Schafe, Seebären, 1000 Steine

Die drei ungewöhnlichsten Dienststellen für Zividienst und das Freiwillige Soziale Jahr

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Es ist heiß an Bord, wahnsinnig heiß. Der Boden in dem kleinen, in gelb und braun gehaltenen Raucherzimmer scheint leicht schräg zu sein. An der Wand hängt eine vergilbte Weltkarte. Die Sowjetunion ist zu sehen, Deutschland ist noch geteilt. Die umlaufenden, mit khakifarbenem Stoff überzogenen Couchen sind durchgesessen. Auf dem niedrigen Tisch liegt ein abgegriffenes Backgammon-Spiel. Annika Kämling zeigt den vereinzelt hereinkommenden russischen Seeleuten eine Broschüre vom Hamburger Seemannsclub „Duckdalben“ und beantwortet geduldig die in schlechtem Englisch vorgetragenen Fragen.

Es ist ihr erster Schiffsbesuch an diesem Tag. Der etwas schäbig aussehende russische Öltanker hatte gleich ihre Neugier geweckt. Ob man im Seemannsclub Telefonkarten kaufen könne oder wie dort der Wechselkurs des Dollars sei, fragen die Matrosen. Einer bietet an, uns das Schiff zu zeigen. Unsere Fotografin Sonja und ich folgen gespannt. Mehr als eine halbe Stunde später, nachdem wir – kindlich begeistert – durch die Kombüse und den Maschinenraum bis hoch zur Brücke geführt worden sind, kommen schließlich fünf Seeleute mit in den Kleinbus, der uns zum „Duckdalben“ bringt.

Die persönliche Entscheidung für den Zivildienst und ganz besonders für ein Freiwilliges Soziales oder Ökologisches Jahr hängt stark von der Attraktivität der Dienststelle ab. Wirklich ungewöhnliche, fast schon exotische Dienststellen sind selbst in Hamburg schwer zu finden. Aber es gibt sie.

Annika hat die Entscheidung, beim „International Seamen’s Club Duckdalben“ ihr Soziales Jahr zu machen, nicht bereut. Im Gegenteil: „Ich würde am liebsten mein ganzes Leben dort arbeiten“, sagt das Mädchen mit den roten Haaren voller Überzeugung. Seeleute aller Nationen, vor allem Filipinos, Chinesen, Inder und Ägypter, nutzen die kurze Zeit ihres Hafenaufenthalts, um im Seemannsclub zu entspannen.

Die Besucher erwartet ein breit gefächertes Angebot an Freizeitmöglichkeiten: vom obligatorischen Clubraum mit Bier- und Kaffeetresen über Tischtennis, Billard und Kicker, Möglichkeiten zum weltweiten Telefonieren bis hin zur internationalen Bibliothek und einem multireligiösen Andachtsraum ist fast alles dabei. Das Schönste an ihrer Arbeit sei, sagt Annika, sich mit so vielen unterschiedlichen Menschen austauschen zu können und die unterschiedlichen Meinungen über das Leben mitzubekommen. Vier Heiratsanträge von gestandenen Seebären hat die 20-Jährige auch schon erhalten: „Aber die fahren in den nächsten Hafen und erzählen dem erstbesten Mädchen das gleiche.“

Szenenwechsel. Johannes Schley steht mit einem Eimer voll Futter mitten auf einer grünen Wiese. Umringt von Dörthe, Mollie und Maxi. Insgesamt sind es acht Schafe, präzise gesagt acht rauwollige Pommersche Landschafe, die sich noch etwas scheu um ihre morgendliche Essensration drängeln. Johannes wollte seinen Zivildienst auf jeden Fall draußen verbringen. Die wenigen Zivildienststellen im Umweltschutz waren bereits vergeben, und so entschied er sich für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) beim Umweltzentrum Karlshöhe. Zu seinen Schützlingen gehören neben den Schafen noch zwei Ziegen, 17 Hühner und zwei Gänse. Im März kommen dann noch ein paar Lämmer dazu, wahrscheinlich sechs. „Und die Ziege ist auch schon ganz eckig“, zeigt Johannes.

Man müsse sich dreckig machen können, dürfe keine Angst vor Tieren haben, gerne mit Kindern arbeiten und eine Vorliebe fürs Handwerkliche haben. Dies sind die wichtigsten Voraussetzungen für seine Arbeit, meint Johannes. Im Sommer macht er pro Woche drei bis vier Führungen für Kinder. „Das sind immer mehr als 20 kleine Männchen. Auf die muss man gut eingehen können“, sagt er. Kardieren, Filzen, Weben, Spinnen und Färben der eigenen Schafswolle sind typische Beschäftigungen, die der FÖJler zusammen mit Schulklassen macht. Sich selbst hat er bereits einen stilechten Schäferhut gefilzt. Bis zum Ende seiner Dienstzeit will er eine komplette Schäfergarderobe für sich geschneidert haben.

Zurück in die Stadt. Erst nachts um 1.30 Uhr Feierabend zu haben, ist für Sasha Hoferichter nichts Ungewöhnliches. Den Freitagabend verbringt er meist auf Rockkonzerten, bei Breakdance-Acts oder Hip-Hop-Jams – und das beruflich. Sasha ist Zivildienstleistender beim Jugendmusikzentrum „Trockendock“, das zum Verein „Lass 1000 Steine rollen!“ gehört. Wir finden Sasha hinterm Tresen des hauseigenen Cafés. An der Wand hängt unübersehbar der Hinweis, dass kein Alkohol ausgeschenkt wird. „Rock statt Drogen“ ist das Motto von „Lass tausend Steine rollen!“, und der Erfolg des Projekts zeigt, dass sich junge Leute durchaus darauf einlassen. Das Trockendock bietet den 15- bis 25-jährigen Besuchern neben den regelmäßigen Veranstaltungen Übungsräume für Bands, günstigen Unterricht an diversen Instrumenten und offene Angebote wie DJ-Training oder Freestyle-Rap.

Für Sasha, der selber Gitarre spielt, ist die Zivi-Stelle ein Glücksgriff. Durch den Austausch mit den jungen Musikern und – in seiner Freizeit – die Beteiligung in den unterschiedlichsten Bands entwickele er sich musikalisch ständig fort. „Ich spiele jetzt auch Schlagzeug in einer Band“, erzählt er begeistert, „und das bringt einen natürlich voran, wenn man mal was ganz anderes macht.“ Gerade habe er auch bei einer Reggae-Formation mitgespielt und damit in ein Genre hineingeschnuppert, das ihm vorher unbekannt war.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass man sich auf höchst unterschiedliche Art sozial engagieren kann. Eins haben die drei Stellen dennoch gemeinsam: Sie brauchen alle noch einen Nachfolger. Schade, dass man nicht gleich alle drei nacheinander machen kann…

Jan-Malte Ambs

Smudos Unterbewusstsein

Ein Interview mit dem Rapper der Fantastischen Vier

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Smudo, eigentlich Michael B. Schmidt, wird in diesem Monat 35. Der Rapper von den Fantastischen Vier sprach mit uns über Freiheit, kreative Brunnen und darüber, warum er mit Politik eigentlich nichts zu tun haben möchte.

Hinz&Kunzt: Für uns ist Musik ein wichtiger Teil der persönlichen Freiheit. Du hast dich für den Beruf Musiker entschieden. Ist es wirklich so, dass du bei deiner Arbeit ein Freiheitsgefühl auslebst, oder ist Musik für dich ein alltäglicher Job geworden?

Smudo: Nicht das Musik machen ist Freiheit. Freiheit ist, zu machen, was einem gefällt und davon leben zu können. Vielleicht ist Kunst für viele ein Symbol für Freiheit. Ich empfinde es nicht mehr so: Was als Hobby angefangen hat, ist zu meinem Beruf geworden. Wie alles, was von der Exotik zur Routine wird, ist auch das Musikerdasein irgendwann entmystifiziert.

H&K: Fällt es dir schwer, immer noch regelmäßig kreativ zu sein?

