ein armes Land muss das sein“, dachte die kleine Elena, „dass die Leute Gras essen müssen.“

Großes Gelächter in der Runde. Am Tisch in den Räumen der Beratungsstelle „Der Begleiter e.V.“ in Bergedorf, sitzen Aussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Normalerweise kommen sie hierher, um beim Sprachtreff Deutsch zu lernen oder es aufzu-bessern. Heute erzählen sie von ihrem Leben. Geschichten wie die von Elena Böhm, die heute als Aussiedlerberaterin beim „Begleiter“ arbeitet, haben alle auf Lager. Doch was im Nachhinein lustig klingt, führte bei der Ankunft in Deutschland zu Tränen.

„Mein Sohn hat zwei Tage lang mit dem Kopf auf dem Tisch gelegen und nichts gegessen und getrunken“, erzählt Olga Bytschinski, die 1998 nach Deutschland kam und nach der Erstaufnahme zunächst kurz auf einem Schiff in Hamburg-Neumühlen untergebracht war. „Das Ungeziefer überall, der Schmutz – wir hatten Angst, einen großen Fehler gemacht zu haben“, so die 60-Jährige. Schließlich hatte die Familie in der russischen Kleinstadt, 20 Kilometer von Moskau entfernt, ganz gut gelebt.

Wenn Olga Bytschinski an die Ausflüge zum Pilzesammeln in die nahegelegenen Wälder denkt und an das schöne Wetter dort, wird der Blick der kleinen Frau im dicken Wollpullover weich. Und sie gerät ins Schwärmen, wenn sie stockend von ihrer „Lieblingsbeschäftigung“ erzählt, ihrem Beruf: 25 Jahre lang hat sie als Bauingenieurin gearbeitet. In Deutschland wurde ihr Diplom nicht anerkannt, und egal, um welchen Job sie sich bewarb, sie hörte das, was auch in Deutschland Geborene zunehmend hören: zu alt. Seither lebt Olga Bytschinski von einer spärlichen Rente, und die Motivation, das gebrochene Deutsch aufzupeppen, sinkt von Jahr zu Jahr.

Gerade ältere Aussiedler haben kaum Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Aber warum sind sie nach Deutschland gekommen? Natürlich haben alle auf wirtschaftlichen Wohlstand gehofft. Aber das war nicht der einzige Grund: „Wir waren da doch die Faschisten“, sagt die 50-jährige Ludmilla Miller. Schon als Schulkind in Kirgisien hatten Klassenkameraden ihr diesen „Spitznamen“ verliehen. Und später bei Bewerbungsgesprächen wurde die mit dem verräterischen Nachnamen Lichtenwald geborene Frau regelmässig mit der Begründung abge-lehnt: „Wir brauchen keine Deutschen.“

Waldemar Renschler, der gemeinsam mit seiner Frau Jelena 1995 nach Hamburg kam, erlebte direkt, wie der Zweite Weltkrieg friedliche Nachbarn zu Feinden machte. Der 69-Jährige wurde in der Ukraine geboren. Als Achtjähriger kam er 1944 zum ersten Mal nach Deutschland – als Deportierter. Wie alle seine Landsleute stand auch der kleine Junge nach dem Angriff Hitlers auf die UdSSR unter Gene-ralverdacht, mit dem Reich zu kollaborieren. Nach dem Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg brachte ihn ein Zug zurück – allerdings nicht in die Ukraine, sondern nach Sibirien ins Arbeitslager.

Obwohl die Sowjet-Deutschen im Jahr 1964 offiziell rehabilitiert wurden, bestimmte die Kollektivbeschuldigung noch lange die Einstellung gegenüber dieser nationalen Minderheit. „Dabei hatten viele von ihnen gegen die Nazis gekämpft“, sagt Elena Böhm.

Wir sind eine verlorene Generation“, meint Ludmilla Miller. „Dort waren wir der Fritz, und hier sind wir der Iwan.“ Die resolute Frau mit dem modernen Kurzhaarschnitt spricht sehr gut Deutsch. Ihren slawischen Akzent kann die gelernte chemisch-technische Assistentin dennoch nicht verbergen. „Ich versuche mich zu integrieren, aber wenn ich den Mund aufmache, schlagen mir hier oft Aggressionen entgegen.“ Alle nicken. Schon in Russland war man wegen der ewigen Ablehnung lieber unter seinesgleichen geblieben, hatte untereinander geheiratet. Hier in Deutschland wiederhole sich das nun. „Wir haben unsere Familien. Das ist das Wichtigste“, sagt Elena Böhm. Heimat ist da, wo die Familie ist.

Doch manchen reicht das nicht. „Ich selbst habe nie schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt Nadine Ruks. Aber die schlanke 38-Jährige sorgt sich um ihren Vater. Er geht kaum noch aus dem Haus, lebt völlig zurückgezogen und frustriert. Ein Urlaub in Russland sollte Linderung bringen, aber der bewies erneut, dass sich der Vater auch in der Ferne nicht Zuhause fühlt. „Viele Aussiedler leiden unter Depressionen“, bestätigt Elena Böhm. Das Bergedorfer Krankenhaus habe beim „Begleiter“ daher schon mal angefragt, ob man einen russischsprachigen Psychologen vermitteln könne.

Nadine Ruks selbst hat sich durchgebissen. Die Englischlehrerin kam vor sechs Jahren nach Deutschland, ihrem Mann zuliebe und ohne ein Wort Deutsch zu können. Heute spricht sie fast akzentfrei und macht eine Umschulung zur Bürokauffrau. Mit ihren in Deutschland gebo-renen Kolleginnen trifft sie sich zum Kaffee. Sie fühlt sich wohl. Und ihrem achtjährigen Sohn, dem fällt inzwischen das Russische schwer. „Dagegen will ich was unternehmen“, sagt Nadine Ruks und lacht. Spinat mag er deshalb noch lange nicht. Obwohl er natürlich genau weiß, dass er kein Gras vor sich hat.