Smudo: Also, das ist ein total kompliziertes Thema. Der Mensch ist zunächst einmal von Natur aus kreativ. Schließlich sind wir die Affen, die irgendwann mal die zwei Kisten übereinander gestellt haben, um die Banane zu pflücken. Wenn es zum Beispiel darum geht, sich Gründe auszudenken, warum man dieses oder jenes gerade nicht mit seiner Freundin besprechen möchte, dann ist das auch eine Form von Kreativität. Der Unterschied ist, dass ein Künstler seine Kreativität gezielt irgendwo hinbaut, was eine gewisse Disziplin erfordert. Ich brauche heute allerdings mehr Disziplin als früher, behascht im Jugendzimmer. Da war das Pflichtleben die Schule, und die Kreativität war Rebellion und Freiheit. Jetzt ist es genau andersherum. Heute muss ich mich dazu zwingen, jeden Tag einige Stunden lang irgendetwas zu schreiben, egal was.

H&K:Aber hat man nicht irgendwann das Gefühl, alles schon einmal gesagt zu haben?

Smudo: Nein. Dadurch, dass man älter wird und immer noch ständig neue Erfahrungen macht, bekommt man immer neue Ideen. Innerhalb der Band haben sich darüber hinaus die Beziehungen nivelliert, jeder lebt sein eigenes Leben. Was auch ein Motor für neue Impulse ist.

H&K: Woher nehmt Ihr in der Band außerdem eure Inspiration?

Smudo: Ich finde das Bild schön, wenn man sagt, man hat einen kreativen Brunnen, aus dem man eimerweise Ideen schöpft. Dieser Brunnen muss gezielt gefüllt werden. Da gehen wir als Band mittlerweile sehr professionell vor. Jeder von uns bringt seine eigene Musik, Bücher und Filme mit. So etwas bringt viel aus dem Unterbewusstsein hervor.

H&K:Wenn Ihr so sehr auf das Unterbewusstsein setzt, wie kommt dann eine bewusste Message in eure Musik?

Smudo: Es ist wichtig, dass mein Gefühl mit der Musik zusammenpasst und dadurch hörbar wird. Die Message steht für mich dabei eher im Hintergrund. Bei MFG („Mit freundlichen Grüßen“ – Erfolgssingle aus dem Album 4:99) war es zum Beispiel so, dass wir uns erst im Nachhinein überlegt haben, welche Aussage der Song haben könnte. Wichtiger für mich ist, dass die Songs in Gemeinsamkeit entstehen, damit der Soul in der Musik stimmt.

H&K: Ihr arbeitet gerade an einem Album, das voraussichtlich Ende dieses Jahres erscheinen wird. Wie wird es deiner Meinung nach ankommen?

Smudo: Egal wie das Album aussieht – nur wenn du mindestens eine Single drauf hast, die signalisiert, da kommt was Neues, kann es ein Erfolg werden. Wenn es bei uns diesmal nicht so gut läuft, dann verkaufen wir 100.000, und wenn es gut läuft, werden es 300.000. Mit mehr ist nicht zu rechnen. Die Zeiten sind hart.

H&K: Woran liegt das?

Smudo: Es gibt immer mehr Leute, die Musik nur als Hintergrundberieselung in Anspruch nehmen und denen Radio und Fernsehen ausreichen. Wer sich darüber hinaus interessiert, zieht sich Songs aus dem Internet oder hat einen CD-Brenner. Der moralische Wert der Musik ist stark gesunken, und keiner kauft mehr Platten. Die Tonträgerindustrie lässt sich meiner Meinung nach nicht mehr retten, worunter vor allem die Künstler leiden, denen die Einnahmen bald nicht mehr zum Leben reichen.

H&K:Kommerziell gesehen ist Hip-Hop weit weniger hip als noch vor einiger Zeit. Es scheint keine neuen Impulse mehr zu geben. Wie sieht die Zukunft der Rapmusik aus?

Smudo: Dadurch, dass Rapmusik sich gut mit anderen Stilrichtungen kreuzen lässt, wird sie eine relativ hohe Überlebenschance behalten. Deutscher Hip-Hop speziell dreht sich allerdings im Moment sehr im Kreis. Ich habe zurzeit nichts auf der Uhr, was ich für unser Label Four Music gerne signen würde. Entweder es ist langweilig oder es ist zu speziell, um es vermarkten zu können. Aber ich glaube an Zyklen. Deutsche Musik ist nicht tot, sie ist nur gerade nicht populär.

H&K: Bei der letzten Bundestagswahl hast du dich für Rot-Grün eingesetzt. Hast du vor, dich auch in Zukunft politisch zu engagieren?

Smudo: Nee, ich bin sogar der Meinung, die Fantas sollten nichts mit Politik zu tun haben.

H&K: Warum nicht?

Smudo:Weil wir keine politische Band sind. Wir sind zwar politische Menschen und haben jeder unsere eigene Meinung, aber wenn unsere Musik in einen politischen Kontext gestellt wird, sehe ich unsere künstlerische Freiheit gefährdet. Politik ist mir zu schlammschlachtig, damit will ich nichts zu tun haben. Ich möchte nicht auf eine politische Aussage festgenagelt werden, die ich mal in der Öffentlichkeit zu einem bestimmten Thema gemacht habe, in dem ich eventuell gar nicht kompetent bin. Die Leute sollen mich nach meiner Musik beurteilen und nicht nach meiner politischen Meinung.

H&K: Warum hast du dich dann für Rot-Grün engagiert?

Smudo:Bei der Wahl bin ich über meinen Schatten gesprungen, weil mir die Kombination Stoiber – Beckstein so brutal Angst gemacht hat. Sie stehen für ein überholtes Gesellschaftsbild, das schwarze, asiatisch und südländisch aussehende Menschen nicht selbstverständlich als Deutsche akzeptiert. Ich habe in meinem Bekanntenkreis viele, die dadurch regelmäßig Probleme haben. Meiner Freundin, die schwarze Deutsche ist, wird an der Kasse im Supermarkt oft nicht geglaubt, dass die EC-Karte wirklich ihr gehört. Da wird grundsätzlich angenommen: Die bescheißen mich doch, die Bimbos. Das ist Rassismus! Und ich denke, dass vor allem die Grünen da für eine moderne, offene Politik stehen.

H&K: Du hast mit den Fantas bereits sehr viel Erfolg gehabt. Wird es so weitergehen oder kommt demnächst ein bürgerliches Leben?

Smudo: Das Thema sitzt einem natürlich im Nacken. Andererseits ist Hip-Hop noch zu jung, als dass man Beispiele dafür hätte, wie sich ein alter Rapper verhalten sollte. Wir werden sehen, wie es sich anfühlt, mit dem neuen Album auf Tour zu sein, und das wird darüber entscheiden, wie es weitergeht. Wenn es gut läuft, machen wir weiter, wenn nicht, dann haben wir natürlich auch unser Label, an dem wir noch einige Jahre arbeiten können. Ansonsten schreibe ich gerade an einem Drehbuch – das ist aber bisher ein ungelegtes Ei. Langfristigere Planungen gibt es noch nicht.

Interview: Marco Kasang, Neil Huggett und Philipp Ratfisch

Apfel ist nicht gleich Apfel

Von wegen Chancengleichheit: In der Vorschule zeigt sich, wer zu Hause gefördert wird

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Ein Apfel ist rund, fast wie ein Kreis. Er ist rot, manchmal auch etwas grün und gelb, und er hat einen Stiel. Das weiß auch Isabel. Schließlich ist sie sechs Jahre alt und hat schon oft einen Apfel in der Hand gehabt. Sie nimmt ihre Stifte aus der Ablage unter ihrem Tisch und betrachtet etwas hilflos und skeptisch das vor ihr liegende Arbeitsblatt. Es ist neun Uhr morgens, ein ganz gewöhnlicher Tag in einer Vorschule mit ganz ganz gewöhnlichen Kindern, in einem privilegierten Stadtteil Hamburgs.

Ein Blick zum Nachbarn hilft Isabel auf die Sprünge: Konzentriert verbindet sie die eng zusammenstehenden Punkte miteinander. Die Verbindungslinie wird etwas krumm und schief. Aber nach einem prüfenden Blick sieht Isabel recht zufrieden aus. Als sie fertig ist, staunt Isabel nicht schlecht: Die zittrigen Umrisse eines Apfels liegen vor ihr. Ganz erfreut über das Ergebnis beginnt sie mit dem Ausmalen. Ein bisschen Rosa hierhin, dann noch etwas Lila, und natürlich darf auch Gold auf keinen Fall fehlen. Dass am Schluss das gesamte Blatt und nicht nur der Apfel ausgemalt ist, stört Isabel überhaupt nicht.

Auch Tine macht sich an das Arbeitsblatt mit dem Apfel. Sie verbindet sorgfältig die Punkte miteinander, sodass eine gleichmäßige Kontur eines Apfels entsteht. Dann überlegt sie sich, welche Farben sie verwenden möchte und nimmt sie aus dem Kasten. Tine malt nicht über den Rand. Sie lässt rot, grün und gelb ineinander fließen und lässt einen Apfel entstehen, der fast schon plastisch wirkt.

„Schon jetzt stelle ich fest, welch ungleiche Voraussetzungen die Kinder von zu Hause mitbringen“, sagt Elisabeth Hoffmann, die seit fünf Jahren als Sozialpädagogin in Vorschulen tätig ist. „Schließlich haben die Kinder schon mindestens fünf Jahre ihres Lebens hinter sich“, sagt Hoffmann, „und je nachdem, wie die Eltern sich kümmern, ist in der Zeit schon unheimlich viel an Entwicklung gelaufen.“ Deshalb sieht die 39-jährige Vorschullehrerin es als Aufgabe der Vorschule an, Ungleichheiten entgegenzuwirken.

Bevor Hoffmann ihren Dienst in dieser Vorschule antrat, arbeitete sie ausschließlich in den sozialen Brennpunkten Hamburgs. Dass sie in einem privilegierten Stadtteil unter ganz anderen Voraussetzungen arbeiten würde, war ihr klar: In den Brennpunkten kamen Kinder ohne Frühstück in die Vorschule, „ungewaschen und verwahrlost“. Deshalb wundert es Hoffmann auch nicht, wie „ungleich die Chancen auf eine gute Entwicklung und erfolgreiche Zukunft in unserer Gesellschaft sind“. Sie konnte beobachten, wie viele Kinder schon im harten Kampf des Lebens standen: „Wenn Kinder morgens ihre Eltern wecken müssen, mit fünf Jahren alleine zur Vorschule kommen, dann bleibt kein Raum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln.“

In ihrer jetzigen Wirkungsstätte sehe das ganz anders aus, „die materiellen Grundbedürfnisse sind in diesem Stadtteil auf jeden Fall gedeckt“, beobachtet Hoffmann. Dafür fehle es in den Familien aber manchmal an Zeit und Ansprache.

Justus kommt immer sehr früh in die Vorschule. Oft sitzt er schon alleine auf den Bänken im Vorraum, lange bevor jemand da ist. Justus sieht nicht fröhlich aus. Seine Augen gucken müde zur Treppe, er wartet auf die Vorschullehrerin. Justus hat noch Straßenschuhe und seine Jacke an, denn seine Eltern hatten keine Zeit, ihm beim Ausziehen zu helfen. Vielleicht haben sie ihn nicht einmal bis in den ersten Stock gebracht, sondern unten vor dem Haupteingang verabschiedet. Eigentlich weiß Justus, dass er seine Jacke aus- und seine Hausschuhe anziehen soll, wenn er in die Vorschule kommt, aber weil er noch so müde ist, vergisst er das immer wieder. Wenn dann Elisabeth Hoffmann die Treppe heraufkommt, wartet Justus oft schon eine halbe Stunde darauf, ihr etwas erzählen zu können.

Justus’ Haare sind nicht gekämmt, und auch seine Fingernägel sind nicht geschnitten, aber das stört ihn nicht. Denn Justus hat einen Gameboy bekommen, den er stolz vorführt. „Du, Frau Hoffmann, weißt du was? Den hab’ ich von meiner Mama bekommen, und heute Mittag bekomme ich eine Angel“, erzählt Justus, denn jeden Tag darf er sich etwas Neues zum Spielen aussuchen.

Elisabeth Hoffmann glaubt, dass die Vorschule ein „Ort des Vertrauens“ sein muss. „Wenn man die Chance hat, bei Kindern etwas in Gang zu setzen, sie zu motivieren und ihnen Freude an Neuem und am Lernen zu geben, dann entsteht eine starke emotionale Bindung“, sagt Hoffmann. Kinder würden nur unbefangen an Neues herangehen können, wenn sie keine Angst davor haben müssen, Fehler zu machen.“ Sie ist überzeugt davon, dass die Vorschule benachteiligte Kinder so fördern könnte, dass sie trotz ihrer Herkunft in nichts nachstehen müssen – in kleinen Fördergruppen oder auch durch Einzelunterricht. Aber Hoffmann meint auch, dass es an personeller Ausstattung fehle, um diesem Ziel gerecht zu werden, denn es brauche vor allem Zeit, um Kinder individuell zu fördern.

„Die Vorschule bereitet auf die Grundschule vor, und deshalb ist es wichtig, den Kindern Selbstbewusstsein zu geben, damit sie Spaß am Lernen haben, ohne zum Einzelkämpfer zu werden“, erklärt sie. Das passiere erstaunlich oft in finanziell gut abgesicherten Stadtteilen. „Allerdings lassen sich Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft gegenüber anderen hier oft noch gut entwickeln“, sagt Hoffmann, die in sozialen Brennpunkten oft das Gegenteil feststellen musste.

Auch einige ausländische Kinder gehören zu Elisabeth Hoffmanns Gruppe. So wie Cham. Er ist gerade ziemlich frustriert. Er soll einen Igel ausschneiden. Seine Schere hält er in der Hand, als ob er gar nicht recht wüsste, wozu man ein solches Gerät benutzt. Vielleicht hält er sie auch nur in der falschen Hand.

Doch das mit dem Nachfragen ist nicht so einfach, denn Cham spricht kaum Deutsch. Der Fünfjährige ist das einzige Kind in dieser Vorschulklasse, das türkische Eltern hat. Zwar ist Cham in Deutschland geboren, er war vor der Vorschule aber noch nie in einem Kindergarten oder einer Spielgruppe. Seine Eltern arbeiten den ganzen Tag, und so passt seine Oma auf ihn auf, die nur türkisch mit ihm spricht.

Nach kurzer Zeit versucht Cham es mit der anderen Hand. Das Schneiden gelingt ihm schon besser. Doch es fällt ihm schwer, auf der Linie zu bleiben, denn Cham kann sich schlecht konzentrieren. Lieber schaut er, was andere Kinder machen, die an ihm vorbeilaufen.

„Der Sinn der Vorschule ist nicht darauf beschränkt, Sprachschwierigkeiten zu beseitigen“, stellt Hoffmann klar. Doch oft beschränke sich vieles darauf, „denn Sprache ist die Voraussetzung, Inhalte zu begreifen.“

„Als Mediziner, als Anwalt, als Betriebswirt: Für alles braucht man ein Diplom“, sagt Hoffmann, „nur nicht, um Kinder zu erziehen.“ Oft fasst sie sich an den Kopf, wenn sie sieht, dass viele Menschen sich scheinbar kaum Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder machen und nicht merken, wieviel Schaden dadurch schon bei kleinen Kindern angerichtet wird. „Schließlich kann sich ein Kind seine Erziehung nicht aussuchen.“

Annika Sepeur

Paten für Straßenkids

500 Hamburger helfen Strichern, ein neues Leben anzufangen

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Jugendredakteurin Annika Sepeur sprach mit dem Stricher Tom und mit Ute und Gesine Plagge, die Menschen wie Tom helfen wollen.

Eigentlich wollte er gar nicht mit mir sprechen. Es ist ihm unangenehm, und dann bin ich auch noch eine Frau. Tom (Name geändert) ist 23 Jahre alt. Er ist groß, schlank, hat braune Haare, und er geht auf den Strich.

„Ein Kumpel hat mich mal hierher gebracht“, erzählt Tom. Die mittlere Reife hat er, aber schon mit 15 ist er von Zuhause weggegangen. „Mein Stiefvater hat mich rausgeschmissen.“ Warum? Tom zuckt die Achseln. „Ich habe mich immer mit ihm gestritten, und meine Mutter stand zwischen uns.“ Er zog „zu Oma“ und danach von Pflegefamilie zu Pflegefamilie.