Annette Bitter

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) gibt die Zahl der Aussiedler, die im Jahr 2002 aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind, mit rund 85.000 an. Im Jahr 1994 waren es noch 213.214 Menschen. Die Neuankömmlinge werden im bundesweit mittlerweile einzigen Erstaufnahmelager Friedland (bei Göttingen) untergebracht, bevor sie nach einem festen Schüssel auf die Bundesländer verteilt werden. Hamburg nimmt rund 2 Prozent der Menschen auf.

„Hörst du die Brandung?“

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Das Zuhause vonHinz &Kunzt-Autor Christoph Jantzen liegt direkt an den Gleisen von S- und Fernbahn. Besser kann man nicht wohnen, findet er.

Bei euch ist es aber laut“, sagen Freunde, wenn wir sie auf unseren Lieblingsplatz führen, die Dachterrasse. Sie meinen Deutsche Bahn und HVV. Intercitys, ICEs, Metropolitans, Autoreise-züge, Interregios, Regionalbahnen, Güterzüge und S31, S21, S11 passieren unsere Wohnung in der Oelkersallee auf Augenhöhe. Unsere famose Aussicht auf Fernsehturm, Iduna-Hochhaus und St. Johannis-Kirche nimmt niemand wahr. Zwischen Hauptbahnhof und Altona pocht die Aorta der staatlichen Carrier.

Als wir einzogen, strichen Maler unsere niedrigen Wände. Als die beiden Jungs sich mit Thermos-kanne und Stullen zum Frühstück auf den bemoosten Planken unserer Dachterrasse niederließen, sagte der eine: „Mein Gott ist das hier laut, da kann man ja nicht mal seine BILD-Zeitung lesen.“ Wir sehen es anders.

Auch früher, als meine Freundin Tina und ihr neunjähriger Sohn Ole noch in Stralsund lebten, konnte ich aus dem Zug in die Küche gucken. Wenn sie am Fenster standen und winkten, fühlte ich mich freudig erwartet.

Unsere Freundin Sylvia lebt in Lüneburg neben Lünebest, und jeder Intercity, der ungebremst durch die Stadt jagt, kräuselt die Wasseroberfläche im Planschbecken ihrer Kinder, die sich die Handteller gegen die Ohren stemmen. Wir haben etwas mehr Abstand: Die Max-Brauer-Allee und das Außenlager von Autohaus Bluhm trennen uns von der Trasse. Bluhms Spezialität ist der Handel mit Kleintrans-portern, deren sich ständig ändernde Ausrichtung wir von unserer Dachterrasse aus mit Interesse verfolgen. „Die fünf alten Krankenwagen standen doch gestern noch hier vorne neben den Ford Transits.“

Neu ist die extrem hohe Frequenz. Selten sehen wir einen einsamen Zug vorbeifahren. Meist kreuzen sie sich im Minutentakt am Nadelöhr Sternbrücke, die über die Schnittstelle von Stresemannstraße und Max-Brauer-Allee führt. S-Bahnen müssen häufig warten, und wir können Blickkontakt zu den Passagieren aufnehmen. „Eure neuen Terrassenstühle habe ich schon gesehen“, sagt Rita, die uns beneidet, weil die Vorhänge bei uns noch zugezogen sind, wenn sie frühmorgens mit der S21 zur Arbeit fährt.

Ole hat schon in Stralsund jede Regionalbahn aus Velgast und Ribnitz-Damgarten von Küche und Klo aus ehrgeizig wahrgenommen: „Den habe ich zuerst gesehen!“ Nun muss er sich auf Highlights beschrän-ken. Den schicken Nachtzug nach Basel, die eleganten Metropolitans auf dem Weg nach Köln oder – unsere gemeinsamen Favoriten – die Autoreisezüge gen Narbonne. Sie unterscheiden sich von den nächt-lichen Zügen mit den Volkswagen-Lieferungen aus Wolfsburg, weil die üblichen Erschütterungen bei mindestens vier Limousinen die blinkenden und aussichtslos nach Hilfe schreienden Alarmsysteme auslösen.

Wenn Ole aufgeregt ruft: „Das ist der Schlafwagen nach Rom“, wissen wir: „Um 20.31 Uhr solltest du doch längst im Bett liegen, schlaf jetzt endlich!“

An Sommerabenden auf der Dachterrasse ist das Gespräch mit Freunden häufig schwierig. Mitten im Gespräch halten sie inne, setzen ihren Redefluss scheinbar unvermittelt wieder fort. Wir verstehen das nicht. Man kann doch lauter sprechen, kurz mal schreien.

Wir bemerken die Züge kaum. „Hier ist doch schon ewig keiner mehr gefahren“, sagt Tina manchmal nach Stunden, wenn wir uns nächtens angeregt draußen unterhalten. „Nö“, stimme ich zu, und schon wirft sich der nächste Güterzug kreischend in die Rechtskurve Richtung Altona. Man kann die Bahn ausblenden. Sie hupt nicht, lässt die Maschinen nicht angeberisch aufheulen, fährt nicht mit quietschenden Rädern an. Sie rollt gemächlich heran, ist da und entschwindet behutsam.

Früher, als ich ein paar hundert Meter entfernt in der Schanzenstraße lebte, waren die Autos die Hölle. Nervöse Maßregelungen vor der Spur der Rechtsabbieger, Parkplatzkämpfe, Lkw mit dröhnenden Kühlaggregaten auf dem Weg zum Schlachthof, Cabrios mit weit aufgedreh-ten Musikanlagen. Einzig ruhiger Platz in der Wohnung war die Küche in Richtung Hinterhof. Bei offenem Fenster fragte ich Tina: „Klingt es hier nicht manchmal, als säßen wir in Spanien am Meer, hörst du nicht auch die Brandung?“ „Quatsch, das ist die S21.“

Meine Schwester, die selbst jahrelang durch Einfachverglasung auf den Görlitzer Bahnhof blickte, wusste gleich, was sie uns zum Einzug schenken konnte. Nachdem sie die Wohnung gesehen hatte, lag einige Tage später eine Videokassette im Briefkasten: „Zugvögel – einmal nach Inari.“ Darin reist Joachim Król als skurriler Fahrplanexperte nach Nordfinnland, wo dem Gewinner des 1. Internationalen Kursbuch-Wettbewerbs 25.000 Pfund winken. Einen Tipp hatte sie auch parat: „Stellt euch einen Springbrunnen aufs Dach, das harmonisiert die Außengeräusche.“

Das Leben an der Trasse ist spannend. „Ihr habt fünf Tage Ruhe“, weissagte Yvonne mitfühlend. „Zwischen Dammtor und Altona wird an den Gleisen gearbeitet. Die ganze Strecke ist gesperrt. Es fahren nur Busse als Schienenersatzverkehr.“ Am Abend bildeten dutzende Gleisarbeiter in reflektierenden orangen Overalls die Vorhut, Flutlicht erhellte unseren Blick auf Butzek-Automobile, Shell-Tanke und Antik-Möbel-Speicher.

Gelbe Schienengefährte in Gestalt mächtiger Heuschrecken krochen heran, Scharen behelmter Arbeiter flexten und trieben mit Pressluft Nuten in die Schwellen – die grell erleuchtete Szenerie ließ uns die Tageszeit vergessen. Spät erst gingen wir ins Bett. „Schön, dass wir schon Feierabend haben.“ Ruhigen Schlaf fanden wir jedoch erst vier Tage später, als die Bahnen wieder rollten.

Bevor wir ins Bett gehen, achte ich sorgsam darauf, dass der rechte Zipfel der Gardine nicht auf dem Boden, sondern auf dem Schreibtisch liegt. Durch die offene Luke können wir morgens, wenn wir aufwa-chen, gleich die Züge vorbei gleiten sehen. „Ich finde das urban“, sagt Tina.

Die ungeliebten Kranken

Wie das AK St. Georg Obdachlose behandelt – oder auch nicht

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Christopher William schüttelt den Kopf. Der Krankenpfleger, der für die Mobile Hilfe der Caritas arbeitet, kann immer noch nicht glauben, was er vergangenen Herbst erlebte. Damals versuchte er, einen schwer kranken Obdachlosen im Allgemeinen Krankenhaus (AK) St. Georg behandeln zu lassen. Der Mann hatte eine große offene Wunde am Bein, eitrig, verrottet und geschwollen. So saß er seit Wochen in der Innenstadt, umkreist von dicken Fliegen, und bettelte.

Immer wieder versuchten die Mitarbeiter des Caritas-Busses, den Mann zu bewegen, sich helfen zu lassen. Endlich willigte er ein – aber nur zu einer Klinikbehandlung.

William fuhr mit dem Patienten in die Notfallaufnahme des AK St. Georg. „Nichts haben die Ärzte gemacht“, sagt der 45-Jährige. „Sie haben ihn nicht mal angefasst!“ Obwohl die Wunde dem erfahrenen Pfleger zufolge schon den Knochen angegriffen zu haben schien, schickte man die beiden Männer von der Chirurgie in die Dermatologie. Mit demselben Ergebnis: Trotz Williams Angebot, der unter Überlastung klagenden Ärztin zu assistieren, habe sie die Wunde weder untersucht noch gereinigt, nur kurz darauf gedrückt und gesagt: „Das ist kein Fall fürs Krankenhaus.“

„Die wollten einfach nichts damit zu tun haben“, sagt William. „Wenn die Humanität fehlt, bleibt nur noch Bürokratie übrig, kein Gefühl, keine ärztliche Neugier“, so der Pfleger fassungslos.

Schwere Vorwürfe. Aber Christopher William ist nicht der Einzige, der sich über den Umgang mit Obdachlosen besonders in der Notaufnahme des AK St. Georg beklagt. Immer wieder erzählen auch Hinz & Künztler, trotz eines Notfalles nicht mal untersucht worden zu sein.

So wie Verkäufer Uwe, der im Dezember während eines Besuchs im Landessozialamt umkippte und erst im Krankenwagen wieder zu sich kam. „Sie müssen richtig durchgecheckt werden“, habe der Notarzt auf dem Weg ins AK St. Georg gesagt. Dort wurde dem 41-Jährigen eine Infusion gelegt und bedeutet, er könne jederzeit gehen. Die Infusion lief nicht durch, aber darum habe sich niemand gekümmert. „Es könnte ein epileptischer Anfall gewesen sein“, sagt der Hinz & Künztler, der vor Jahren unter dieser Krankheit litt und die Symptome kennt. Untersucht wurde er nicht.

Das AK St. Georg erklärte gegenüber H&K nur, Gespräche mit der Caritas seien geplant. Für weitere Stellungnahmen verwies es auf den Landesbetrieb Krankenhäuser (LBK), der nach mehrmaliger Anfrage mitteilen ließ: „Alle Menschen werden in den Häusern des LBK gleich behandelt, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status. Das schließt Obdachlose ausdrücklich mit ein.“

Ein Krankenhaus-Mitarbeiter (Name der Redaktion bekannt) sieht das anders: „Obdachlose gelten als ungeliebte Klientel. Sie stinken, sind verlaust, schmutzig – und weil sie sich oft nicht wehren können, werden sie schlecht oder gar nicht behandelt.“ Die Arbeitsbelastung in den Notaufnahmen sei extrem hoch, bringt er zur Entschuldigung an.

Obdachlose – erst recht wenn psychische Beeinträchtigungen hinzukämen – seien zudem schwierige und zeitaufwändige Patienten. Dennoch: „Leute, die gut gekleidet und gepflegt sind und aussehen, als könnten sie ihre Rechte durchsetzen, werden eindeutig besser behandelt.“ Gegenüber Obdachlosen, deren Behandlung in der Regel das Sozialamt bezahlt, sei der Umgangston dagegen oft „unglaublich“.