Toms Blick ist auf den Boden gerichtet. Er fühlt sich nicht wohl auf dem Sofa, er zündet sich eine Zigarette an. „Das war damals ’ne schwere Zeit, mit den Bewerbungen und so.“ Es gab niemanden, der ihn unterstützte. „Die Bezugsperson fehlte mir“, sagt er. Also arbeitete er nach der Schule schwarz – und ging „auch mal“ auf den Strich. „Ein Kumpel meinte, wenn man unabhängig sein und das schnelle Geld machen will, dann wäre das ’ne gute Sache.“

Ein paarmal hat Tom „das“ gemacht. „Am Anfang denkt man halt, dass man unabhängig wäre, aber später findet man raus, dass es nicht so ist.“ Jetzt geht er nur noch gelegentlich auf den Strich, wenn er dringend Geld braucht: „Nicht für Drogen. Ich hab zwar mal Heroin genommen, aber das ist vorbei. Ich gehe bestimmt nicht auf den Strich, mache da Geld klar und renn dann zum Dealer.“

Über Basis e.V. hat Tom inzwischen eine Wohnung gefunden. In die Anlaufstelle für Stricher kommt er immer noch, um sich mit den anderen Kids und den Betreuern zu unterhalten. Denn zu den Leuten, die ihm damals zu seiner „Unabhängigkeit“ geraten haben, hat er keinen Kontakt mehr. „Das ist mir alles viel zu verlogen.“

Die Wohnung bedeutet für ihn den ersten Schritt für einen Neuanfang. „Eigentlich möchte ich eine ordentliche Umgebung für meine dreijährige Tochter schaffen.“ Toms Tochter lebt bei seiner Ex-Freundin. Er sieht sie zwei- bis dreimal die Woche. Die Mutter seines Kindes weiß aber nicht, dass er in der Stricherszene war. „Am meisten Angst habe ich davor, dass sie dem Kind erzählen würde, dass es keinen Vater hat“, sagt er. Leise fügt er hinzu: „Ich habe zwei Gesichter, und ich würde gern nur eines haben. Denn das eine davon ist ziemlich falsch.“

Am liebsten würde er eine Ausbildung als Kfz-Mechaniker machen. Auf jeden Fall irgendetwas Handwerkliches. Zur Zeit arbeitet er allerdings noch schwarz im Hafen. Dass Basis e.V. mehr als 500 Paten hat, die das Projekt unterstützen, findet Tom gut. Außerdem kann er sich vorstellen, dass einige der Paten auch mal „ein beschissenes Leben“ hatten und jetzt den Jungs auf die Sprünge helfen wollen. Trotzdem möchte Tom die Spender nicht kennen lernen, „weil ich mich dann zeigen müsste. Es ist auch immer die Frage, ob einen die Leute verstehen.“

Oft hat er das Gefühl, dass andere Menschen „alles in den Hintern“ gesteckt bekommen. „Da bekomme ich dann so einen Hals, wenn ich in Bus und Bahn die Probleme höre, wie schwer das Leben doch ist und ich daran denke, wie ich kämpfen musste, nur um meinen Kopf über Wasser zu halten.“ Trotzdem oder gerade deshalb ist für ihn eins klar: „Irgendwann, wenn ich auch mal ein bisschen Geld übrig habe, möchte ich auch was spenden, denn ich kann mich wirklich in die Situation der Jungs hineinversetzen.“

Ute Plagge hat sich ganz spontan dazu entschieden, Patin zu werden. In der Kantine sah die 46-jährige Informatikerin in einem großen Datenverarbeitungsunternehmen den Informationsstand von Basis e.V. Sie dachte gleich: „Ja, das ist es!“ Lange schon hatte sich die ausgebildete Germanistin und Mutter zweier Kinder Gedanken über Straßenkinder gemacht. Und das, obwohl sie sich neben dem Job sowieso schon ehrenamtlich engagiert – im Kriseninterventionsteam vom Deutschen Roten Kreuz. Die Mitarbeiter leisten psychosoziale Hilfe, wenn Menschen einen Unfall haben oder Angehörige sich umbringen. „Ich brauche diesen Gegensatz zu meiner schicken, sauberen und teuren Datenverarbeitungswelt“, sagt Ute Plagge.

Kurz vor dem Treffen mit den Leuten von Basis e.V. hatte sie in einer Familie mit mehreren Kindern geholfen. Denen ging es so schlecht, dass „ich das Gefühl hatte, sie irgendwann am Bahnhof wiederzutreffen. Es schien mir einfach so unausweichlich, und da merkte ich, dass manche Kinder verflucht schlechte Chancen haben.“

Beim Patentreffen in der Anlaufstelle zog es sie sofort zu der Wand mit den Fotos der Jugendlichen. „Ich suchte nach den Kindern aus meinem Einsatz und dachte nur: Hoffentlich seid ihr hier nicht drauf. Hoffentlich erkenne ich keinen wieder.“ Und manchmal, wenn sie am Hauptbahnhof ein Mädchen aus dem Milieu sieht, denkt sie bestürzt: „Das könnte auch Gesine sein.“

Gesine ist ihre 16-jährige Tochter – und die Sorgen sind unbegründet. Im Gegenteil. Seit Weihnachten ist die Schülerin selbst Patin. „In letzter Zeit habe ich oft gedacht, was für ein Glück ich habe und dass es einfach als normal angesehen wird, dass wir ein Zuhause haben, all den Luxus.“ Große Konsumwünsche hat sie momentan auch nicht: „Ich hab doch alles, was ich brauche, und warum soll ich mir noch einen CD-Player wünschen.“

Mit sechs Euro pro Monat ist sie jetzt als Patin dabei. Bisher haben Mutter und Tochter noch keinen der betroffenen Jugendlichen kennen gelernt. „Aber das ist auch gut so“, findet Gesine, „schließlich sind die Einrichtungen ja gerade dafür da, dass die Jugendlichen mal zur Ruhe kommen.“ Dafür sind aber die jährlichen Patentreffen „total interessant, weil man da mit Betreuern sprechen kann und wirklich sieht, was mit dem Geld passiert“.

Gesine ist inzwischen schon als „Botschafterin“ tätig: Eine ihrer Lehrerinnen will vielleicht ebenfalls spenden. Außerdem ist Gesine auch in einer Literaturklasse, die regelmäßig Aufführungen macht. „Wir überlegen gerade, ob wir die Einnahmen spenden.“ Scheint so, dass sich Gesine noch lange für die Straßenkids engagieren will. „Mir wird immer wieder klar, dass es Leid nicht nur in anderen Ländern gibt, sondern direkt hier, vor meiner Haustür.“

Nachtschicht

Wenn andere schlafen oder feiern, gehen sie zur Arbeit

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

22.20 Uhr

Flughafen – Terminal 4 – Gepäckermittlung

Seit 15 Uhr sitzt sie schon am Schalter. Nele spürt ihr Blut in den Adern pochen. Wenn sie Kopfschmerzen hat wie heute, findet sie das Licht unerträglich.

In der Gepäckhalle herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Zwei Reinigungskräfte verputzen schwatzend ihre mitgebrachten Stullen. Ihr Lachen hallt durch den leeren Raum. Die Drehtür wird in Bewegung gesetzt. Im Nu wird die Stille von Gemurmel und Gemecker und klappernden Absätzen übertönt. Nele greift nach dem Stift und streicht den nächsten Flug auf der Liste durch. „Das ist meine kleine Neurose. Besonders abends, wenn nicht mehr viel zu tun ist.“ Ein sichtlich überforderter älterer Herr steht vor dem Tresen der Gepäckermittlung. „Mein Gepäck ist nicht aus Amsterdam angekommen!“ Nele lächelt. „Das kriegen wir schon wieder hin. Mit welcher Fluggesellschaft reisen Sie?“

Von ihren Kopfschmerzen ist nichts zu merken. Die 25-Jährige hat sich mit ihrer Aufgabe im Bereich Gepäckermittlung arrangiert: Verluste und Schadensfälle und damit genervte Fluggäste gehören zur Tagesordnung. „Hier kommt keiner, um sich für seinen schönen Flug zu bedanken.“ Schon gar nicht tagsüber, wenn die gestressten Geschäftsleute mit ihren nervtötenden Handys durch die Halle rasen. Das ist ein positiver Aspekt der Spätschicht. Doch Nele ist dafür momentan nicht zu begeistern. Gähnend blickt sie auf die Uhr.

„Normalerweise gehe ich um diese Zeit ins Bett. Hier kann ich nicht schon mal meine Pyjamahose anziehen.“ Um Mitternacht ist ihr Arbeitstag voraussichtlich zu Ende, bei verspäteten Maschinen erst eine Stunde später. Der Flughafen wirkt dann wie ausgestorben. „Wir haben dann alles für uns. Manchmal singen und steppen wir über die Pier.“

0.47 Uhr

St. Pauli – Nightcruiser

180 Beats per Minute wummern aus den Boxen. Tausend kleine Lämpchen blinken im Takt der Techno-Sounds. Im Bus ist kein Sitzplatz mehr frei, doch die meisten kümmert es wenig. Sie drängen sich im hinteren Teil des Busses und wippen mit den Beats. Dort ist die Musik am lautesten. Und dort steht die Bar. Viele sind Stammgäste, kennen sich gegenseitig und kennen Ronny, den Busfahrer. Sechsmal fährt er heute die Tour von den Lan-dungsbrücken über den Kiez bis zum Rathausmarkt.

„Ich hab Spaß an meiner Arbeit“, schwärmt Ronny und legt eine neue CD ein. Die Musik für den Bus hat er selbst zusammengestellt. Seit der Geburtsstunde des Nightcruisers vor drei Jahren sitzt der „Hobby-DJ auf Rädern“ Freitag und Samstag nachts hinter dem Steuerrad. „Das ist ein ganz anderes Busfahren. Es sind jüngere Leute im Bus, man lernt sich viel besser kennen!“

Der blinkende Bus rollt durch die leeren Straßen. Keine Staus, keine Autoschlangen vor roten Ampeln, nur ein paar Taxis sausen durch die Innenstadt. Innerhalb der Woche arbeitet der 32-Jährige mittlerweile auch nur noch in der Spätschicht. „Ich bin nicht so der Typ, der gern früh aufsteht!“ Dreieinhalb Runden hat er noch abzufahren, dann geht es zum Betriebshof. Manchmal ist er dann froh, dass alles vorbei ist, dass er seine Ruhe und seinen Schlaf haben kann. Ans Aufhören wird er jedoch nie denken.

3.37 Uhr

Lerchenstr. 82 – Polizeikommissariat 16

Stille auf der Wache. Die grauen Vorhänge sind zugezogen, die Kollegen sind fast alle auf Streife, das Telefon steht still. „It’s like raiaaaain…“, seufzt Alanis Morissette durch das Radio. „Meldung an PK 16“ tönt es plötzlich über den Polizeifunk. Im Nu schiebt sich Sandra auf ihrem blauen Drehstuhl gen Schreibtisch und drückt einen der vielen Knöpfe vor sich. „16 hört“, antwortet sie. „Wir brauchen zwei Abschlepper in die Bernstorffstraße“, meldet ihr Gegenüber. Die 23-Jährige ist heute für den Dienst auf der Wache eingeteilt worden. Lieber fährt sie jedoch im Streifenwagen mit, „da vergeht die Zeit schneller.“ Diese Nacht gab es viele Ruhestörungen, zwei Vermisstenanzeigen und eine Anzeige wegen Einbruchs.

Heute ist eine ruhige Nacht. Für Sandra kein Grund zur Müdigkeit. „Ich bin eher ein Nachtmensch. Außerdem habe ich ja nicht jeden Tag Nachtdienst. Das geht schon“, sagt sie lächelnd. Sandra hat ihre dreijährige Ausbildung zur Polizistin im gehobenen Dienst im April abgeschlossen. Der Schichtdienst hat sie dabei nie gestört. „Das wäre der letzte Grund gewesen, warum ich nicht zur Polizei gegangen wäre.“

5.22 Uhr

Hafen – Fischmarkt

Früher hat er mal Pizza verkauft. Seit acht Monaten hat Kambiz andere Arbeitszeiten. Heute ist er um 2 Uhr in Berne losgefahren. Zwei Stunden später hat er angefangen, den Fisch am Tresen auszulegen. An die Nachtarbeit hat Kambiz sich gewöhnt. „Für Geld mache ich alles!“, sagt er augenzwinkernd. Seine großen, orangefarbenen Handschuhe greifen in eine Styropor-Schachtel mit der Aufschrift „Tip-Top Fiske Industri Denmark“.

Jede Scholle wird fein säuberlich einzeln auf dem Fischstapel ausgebreitet. „Kommse her, kommse ran“, schreit der gebürtige Iraner in perfektem Hamburgisch den ersten Marktbesuchern zu. Ihm ist nicht anzumerken, dass er die Nacht durchgemacht hat. Beim Arbeiten wird er eigentlich nie müde. „Der Fischmarkt ist das Beste“, schwärmt er, während er Deko-Plastikobst auf die ausgebreiteten Meeresfrüchte plumpsen lässt. „Da kann man Scherze machen, Leute kennen lernen…, es sind auch schöne Chicas hier.“ Für die weibliche Welt hat der 27-Jährige ohnehin viel übrig. Wenn er mal wieder unpünktlich zum Dienst erscheint, hat er entweder die Bahn verpasst oder aber eine Frau kennen gelernt.

Kathi Mohr

Neuer „Stützpunkt“ für Obdachlose

Befristetes Projekt auf dem Domplatz

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Dienstag, 20.30 Uhr. Die Parkfläche auf dem Domplatz ist menschenleer. An der Wand des ehemaligen Toilettenhäuschens verrichtet ein Obdachloser seine Notdurft. Seine Habseligkeiten stapeln sich in einem Einkaufswagen. Dieses Szenario soll bald der Vergangenheit angehören. Der Runde Tisch St. Jacobi, an dem Kirche, soziale Einrichtungen und Geschäftsleute vertreten sind, will das baufällige Toilettenhäuschen zum Stützpunkt für Obdachlose umbauen. Entstehen sollen sanitäre Einrichtungen und Schließfächer für Gepäck. Ein Straßensozialarbeiter mit halber Stelle soll die Obdachlosen betreuen.

Träger wird die Caritas. Das Geld kommt je zur Hälfte aus der Spendenaktion „Ein Dach für Obdachlose“, die in Geschäften der City läuft, und von der Sozialbehörde. Das Projekt beginnt im Mai und ist auf ein Jahr befristet. Danach muss der Stützpunkt wahrscheinlich einer Neubebauung des Platzes weichen, den derzeit die Patriotische Gesellschaft von der Stadt gepachtet hat.

Markus Renvert von der Caritas freut sich trotzdem, dass der Stützpunkt jetzt verwirklicht wird. Die Idee entstand schon vor fast zwei Jahren. Unklarheiten über die Bebauung des Platzes und Differenzen mit der Stadt in Finanzierungsfragen hätten die Realisierung lange verhindert, so Renvert.

Bei den Hinz & Kunzt-Verkäufern, die in der Innenstadt Platte machen, trifft die Idee auf positive Resonanz. Lediglich die Öffnungszeiten wecken Unmut. Laut Projektbeschreibung wird das Angebot keine Tagesaufenthaltsstätte sein. Denn geplant ist, nur von 9 bis 11 Uhr und von 17 bis 19 Uhr zu öffnen. Hinz & Kunzt-Verkäufer Marc: „Spätestens um acht Uhr muss ich die Platte geräumt haben. Und abends lege ich mich nicht schon um 19 Uhr schlafen. Also muss ich doch wieder mit Sack und Pack durch die Stadt ziehen.“

Die Geschäftsleute in der City erhoffen sich durch den Stützpunkt eine Entspannung vor allem auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz und am Mönckebrunnen, Treffpunkte von Wohnungslosen. Auch die von Geschäftsinhabern beobachtete „Verunreinigung der City“ solle zurückgehen.

Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer begrüßt das Projekt ausdrücklich. „Es wird Zeit, dass solch ein Stützpunkt errichtet wird. Noch besser wäre natürlich eine ständige Aufenthaltsmöglichkeit für Obdachlose in der City.“ Karrenbauer warnt allerdings davor, dass mit Hilfe des Stützpunktes Obdachlose aus den Einkaufsstraßen verbannt werden könnten: „Das Problem der Wohnungslosigkeit wird weiter existieren, solange nicht genügend Wohnraum angeboten wird.“

Jan-Malte Ambs

„Wer soll davon leben können?“

Seit Anfang Januar können Arbeitslose eine „Ich-AG“ gründen

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Mit Hilfe des Arbeitsamtes ein Mini-Unternehmen auf die Beine stellen: Das ist die Idee der „Ich-AG“. Vier Wochen nach Start des Hartz-Modells haben in Hamburg neun Arbeitslose den Schritt zum staatlich geförderten Existenzgründer gewagt.

Für Jürgen Ponomarew kam das Angebot zur rechten Zeit. „Wollen Sie nicht eine ,Ich-AG‘ gründen“, fragte ihn Anfang Januar seine Beraterin vom Arbeitsamt. Immerhin bekomme er im ersten Jahr 600 Euro monatlich. Bis zu drei Jahre Förderung seien möglich, die Steuerlast nur gering (siehe Kasten).