Auch die Mitarbeiter der Mobilen Hilfe wissen um die Arbeitsbelastung des Krankenhauspersonals. Früher, so Schwester Annette Wyrwol, gab es zudem in jeder Klinik eine kleine Hautabteilung. Heute können bei Notfällen nur noch das AK St. Georg und die Uniklinik helfen. Kein Wunder also, dass die Ärzte des city-nahen AK St. Georg viele obdachlose Patienten behandeln müssen, die häufig unter schweren Hautkrankheiten und Wunden leiden. Aber: „Wir machen uns vorher Gedanken, wo wir die Leute hinfahren, ob es wirklich nötig ist und ob der Patient es will“, sagt der Arzt Stanislaw Nawka, der seit sieben Jahren für die Mobile Hilfe im Einsatz ist. Werden Obdachlose dann von den Krankenhausärzten abgewiesen oder abfällig behandelt, hat das oft fatale Folgen: Teils wochenlange Überredungskünste, sich endlich in die Klinik zu begeben, sind im Nu zunichte gemacht. Die Patienten gehen lieber wieder.

Und noch etwas kritisieren die Mitarbeiter der Mobilen Hilfe: „Wir müssen häufig die Fehler ausbügeln, die der nachlässigen Behandlung im AK St. Georg geschuldet sind“, so Christopher William. Wunden werden nicht korrekt gesäubert, Haare vor dem Nähen nicht entfernt. Mit unter den Verbänden faulenden, verklebten und aufgeweichten Wunden landen die Patienten schließlich im Bus der Caritas.

Deren Mitarbeiter geben sich mehr Mühe. „Wir machen die Leute regelrecht bühnenreif“, so Wyrwol. Die meisten Kranken würden sich in der Krankenstube für Obdachlose im ehemaligen Hafenkrankenhaus rasieren und waschen, bevor sie von einem niedergelassenen Arzt eine Krankenhauseinweisung erhalten. Oft ohne Erfolg: „Häufig stehen die Patienten ein paar Stunden später wieder vor der Tür “, sagt Klaus Scheiblich, Pflegedienstleiter der Krankenstube. Dabei sind die 14 Betten durchgehend belegt – mit all jenen, die nicht krankenhausreif sind, aber ein Bett und Pflege anstelle einer Parkbank benötigen, um sich auszukurieren.

Letztlich entscheiden aber die Krankenhaus-Ärzte, ob sie eine stationäre Behandlung für nötig halten. Diese Entscheidung fällt offenbar häufig anders aus als bei den Kollegen außerhalb der Klinik, wenn es sich um Obdachlose handelt. Die Schuld dafür wird den Patienten zugeschoben. „Alle Patienten werden in gleicher Weise über ihre Erkrankung, die damit verbundenen Risiken sowie die Behandlungsempfehlungen aufgeklärt. Zu einer erfolgreichen Behandlung gehört allerdings auch die Bereitschaft der Patienten, den Empfehlungen zu folgen. Diese Bereitschaft ist leider nicht bei allen Menschen vorhanden“, so der LBK.

„Mit den Füßen könnte man trampeln“, sagt dagegen Schwester Elsbeth über die aufnehmenden Ärzte im AK St. Georg. Die Ordensschwester, die über 45 Jahre Pflegeerfahrung verfügt, versuchte einen obdachlosen, psychisch kranken Mann im AK St. Georg unterzubringen. Schon zwei Jahre zuvor hatte ein niedergelassener Arzt festgestellt, dass dessen zum Teil abgestorbenes Bein nicht zu retten sein würde. Ende November vergangenen Jahres wurden die offenen Füße des Mannes schlimmer, das Bein schwarz.

Doch im AK St. Georg schickten die Ärzte ihn und seine Begleiterin fort. „Wir sind doch kein Pflegeheim“, hätten sie zu hören bekommen. „Sie haben ihm ’ne Wanne zum Füße waschen hingestellt und ihm ein Paar neue Socken gegeben. Sie haben nichts verbunden, ihm noch nicht mal beim Reinigen der wunden Füße geholfen“, so Schwester Elsbeth – trotz ärztlicher Einweisung.

Auch der zweite Versuch Mitte Dezember scheiterte, ebenfalls trotz Einweisung und obwohl der Patient kaum noch laufen konnte. „Den behalten wir nicht hier, da können sie noch so fordernd sein“, hätten die Ärzte gesagt. Mit Hilfe eines Taxifahrers und einem Rollstuhl brachte die verzweifelte Frau ihren Schützling in die völlig überfüllte Krankenstube für Obdachlose. Von dort wurde der Mann erneut ins AK St. Georg eingewiesen und endlich stationär aufgenommen, um ihm Bein zu amputieren.

Annette Bitter

Vermintes Gebiet

Wie Schüler den Aufbau in der Balkanregion unterstützen

(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 2002)

Seit zehn Jahren sammelt eine Schülerinitiative Geld, um Jugendliche in der Balkanregion zu unterstützen. Serjoscha Gerhard, Freiwilliger bei „Schüler Helfen Leben“ in Neumünster, hat die Projekte vor Ort besucht.

In einem Haus in Sarajewo spielen Kinder. Nichts Besonderes? Das Haus ist eine Ruine, Granaten und Schüsse haben es getroffen. Keiner weiß, ob nicht irgendwo noch eine Sprengfalle oder Mine lauert. Das ist Alltag an der ehemaligen Frontlinie in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina.

Ich bin zusammen mit meiner Kollegin Alexandra unterwegs. Normalerweise sitzen wir im Bundesbüro von „Schüler Helfen Leben“ (SHL) in Neumünster vor unseren Rechnern oder telefonieren. Aber jetzt sind wir vor Ort. Zwei Wochen lang besichtigen wir Projekte von SHL in Bosnien und im Kosovo.

Die Mitarbeiter aus unserem Seminarhaus in Sarajevo führen uns durch die Stadt. An der früheren Frontlinie erklären sie uns die Trennung der Stadt. „Wir stehen gerade zwischen dem serbischen Teil des Landes und der Föderation aus Kroaten und Bosniaken“, erklärt uns die gebürtige Bosnierin Alma. „Hier können wir durch“, meint Steffen, Friedensfachkraft bei SHL, und zeigt auf eine Grünfläche. „Auf diesem Trampelpfad liegen keine Minen“, fügt er hinzu. Wer ansonsten sicher gehen will, muss sich auf Asphalt bewegen.

Der Krieg ist seit sieben Jahren vorbei, eigentlich herrscht Frieden. Aber nicht nur Minen sind vom Kampf zwischen den Volksgruppen geblieben. Immer wieder stößt man auf Vorurteile und Abneigung gegen die jeweils andere Seite.

SHL bringt Serben, Kroaten und bosnische Muslime zusammen – etwa in Jugendzentren, mit Zeitschriften- und Radioprojekten oder in Kunst-Workshops. Ein wichtiges Projekt ist auch der Aufbau einer Schülervertretung, um Demokratie und Mitbestimmung kennen zu lernen. Denn viele Jugendliche meinen immer noch, dass „die Internationalen“, die Schutztruppen SFOR in Bosnien und KFOR im Kosovo, alles schon richten.

„Let’s things make better“, verkünden Werbeplakate von Philips überall in Sarajevo. Doch die meisten jungen Menschen wollen weg aus ihrem Land. Wieder nach Deutschland etwa, wo sie während des Krieges gelebt haben. So wie der bosnische Koch, der im bayerischen Oberstdorf arbeitet. Wir treffen ihn im Bus in Sarajevo, wo er gerade seine Familie besucht. Er ist überrascht, was zwei Deutsche in sein Land treibt: „Hier gibt es doch nichts, ist alles kaputt!“ Er sieht keine Chance, in Bosnien Arbeit zu finden. In ländlichen Gebieten ist eine Arbeitslosenquote von mehr als 50 Prozent keine Seltenheit.

Im Kosovo, der zweiten Station unserer Reise, sind die Ethnien noch weiter voneinander entfernt. Im kleinen Ort Orahovac hat SHL ein Jugendzentrum aufgebaut, aber bislang laufen die Programme getrennt: Albaner und Serben haben auch fast drei Jahre nach dem Krieg praktisch keinen Kontakt.

Im Jugendzentrum bietet SHL Computer-, Kunst- und Englischkurse an – um das auszugleichen, was die Schule an Bildung nicht leisten kann. Die Jugendlichen können im Internet surfen oder sich mit Brettspielen die Zeit vertreiben. Gerade im Winter füllt sich das Haus noch mehr – denn hier funktioniert die Heizung auch, wenn im Rest der Kleinstadt mal wieder der Strom ausfällt. Arbeitsplätze gibt es in der Gegend fast nur von den „Internationalen“, es sei denn, man kann sich ein eigenes kleines Geschäft aufbauen. Die meisten Familien leben von der Unterstützung durch Verwandte aus dem Ausland.

Zusammen mit einer der beiden SHL-Freiwilligen im Kosovo und einem Übersetzer besuchen wir das Gymnasium in einem nahe gelegenen Dorf. Wir wollen eine Umfrage zu unserem Jugendzentrum machen. Die Langeweile scheint groß. Der Schulhof ist überfüllt von Schülern, die im Regen darauf warten, dass die Pause zu Ende geht. Ein Lehrer kommt mit einer Glocke nach draußen und läutet zum Beginn der Stunde – Bilder aus einer vergangenen Zeit. Über eine aufgerissene Wasserleitung steigen wir ins Hauptgebäude. An der Wand ist Holz zum Heizen aufgestapelt, im Lehrerzimmer wird Tee auf einem Ofen gekocht. Über einem Schrank hängt noch ein Plakat der albanischen Befreiungsarmee UCK.

Die Fensterscheiben der Schule sind zersplittert, überall an der Fassade finden sich Einschusslöcher. Neben zerbombten Silos und gesprengten Brücken ein deutliches Zeichen für die erbitterten Kämpfe, nicht zuletzt auch für die NATO-Luftangriffe. Inzwischen ist die internationale Schutztruppe der Puffer zwischen Serben und Albanern. Immer wieder treffen wir auf unseren Spaziergängen durch Orahovac auf Kontrollpunkte der deutschen KFOR-Soldaden, von Sandsäcken abgeschirmt.

Am nächsten Abend haben wir Gelegenheit, mit zwei Soldaten selbst zu sprechen. Als wir in der einzigen Kneipe des serbischen Viertels sitzen, kommt eine KFOR-Patrouille herein. Beide in voller Montur, mit schusssicherer Weste und geladenen Waffen. Das erste Mal in meinem Leben hält jemand eine Waffe so, dass mir der Lauf übers Knie kratzt. Mein serbischer Tischnachbar erklärt mir auf Englisch, dass er sich sicher fühlt, wenn KFOR-Soldaten in der Nähe sind. Doch zu meiner Beruhigung tragen geladene Waffen nicht bei.

Die Soldaten sind erstaunt, dass wir uns trauen, ohne Schutz im Krisengebiet umherzulaufen. Warum sollte uns etwas passieren? Schließlich sind wir doch hier, um zu helfen. – So unterschiedlich kann man die Situation in einem Krisengebiet erleben.

Eine Weihnachtsgeschichte
Die Geschichte von „Schüler Helfen Leben“ (SHL) beginnt Weihnachten 1992 im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach. Ein kroatischer Geschäftsmann erzählt Jugendlichen vom Bürgerkrieg in seiner Heimat – und die starten in den Weihnachtsferien mit Privatwagen zum ersten Hilfstransport.
Die Idee zieht Kreise, nach einem halben Jahr sind knapp 1,5 Millionen Mark Spenden gesammelt. 1998 organisiert „Schüler Helfen Leben“ in Schleswig-Holstein erstmals einen „Sozialen Tag“: Jugendliche bekommen schulfrei und suchen sich für diesen Tag einen Job; der „Lohn“ geht an die Jugendprojekte von SHL auf dem Balkan. An der jüngsten Aktion im vergangenen Juni beteiligten sich mehr als 200.000 Schüler in Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Berlin. Dadurch kamen mehr als 3,6 Millionen Euro zusammen. SHL erhielt dieses Jahr den Westfälischen Friedenspreis – gemeinsam mit der Chefanklägerin des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, Carla Del Ponte.