Der 32-Jährige, seit sechs Monaten arbeitslos, zögerte nicht lange. „Für mich war das eine Chance“, erzählt der junge Mann mit dem freundlichen Auftreten zwei Wochen später. „Ich hatte meine Kunden sozusagen schon in der Tasche – und bekam am ersten Tag prompt den ersten Auftrag“, berichtet Ponomarew, der zuletzt für ein Sicherheitsunternehmen arbeitete und deshalb „viele Leute aus der Branche“ kennt. Für Februar hat schon ein Messeveranstalter seinen „Saal- & Ordnungsdienst“ gebucht, und der frisch gebackene Kleinunternehmer sagt: „Es lässt sich gut an.“

Von einer „Gründungswelle“ ist die Hansestadt weit entfernt. Neben Ponomarew wagten in Hamburg in den ersten vier Wochen neun Arbeitslose den Start in die „Ich-AG“. Knut Böhrnsen, Sprecher des Hamburger Arbeitsamtes, erklärt den Sinn der neuen Existenzgründer-Förderung so: „Kleingewerbetreibende sollen die Möglichkeit bekommen, sich möglichst unbürokratisch selbstständig zu machen.“ Mit 500 bis 1000 „Ich-AGs“ rechnet das Hamburger Arbeitsamt bis Jahresende, bundesweit sollen es 50.000 werden.

Zweifel an solchen Prognosen sind berechtigt. „Das ist totaler Humbug! Wer soll davon leben können?“, empört sich Irena Lohn über die geringen Zahlungen für „Ich-AG“-Gründer. Die 31-Jährige hat sich vor neun Monaten als Image-Beraterin selbstständig gemacht. Sie verhilft Privatmenschen und Unternehmen zu besserem Auftreten, Erscheinungsbild und Umgangsformen – und kann davon noch nicht leben: „Man muss sich doch erst mal einen Namen machen!“, sagt die resolute Frau mit dem charmanten Lächeln über die Schwierigkeiten einer Geschäftsgründung. Die ersten sechs Monate zahl-te das Arbeitsamt der ehemals angestellten Personalberaterin „Überbrückungsgeld“, in ihrem Fall immerhin 1800 Euro im Monat (siehe Kasten).

Die Alternativ-Förderung zur „Ich-AG“ hört sich erst mal mächtig an. Doch viel weniger hätte es nicht sein dürfen, meint die Erfinderin des Ein-Frau-Unternehmens „Image your Life“: „Ich musste davon nicht nur Leben, Miete und Versicherungen bestreiten, sondern auch die Kosten für Werbebroschüren, Homepage und Telefon.“ Nun hat die unverdrossen gegen die Rezession anwerbende Dienstleisterin ihr Auto verkauft und lebt vor allem „von Steuern, die ich vergangenes Jahr zu viel im Voraus bezahlt habe“.

Mit ihrer Kritik steht die Existenzgründerin nicht alleine. „Es wird derzeit völlig falsch beraten. Die ,Ich-AG‘ ist keine Alternative zum Überbrückungsgeld“, sagt Thomas Pfister, Vorstand der Genossenschaft GDM, die Arbeitslose auf dem Weg in die Selbstständigkeit berät. Da die „Ich-AG“-Gründer mindestens 400 der 600 Euro für Kranken- und Rentenversicherung veranschlagen müssen, sei das Modell nur für jene interessant, „die neben der Arbeitslosenhilfe schwarz gearbeitet haben und nun eine Chance bekommen, das zu legalisieren“.

„Ich-AG“-ler Ponomarew ist froh, dass ihn ein Freund ins Gründungszentrum „Enigma“ geschickt hat. Zuvor hatte er beim Arbeitsamt vergeblich nach Wegen zu einem Kleinkredit gefragt, mit dessen Hil-fe er den „großen Gewerbeschein“ erlangen und so seine Angebotspalette erweitern will. „Wir können Ihnen nicht helfen“, beschied ihm die Beraterin. Dafür teilte sie ihm mit, dass die erste Förder-Rate für Ponomarews „Ich-AG“ leider erst im Februar ausgezahlt werden könne, rückwirkend. „Die Berater sind nett, engagiert – und überfordert. Aber die können ja nichts dafür, dass sie keine vernünftigen Schulungen bekommen“, bilanziert der Existenzgründer seine Erfahrungen auf dem Amt.

Ulrich Jonas

Starthilfen für Arbeitslose
Seit 1. Januar können Bezieher von Arbeitslosengeld oder -hilfe beim Arbeitsamt die Gründung einer „Ich-AG“ beantragen. Voraussetzung dafür ist der Besitz eines Gewerbescheins. Anders als beim Überbrückungsgeld entscheidet das Amt schnell und un- bürokratisch. Gründer bekommen 600 Euro monatlich im ersten, 360 Euro monatlich im zweiten und 240 Euro monatlich im dritten Jahr. Weiterer Vorteil: „Ich-AG“-ler zahlen eine Pauschalsteuer von 10 Prozent. Allerdings darf ihr Gewinn 25.000 Euro jährlich nicht übersteigen, andernfalls stellt das Amt die Förderung ein. Ausbezahlte Zuschüsse werden jedoch nicht zurückverlangt. Unklar ist noch, wer die Gewinne der „Ich-AGs“ überprüfen soll. Sozialhilfe-Empfänger können keine „Ich-AG“ gründen.
Wie bisher auch können Arbeitslose Überbrückungsgeld beantragen, wenn sie sich selbstständig machen wollen. Diese Hilfe zahlt das Arbeitsamt jedoch nur sechs Monate lang. Sie soll die niedrigen Anfangseinkünfte von Existenzgründern auffangen. Der monatliche Zuschuss setzt sich aus dem vorher gezahlten Arbeitslosengeld plus einem Aufschlag für Sozialversicherungsbeiträge zusammen. In beiden Fällen fallen Existenzgründer aus dem Hilfesystem des Arbeitsamtes heraus, wenn vier Jahre seit dem letzten Antrag vergangen sind. Wer dann scheitert, ist auf Sozialhilfe angewiesen.
Sprachwissenschaftler haben die „Ich-AG“ kürzlich zum „Unwort des Jahres“ gewählt. Die Wortbildung leide „sachlich unter lächerlicher Unlogik, da ein Individuum keine Aktiengesellschaft sein kann“, so die Begründung.

Ein Helfer weniger

Geldnot: Caritas stellt Straßensozialarbeit ein

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Man muss sich um Obdachlose dort kümmern, wo sie sich heimisch fühlen. Da kann man am meisten bewegen“, sagt Peter Ludt. Fünf Jahre lang war der 44-Jährige auf Hamburgs Straßen unterwegs und kümmerte sich um die, an denen andere lieber vorbeigehen. 375 Menschen hat er in dieser Zeit betreut, viele über Jahre, so seine persönliche Bilanz – nun ist Schluss. Da sein Arbeitgeber, der Caritasverband, angesichts sinkender Einnahmen sparen muss und auch die Stadt nicht mehr Geld in Straßensozialarbeit investieren will, wechselt Ludt in die Obdachlosen-Krankenstube auf St. Pauli, wo ein Kollege in den Ruhestand geht.

„Bedauerlich“ findet das der gelernte Sozialpädagoge: „Die Obdachlosen werden darunter leiden.“ Anders als die Kollegen innerstädtischer Hilfseinrichtungen, die definierte Zielgruppen wie etwa Alkoholiker betreuen sollen, eilte Ludt mit seinem Auto immer dorthin, wo es gerade brannte – zur Not auch in die Vororte und so lange, wie es eben nötig war. „Ich musste nicht im Minuten-Takt Gespräche führen“, so der Sozialarbeiter rückblickend. „Wenn jemand Hilfe benötigte, konnte ich sagen: Alles andere ist jetzt nebensächlich.“

Doch Ludt weiß: Der Erfolg seiner Arbeit ist nicht in Zahlen messbar. In Zeiten leerer Kassen ist das ein ungünstiger Umstand. Statt seine Stelle zu streichen, würde der Sozialpädagoge – wenn er denn könnte – lieber mehr professionelle Helfer durch die Stadt gehen lassen. „In Frankfurt zum Beispiel kümmern sich sieben Straßensozialarbeiter allein um Obdachlose.“ Langfristig lohne sich das, meint Ludt und erzählt die Geschichte zweier „langjähriger Klienten“, eines Mannes und einer Frau. Kennen gelernt hat er sie vor Jahren auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz. Oft hat Ludt mit ihnen gesprochen, immer wieder Hilfe angeboten – schließlich mit Erfolg: „Früher haben sie von Sozialhilfe gelebt“, erzählt der Streetworker. „Heute sind sie miteinander verlobt, haben zwei Kinder, die Frau ist im Mutterschutz und der Mann arbeitet als Lagerarbeiter für eine Zeitarbeitsfirma.“

In Ludts Augen ist das nicht nur eine schöne, sondern auch passende Geschichte: „Man könnte Obdachlose noch weitaus mehr motivieren, etwas für sich zu tun“, glaubt der Profi-Helfer. „Denn meist haben sie einfach nur Angst vor dem nächsten Schritt.“

Ulrich Jonas

Her mit dem Strampler!

In der „Geschwisterschule“ bereiten sich Kinder auf Nachwuchs in der Familie vor

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Sonnabendnachmittag in der Geburtshilfe des Allgemeinen Krankenhauses Altona. Die vierjährige Helene hat soeben ein Geschwisterchen bekommen. Es ist rund 50 Zentimeter groß, etwa vier Kilo schwer und bereits bekleidet mit Hemd und Strampler. Der Kopf fällt, wie bei jedem Baby, zurück, wenn man ihn nicht stützt. Aber warum schreit das kleine Kind nicht, als Helene es an einem Arm unbekümmert in die Höhe schwenkt?

Das Geschwisterchen ist eine Puppe. Sie war in einer blauen Tasche, bevor sie das Licht dieses Tages erblickte. Ort des Geschehens ist auch nicht der Kreißsaal, sondern ein Konferenzraum, der mit Luftballons dekoriert ist. Helene besucht die „Geschwisterschule“, einen zweistündigen Kurs für Kinder, die demnächst Bruder oder Schwester bekommen. An der Puppe wird sie nachher erproben, wie man den Nachwuchs anfasst. Und wie besser nicht.

Wenn ein Baby kommt, verändert sich die Welt des älteren Kindes. Bei aller Freude: Es muss die Eltern nun teilen, empfindet vielleicht Konkurrenz und Eifersucht, fühlt sich ausgeschlossen oder ist einfach unsicher, was man mit diesem runzeligen Wesen anstellen soll, das zum Spielen doch nicht taugt.

„Wir zeigen den Kindern ganz praktisch, wie sie mit dem Säugling umgehen können“, erklärt Jasmin Szameitat, die den Kurs in Altona mit drei Kolleginnen leitet. Die künftigen Geschwister lernen, dass sie etwas tun können und nicht abseits stehen müssen. Sie hören, wie wichtig sie für das Baby sind – schließlich können sie all das schon, was ihr Bruder oder ihre Schwester erst noch lernen muss. Das stärkt das Selbstbewusstsein, erst recht mit dem „Geschwisterdiplom“, das sie sich ins Kinderzimmer hängen können.

In den USA sind solche Angebote üblich, in Deutschland noch rar. In Hamburg ist Hilkka Zebothsen, Öffentlichkeitsreferentin beim Landesbetrieb Krankenhäuser, die Mutter der Kurse: „Das Projekt ist mein Baby“. Sie hörte über eine Freundin von der Idee, recherchierte, schrieb ein Konzept. Im Juni fand im AK Wandsbek der erste Kurs statt, weitere folgen seitdem vierteljährlich. Im Oktober begannen monatliche Veranstaltungen im AK Altona. Demnächst will das AK Barmbek starten.

Das kostengünstige Angebot – Wandsbek verlangt 5 Euro, Altona 10 Euro – ist „Marketing fürs Krankenhaus“, sagt Hilkka Zebothsen. Schließlich ist die Geburtshilfe ein Bereich, in dem die Patienten frei zwischen den Häusern wählen; die Kliniken müssen die Zahler umwerben. In Altona haben sich diesmal drei Mädchen (die jüngste zweidreiviertel) und drei Jungen (der älteste acht) zum Diplom eingefunden. Die Eltern bleiben draußen. Einige Kinder halten sich deshalb an mitgebrachte Plüschbären, andere kuscheln sich bei Jasmin Szameitat und ihren Kolleginnen an.

Die anfängliche Zurückhaltung verfliegt schnell. Kinderkrankenschwester Ulrike Vick schlägt ein Buch auf – „Woher die kleinen Kinder kommen“ – und erklärt anhand der Zeichnungen, wie ein Baby in den Bauch der Mutter gelangt und wie hinaus.

Die Kinder kennen sich schon gut aus in der Welt von Scheide und Pipimann, von Samen-Rennbahn und Fruchtwasser. Star der Aufklärung ist der fünfjährige Ciwan, der seine Antworten stets mit einem ausholenden „Also…“ einleitet. Also, er weiß, was eine Nabelschnur ist und dass die Milch in Brusthöhe aus der Mutter kommt. Nur die Dauer einer Schwangerschaft legt er mit zwei Jahren etwas zu großzügig fest.

Theoretisch gerüstet, geht’s in die Praxis. Lilli hat bereits eine der Puppen adoptiert, die erst später auf dem Programm stehen. Sie schleppt das Baby, das halb so groß ist wie sie selbst, während des Ausflugs durchs Geburtshilfezentrum vergnügt mit. Etwas ratlos stehen die Kinder in einem der Geburtszimmer. Auf diesem Bett sollen Frauen unter großen „Bauchschmerzen“, wie Ciwan weiß, ein Kind zur Welt bringen? Das übersteigt – wen wundert’s – das Vorstellungsvermögen.

Da ist Zimmer 113 schon anschaulicher, wo zwei Neugeborene auf dem Arm ihrer Mütter schlafen. Der Junge Bo ist sechs Tage alt, das Mädchen Jette zwei. Leise und mit großen Augen stehen die Kinder vor den Babys und streicheln vorsichtig über die faltigen Händchen. Weiter geht’s zum Kardiogramm, das den eigenen Herzschlag hörbar macht. Beim Geschwisterchen, noch im Bauch der Mutter, soll man ja die Herztöne hören können. Jetzt erfahren die Jungen und Mädchen, dass sie so etwas auch haben – kein Grund also, auf das Baby neidisch zu sein.

Zurück im Konferenzraum: Die Kinder stärken sich mit Fruchtjoghurt und Vitaminsaft von bekannten Kindernahrungs-Herstellern – keine Geburtshilfe ohne Werbegeschenke. Dann dürfen die Kids zur Tat schreiten: Ulrike Vick gibt jedem eine Baby-Puppe, die Kinder legen sie auf weiße Tücher und nehmen den Kampf mit Strampler und Body auf, um bis zur Windel vorzudringen. Wichtigste Lektion: immer den Kopf des Babys stützen. Das gilt auch, als die Kinder die Puppen in eine blaue Plastikwanne legen und waschen spielen. Anschließend: abtrocknen, neue Windel anlegen und die Kleidung wieder antüdeln.

Direkt anstrengend, so ein Geschwisterchen. Verständlich, dass es gelegentlich zu grob unsportlichem Verhalten kommt: Ein Junge stützt sich auf dem Gesicht der Puppe ab. Ein Mädchen wendet sich lieber ihrem Teddy zu, wodurch der Kopf des Babys mit einem unschönen „Klack“ auf dem grauen Teppichboden aufschlägt. Und ein anderer Junge erkundigt sich schon mal nach den Geschenken, die für den Abschluss versprochen wurden.

Freundlich greifen die vier Leiterinnen ein, zeigen, helfen, ermuntern. Als die Eltern zum Abholen kommen, können alle sechs Kinder mit Bravour vorführen, wie sie ein Kleinkind tragen. Alle sind gewachsen in diesem Kurs. Sogar die Puppen: Als Ciwan stolpert und seine Puppe hinfällt, sagt er souverän: „Macht nichts, das Baby ist ja jetzt schon älter.“

Stolz nehmen die Kinder ihre „Diplom“-Urkunde entgegen sowie eine Medaille zum Umhängen, die eine Kollegin aus Pappe und Glitzersternen gebastelt hat. Das Namensschild, das sie für alle Zeiten als wichtige Mitarbeiter des AK Altona ausweist, dürfen sie behalten.