Die Zerreißprobe

Kranker Junge und seine Familie sollen abgeschoben werden

(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 2002)

Seit zehn Jahren lebt eine jugoslawische Familie in Hamburg. Der 14-jährige Sohn wird hier medizinisch behandelt. Doch seine Geschwister und Eltern sollen abgeschoben werden.

Er hat seinen besten Anzug für sie gewählt. Früh ist Jozo Adamovic* aufgestanden, um eine der ersten Wartenummern auf der Ausländerbehörde zu ziehen. Drei Stunden sind seitdem vergangen.

Unruhig geht der 36-Jährige durch den Raum, in dem rund 100 Flüchtlinge sitzen. Immer wieder sucht er mit den Augen die Leuchtanzeige an der Wand, die das Ende des quälenden Wartens verkünden soll. Der Mann riecht nach Angst. Vor vier Wochen ist er zuletzt auf dem Amt gewesen. Bisher habe noch kein Flüchtling aus Jugoslawien Asyl bekommen, habe ein Sachbearbeiter ihm da mitgeteilt. „Wir versuchen es. Ich will nicht, dass mein Kind in ein paar Monaten stirbt“, hat der Vater geantwortet. Er werde sowieso abgeschoben, habe sein Gegenüber gesagt. Da solle er besser gleich ausreisen, freiwillig. Die Winter seien kalt in Montenegro…

Sohn Christoph* ist krank. „Eine therapeutisch sehr schwer einzustellende Epilepsie“, so die Ärzte, hat sich des 14-Jährigen bemächtigt. Fünf Jahre ist das her, einen ganzen Koffer füllen die Atteste der Mediziner inzwischen. Wenn Jozo Adamovic in der Flüchtlingsunterkunft sitzt und ihn das Gefühl der Ohnmacht übermannt, zieht er den Koffer aus der Zimmerecke hervor, wühlt aufgeregt im Zettelwust und wedelt mit den Papieren. Ruft: „Hier steht es!“ oder „Hier, lesen Sie!“, als suche er den letzten Beweis dafür, dass er im Recht ist. Seine Frau sitzt auf der Wäschetruhe und schweigt. Ab und zu stößt sie einen Seufzer aus.

Lange hat es gedauert, bis die Ärzte die Krankheit in den Griff bekamen. Mit Schrecken erinnert sich der Vater an die Zeiten, wo er Nacht für Nacht neben seinem Sohn wachte, aus Angst vor dem nächsten Anfall. Nun haben die Neurologen endlich ein wirksames Mittel gefunden, und Adamovic sagt: „Hier können wir mit der Krankheit kämpfen, das ist schwer genug. Aber dort…“

Dort, im 2000 Kilometer entfernten Montenegro, herrschen Armut und Arbeitslosigkeit. Wenn Jozo Adamovic mit den wenigen Verwandten dort telefoniert, raten sie ihm: „Bleib, wo du bist!“ Neulich erzählte der Schwager vom Leben in der Krisenregion. Er hat Arbeit, als Müllmann. Zur Schule könne er seine Kinder dennoch nicht schicken. Das Geld reiche kaum fürs tägliche Brot. Da hat Adamovic sich gefragt: „Der Mann arbeitet und hat gesunde Kinder. Wie soll ich das machen, ohne Arbeit und mit einem kranken Kind?“

Gibt es in Montenegro das Medikament, das Christoph braucht? Gibt es erfahrene Ärzte und Kliniken? Und gibt es das auch für Heimkehrer, die keinen Cent in der Tasche haben? Die deutsche Botschaft hat der Ausländerbehörde mitgeteilt: Kein Problem, ein vergleichbares Medikament ist erhältlich. Doch hilft es Christoph genauso gut? Und vor allem: Wird sein Vater es besorgen können? „Offiziell ist die medizinische Behandlung kostenlos in Montenegro. Faktisch nicht“, sagt Anne Harms von der Beratungsstelle Fluchtpunkt. „Eine aufwändige Behandlung wird dort zur Geldfrage.“

Genau das aber ist die Therapie von Christoph: aufwändig. Regelmäßig muss er untersucht werden und auch mal ins Krankenhaus. „Ein Absetzen oder auch eine kurzfristige Unterbrechung dieser Therapie würde größte Risiken bis hin zu einem lebensbedrohlichen Status epilepticus mit sich bringen“, warnen seine Ärzte und schreiben: „Zu telefonischer Rücksprache und weiteren Auskünften sind wir wie mehrfach mitgeteilt gerne bereit.“ Die Behörde rief nie an.

Humanitäres Bleiberecht“ für seine Mandanten fordert Rechtsanwalt Georg Debler. Doch so etwas gibt es in Deutschland nicht. Der Anwalt weiß: „Juristisch hängen wir an einem dünnen Faden.“ Seit Monaten streitet Debler mit der Ausländerbehörde, einmal hat er die Abschiebung der vier gesunden Familienmitglieder in allerletzter Sekunde verhindern können – der kranke Christoph wäre allein in Hamburg geblieben. Nun hat der Anwalt Abschiebeschutz beantragt. Doch die Chancen für die Familie stehen schlecht: „Ich bin leider ganz pessimistisch.“

1992 ist die Familie nach Deutschland geflohen. Auf dem Balkan breiteten sich die Kriege aus, der Vater fürchtete, die Armee könne ihn einziehen. Die Adamovics beantragten Asyl und bekamen eine Duldung – bis heute. Seit gut zehn Jahren leben sie in der neuen Heimat. Die Kinder sind hier groß geworden, der Jüngste ist hier geboren.

Ein Flüchtling torkelt alkoholisiert zu den Eisengittern, die die Sachbearbeiter vor den Wartenden schützen sollen. Dem Mann steht offensichtlich die Abschiebung bevor, seine Habseligkeiten hat er in einen großen Koffer gepackt. „Muss ich heute fliegen oder nicht?“, ruft er dem Uniformierten zu, der die Metalldrehtür bewacht. Der zuckt mit den Achseln. „Du musst warten!“

Die Adamovics haben an diesem Tag Glück im Unglück: Sie geraten an einen freundlichen Sachbearbeiter. Es habe so lange gedauert, weil er mit dem Bundesamt telefonieren musste, entschuldigt sich der Beamte für die dreistündige Wartezeit. Dann schenkt er der Familie zwei weitere Monate Deutschland. So lange werde es dauern, bis das Bundesamt über den Antrag des Anwalts entscheidet.

Später redet Jozo Adamovic wieder gegen die Angst an. In langen, schwer verständlichen Kaskaden schüttelt die Verzweiflung die immer gleichen Sätze aus dem Mann, bis er müde in sich zusammensackt. Er schweigt kurz, die Muskeln spannen sich, dann ringt er erneut mit der Hilflosigkeit. „Was haben wir getan?“, fragt er. Ich schweige. „Was soll aus meinem Sohn werden, wenn wir abgeschoben werden?“ Ich blicke zu Boden. „Sagen Sie mir: Was kann ich noch tun?“ Ich spanne die Muskeln an. „Manchmal liegen wir nachts stundenlang wach. Wir können einfach nicht mehr schlafen…“ Ich nicke wortlos.

Der Traum des Jozo Adamovic ist so klein wie menschlich. Er will nur eins: ein normales Leben. Und die Chance, dass sein Sohn überlebt.

Ulrich Jonas

* Name geändert

Offiziell leben in Hamburg rund 15.000 Menschen mit dem rechtlich unsicheren Status einer Duldung. In den ersten neun Monaten 2001 zählte die Ausländerbehörde 1361 „Rückfüh-rungen“. Bis zum 30. September dieses Jahres waren es schon 2197.

Rat statt Räumung

(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 2002)

Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt wieder. Auch für Hamburg sehen die Prognosen düster aus: Immer häufiger fliegen säumige Mieter raus. Doch hinter der schlechten Zahlungsmoral steckt meist ein Mensch, der Hilfe braucht.

Heinrich Stüven stöhnt. „40 Millionen Euro Miete haben Vermieter allein in diesem Jahr eingebüßt“, sagt der Geschäftsführer des Hamburger Grundeigentümer-Verbandes. „Und die Zahl der Räumungsklagen ist in den vergangenen zwei Jahren dramatisch gestiegen.“ Wurden im Jahr 2000 noch 6751 Räumungsklagen wegen Mietrückständen eingereicht, rechnet er für das Jahr 2002 mit bis zu 9000 Fällen. Bei einem Großteil verhindert der Auszug des Mieters oder die Zahlung der Mietrückstände zwar, dass die Wohnung am Ende tatsächlich geräumt werden muss – im Jahr 2000 wurden die Gerichtsvollzieher „nur“ 3074 Mal tätig. Trotzdem ist der Schaden für den Vermieter immens.

Stüven rechnet vor: Neben der entgangenen Mieteinnahme muss der Vermieter für das Gerichtsverfahren zahlen (bis zu 6000 Euro). Hinzu kommen die Kosten für Zwangsvollstreckung, Leerstand und Wiedervermietung – insgesamt mindestens 10.000 Euro. Und: „Bei der Räumung finden wir häufig eine verlassene Wohnung in einem völlig verwahrlosten Zustand vor.“ Die Renovierungskosten kommen also noch obendrauf.

„Die Leute werden immer gleichgültiger gegenüber Eigentum“, sagt Stüven. Vor allem jüngere Menschen zwischen 20 und 40 Jahren würden ihre Mieten nicht bezahlen. „Dabei“, meint der 53-Jährige, „hat doch diese Generation nicht die Hemmungen vieler alter Leute, sich vom Sozialamt Hilfe zu holen.“

Peter Schröder-Reinecke vom Diakonischen Werk Hamburg sieht das differenzierter: „Wir erleben oft, dass Menschen lethargisch sind, wenn sie zu viele Probleme haben. Am Ende öffnen die Leute auch ihre Post nicht mehr“, sagt der für Wohnungslose Zuständige. Er befürchtet, dass künftig noch mehr Menschen ihre Mieten nicht zahlen können. „Die Einkommen sinken, die Arbeitslosigkeit verfestigt sich, aber bezahlbarer Wohnraum ist in Hamburg so gut wie nicht mehr vorhanden.“

Schon meldet die Evangelische Obdachlosenhilfe, dass erstmals seit Jahren die Zahl der Wohnungslosen wieder steigt – in Ballungsgebieten um 30 bis 50 Prozent. Doch hat ein Mensch seine Wohnung erst mal verloren, droht der weitere soziale Abstieg.

Eigentlich sollen in Hamburg die Bezirksstellen zur Wohnungssicherung Menschen davor bewahren, wegen Mietschulden aus ihren Wohnungen geklagt zu werden. „Meistens bekommen die von einem Problemfall aber erst mit, wenn der Richter schon die Räumung anberaumt hat“, so Schröder-Reinecke. Dem Vermieter sind zu diesem Zeitpunkt schon enorme Kosten entstanden. Doch selbst wenn die Bezirksstellen früher auf einen säumigen Mieter aufmerksam würden: Wegen Personalmangel werden die Betroffenen meist nicht aufgesucht, sondern schriftlich über das Hilfsangebot informiert. Wer seine Post nicht mehr öffnet, wird also nicht erreicht.