Für den Start ins Geschwisterleben gibt es außerdem eine Tragetasche mit Babyöl, Seife und Creme. Sicherheitshalber ist auch die „Milumil-Schlaflied-Hitparade“ auf CD dabei – falls den Profi-Geschwistern der Nachwuchs doch mal auf die Nerven geht.

Detlev Brockes

Hermanns heilende Hände

Warum der Erfolg des HSV von einem Bayern abhängt

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Bambi, Oskar, Bundesverdienstkreuz — immer werden die ausgezeichnet, die sowieso schon im Rampenlicht stehen. Zum Abschluss unserer Serie „Menschen in der 2. Reihe“ stellen wir HSV-Masseur Hermann Rieger vor.

Gerade ist ein verletzter Spieler reingekommen – den muss ich noch behandeln.“ Hermann Rieger steht an der Tür und streckt zur Begrüßung den rechten Ellenbogen in Richtung des Gastes. Der greift dankbar zu, alles besser als Riegers Hände und Unterarme. Die glänzen speckig von Massageöl.

Um 20.45 Uhr ist der Fußballer endlich durchgeknetet, Hermann Rieger hat sich die Hände gewaschen und bittet in sein Reich: den Massage- und Physiotherapieraum für die Profi-Spieler des Hamburger Sportvereins am Trainingsgelände in Ochsenzoll.

Hier stehen Behandlungs-Liegen im HSV-Blau, Rotlicht-Geräte hängen von der Decke des weiß gefliesten Raumes, Verbandsmaterial, Cremes und Tuben stehen auf Fensterbänken, Gymnastikbälle stapeln sich in einer Ecke, gleich daneben eine geräumige Badewanne, durch deren Abfluss gurgelnd Wasser fließt. Es riecht nach Zitrus und Menthol. Alles wirkt steril – bis auf die Pinnwand, an der Autogrammkarten hängen und die Namen der Bundesliga-Profis, die sich am folgenden Tag in die Hände des Masseurs Hermann Rieger begeben – Hollerbach, Hoogma und „TaKa“ für den japanischen Neuzugang Naohiro Takahara. Und dann ist da noch der Fernseher, der unter der Zimmerdecke hängt, und in dem – wie sollte es anders sein – Fußball läuft oder Musik.

Kurz streckt Roda Antar, der eben noch auf der Behandlungspritsche lag, den Kopf zur Tür herein, um sich zu verabschieden. „Tschau Burschi“, ruft Rieger dem libanesischen Fußball-Talent in schönster bayrischer Mundart hinterher.

„Ich bin morgens der erste, der kommt, und abends der letzte, der geht“, sagt der im bayrischen Alpenort Mittenwald geborene Rieger. Um 7.30 Uhr hat sein Arbeitstag begonnen. Jetzt sind seine Augen leicht gerötet, und die Charakterfalten haben sich ein bisschen tiefer in das Gesicht des 61-Jährigen gegraben. Gleich, um 22.30 Uhr, kommen noch zwei verletzte Spieler zur Behandlung – Bernardo Romeo und Stephan Kling. Die brauchen ihre Versorgung für die Nacht, bekommen Salbenverbände. Drei Mal pro Tag werden verletzte Profi-Fußballer behandelt, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. „Spieler, die nicht spielen können, sind totes Kapital“, erklärt der Masseur, bei dem diese wirtschaftliche Denkweise wie auswendig gelernt klingt.

„Eigentlich bin ich kein richtiger Arbeiter“, sagt Rieger dann mit Blick auf seine 16-Stunden-Tage, die er nun seit mehr als 20 Jahren beim HSV schiebt. „Ich freue mich jeden Tag wieder, hierher zu kommen“, sagt er, fährt sich mit den kräftigen Händen durchs grau gelockte Haar und lacht. Die Müdigkeit, die man dem muskulösen Mann eben noch ansah, scheint wie weggeblasen.

Rieger hat ohne Zweifel Durchhaltevermögen. „Für diesen Job muss man topfit sein“, sagt der Masseur, der vor allem die vorderen und hinteren Beinmuskeln und die Rückenmuskulatur seiner „hochwertigen Jungs“ bearbeitet. Doch Rieger verdankt seine Kraft offenbar vor allem seiner puren Leidenschaft für den HSV, dem er sich mit Leib und Seele verschrieben zu haben scheint.

Damals, 1978, als Rieger vom 1. FC Bayern München nach Hamburg kam, haben sie dem Ur-Bayern vorausgesagt, er würde es keinen Monat im Norden aushalten. „Aber dann habe ich so viel Spaß gehabt und Erfolge gefeiert mit Stars wie Hrubesch, Kaltz und Keegan, da habe ich das Kündigen einfach vergessen“, erzählt er. So folgte ein Jahr dem nächsten. Heute bekommt der einstige Trainer der Deutschen Ski-Nationalmannschaft nur noch Heimweh, wenn er einen alten Ski- und Bergfilm im Fernsehen sieht – „da bekomme ich richtige Gänsehaut.“

Die Fans des HSV dankten Rieger seinen unermüdlichen Einsatz 1994 mit der Gründung des nach ihm benannten Fanclubs „Hermann’s treue Riege“. „Alles vernünftige Fans, keine Hooligans oder Leute, die mit Bierdosen schmeißen“, sagt Rieger.

Ihren Kult-Masseur als Mensch in der zweiten Reihe zu bezeichnen, werden sie vielleicht als Beleidigung empfinden. Doch Rieger steht dazu: „Ich wirke hinter den Kulissen. Das ist mein Job und das ist es, was ich will.“ Jeder Spieltag sei wie ein großes Finale, auf das er hinarbeitet. „Wenn ich am Freitagabend sagen kann: Der Trainer hat zu viele Spieler, die er einsetzen kann, dann bin ich zufrieden.“

Am Wochenende, wenn „seine Jungs“ dann spielen, sitzt er auf der Bank und leidet fürchterlich. Oder er erlebt die größten Glücksmomente – wie 1979 oder 1982, als der HSV Deutscher Meister wurde.

Zu gerne würde er noch einmal so einen Erfolg feiern, bevor er in Rente geht. „Die jetzige Mannschaft hat so viel Potenzial, vielleicht erleb ich noch eine Meisterschaft“, schwärmt er, und die Augen glitzern. Ein schöner Abschluss wäre das – obwohl Rieger nicht genau weiß, wie er seinen eigenen Abschied vom HSV verkraften wird. „Ich glaub schon, dass es schwer wird“, sagt er nachdenklich.

Wahrscheinlich kehrt er zurück nach Mittenwald in sein Elternhaus, wo auch seine Geschwister leben. Eine Familie hält ihn zumindest nicht in der Hansestadt – sie hätte ihn vermutlich sowieso kaum zu Gesicht bekommen. „Der Tag mit seinen 24 Stunden ist einfach zu kurz“, sagt Rieger. „Ich möchte gerne viel mehr machen.“ In Mittenwald wird er Zeit haben. Was er mit ihr anfangen wird, weiß der Masseur aus Leidenschaft allerdings noch nicht so genau. „Da werde ich wohl erst mal von Hütte zu Hütte springen und überall Grüßgott sagen“, so Rieger, der in seinem Heimatort alle kennt.

Und natürlich wird er alle Auswärtsspiele des HSV besuchen, in München und Stuttgart – „alle die, die ich von dort gut erreichen kann.“

Inzwischen hat Rieger seinen Nachfolger eingearbeitet, „dann kann ich mich peu à peu verabschieden.“ Die Spieler wird er sicher vermissen. Aber im Profi-Fußball gehört Abschiednehmen auch zum Geschäft. Früher seien die Spieler dem Verein sechs oder acht Jahre lang treu geblieben. Heute wechseln sie ihre Clubs immer schneller. „Gerade hat man sich angefreundet, schon verlässt wieder jemand die Stadt“, sagt Rieger, der das oft sehr traurig findet. Schließlich kennt er die Jungs. „Ich bin ja immer da. Die Spieler wissen, dass sie mit Fragen und Problemen zu mir kommen können.“ Und das tun sie auch, bei Stress mit der Familie, in der Beziehung oder der verpatzten Urlaubsplanung. „So cool, wie viele von ihnen tun, sind sie nicht“, sagt Rie-ger, der seinen Schützlingen manchmal auch mit einer kleinen Notlüge über die Runden hilft – mehr verrät er nicht.
Bei Hermann Rieger sind Geheimnisse gut aufgehoben.

Annette Bitter