Dass rechtzeitige und regelmäßige Hausbesuche aber der Schlüssel zum Problem sein könnten, beweisen die Ambulanten Dienste der Berliner „Gemeinnützigen Gesellschaft zur Betreuung Wohnungsloser und sozial Schwacher“ (GeBeWo). Dahinter verbirgt sich ein Kooperationsprojekt im Berliner Bezirk Pankow, von dem die Beteiligten auch wirtschaftlich profitieren: das Sozialamt, die Wohnungsbaugesellschaft GESOBAU und die GeBeWo, die die Interessen der Mieter vertritt.

Die Partnerschaft basiert auf folgenden Regeln: Hat sich ein Mieter verschuldet, reicht der Vermieter nach Kündigung der Wohnung keine Klage ein, sondern beauftragt die Ambulanten Dienste. Deren Sozialarbeiter besuchen den säumigen Mieter umgehend in der Wohnung. Sofern der Betroffene kooperieren will, erarbeiten sie ein Konzept zur Schuldenregulierung und nehmen Kontakt zum Sozialamt auf. Das Sozialamt wiederum übernimmt die Mietschulden und leistet weitere Unterstützung. Der Vermieter kommt für die ersten zehn Betreuungsstunden der Sozialarbeiter auf. Dafür erhält er nach spätestens sechs Wochen Bescheid, ob die Schuldenregulierung erfolgreich war. Falls ja, verpflichtet er sich zur Weitervermietung. Wenn nein, reicht der Vermieter die Räumungsklage ein.

Allein im Jahr 2001 konnte die GeBeWo 47 von 63 Mietern vor der Wohnungslosigkeit bewahren. Dadurch sparte die GESOBAU rund 300.000 Euro, da die Kosten für Leerstand entfielen und Räumungsklagen verhindert wurden. Das Sozialamt spart, weil sich der Vermieter an den Kosten für die Sozialarbeiter beteiligt, weil die Unterbringung in Notunterkünften (rund 3600 Euro jährlich pro Fall, ohne Betreuung) entfällt und keine Folgekosten durch den weiteren sozialen Abstieg Wohnungsloser entstehen.

„Fast alle Mieter sind unheimlich erleichtert, wenn wir kommen und ihnen einen Ausweg aus der Notlage zeigen“, sagt GeBeWo-Geschäftsführer Robert Veltmann. Wenn es sein muss, begleiten die Ambulanten Dienste den Hilfesuchenden während eines gesamten Jahres. „Wir wollen, dass die Mieter ihre Lebenskrise dauerhaft überwinden“, so Veltmann. In 90 Prozent der Fälle im Jahr 2001 sei das gelungen.

Die Hamburger Sozialbehörde will auf die Defizite der Bezirksstellen reagieren. Sie plant, in der Hansestadt das so genannte Kölner Modell einzuführen. Es sieht Fachstellen zur Wohnungssicherung vor, in denen die Kompetenzen von Wohnungsamt, Sozialamt und Ordnungsamt gebündelt sind. „Hilfe aus einer Hand“ lautet das Motto, mit dem unter anderem Mietschuldner vor Wohnungslosigkeit bewahrt werden sollen. Auch die so genannte „aufsuchende Beratung“ ist Teil des Konzepts.

Ein bewährtes Modell, finden auch die Hamburger Diakonie und Hinz & Kunzt. Doch der Teufel steckt wie immer im Detail: Es funktioniert offenbar nur, wenn der Vermieter schnell über säumige Zahler informiert und genug Personal vorhanden ist, das die Betroffenen aufsucht, ihre Probleme erkennen und bei der Lösung helfen kann. „Manche Mieter verschulden sich sonst immer wieder. Dieser Drehtüreffekt muss aufhören“, sagt Andreas Pitz vom Diakonischen Werk Mainz. Seit Januar 2000 ist das Modell dort etabliert, aber noch immer warten die Fachstellen zu oft darauf, dass Mieter von selbst aktiv werden.

Gute Tipps für die Hamburger Sozialbehörde, die voraussichtlich in diesem Monat ihr Grobkonzept dem Senat vorlegen will. In der zweiten Hälfte des kommenden Jahres sollen die Fachstellen ihre Arbeit aufnehmen, so ein Behördensprecher.

Heinrich Stüven vom Grundeigentümer-Verband fordert unterdessen, Räumungsverfahren zu beschleunigen. „Die dauern mindestens ein Jahr – und das ist zu lang“, so Stüven. Aber er fügt hinzu: „Wir wären die letzten, die sich einem Kooperationsmodell gegenüber verschließen würden. Wir würden uns auch an den Kosten beteiligen.

Annette Bitter

Die neue Hinz&Kunzt ist da

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Ab heute gibt es auf Hamburgs Straßen und Plätzen die Hinz&Kunzt-Maiausgabe.

Diesmal auf dem Titel: Große Freiheit – Punker Tsecke lebt mit seinen Freunden unter der Brücke auf St. Pauli. Wie lange noch?

„Ich kämpfe für euch“

(aus Hinz&Kunzt 182/April 2008)

Die Hamburgerin Susianna Kentikian boxt für das Land, das sie jahrelang ausweisen wollte. Nun kann die Doppel-Weltmeisterin Deutschlands neue Box-Königin werden

Sie ist in einem Meer kreischender Teenies verschwunden. Nicht einmal eine Locke ihres hoch gekämmten Haares taucht in dem Pulk vor dem Bürgerhaus Wilhelmsburg auf. Die 20-Jährige geht unter zwischen den 12- bis 14-jährigen Jungs und Mädchen, die ein Autogramm von ihr wollen. Nur ihr ehemaliger Boxtrainer Frank Rieth ragt heraus. Er hält seine Arme schützend vor die Boxerin, seit sie den Saal verließen.

Im Ring mit Susi Kentikian

„Super! Es war so toll.“ Hinz&Künztler Uwe kriegt sich gar nicht ein. War ja auch eine tolle Aktion: Denn Uwe durfte mit Boxweltmeisterin Susianna Kentikian in den Ring steigen.

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