Von Sucht und Sehnsucht

Die Heroinstudie wird ein Jahr alt

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Raus aus dem Kreislauf von Knast, Straße, Elend und Krankheit, das wollen Hanne und Florian. Die beiden sind Teilnehmer der Heroinstudie. Hier soll untersucht werden, ob Junkies bei Verabreichung von reinem Heroin unter ärztlicher Kontrolle in der Lage sind, ein normales und relativ gesundes Leben zu führen.

Hanne ist glücklich, als sie den „richtigen“ Umschlag zieht. Da steht drin, dass sie an der Heroinstudie teilnehmen darf und zwei Jahre lang zwei- bis dreimal täglich reines Heroin bekommt. Die 41-Jährige kann es kaum fassen: Seit sie 16 Jahre alt ist, hängt sie an der Nadel. Und jetzt das Paradies: Sie kriegt ihren Stoff – ohne Beschaffungsdruck, ohne anschaffen zu gehen, ohne Angst vor der Polizei. Und das Ganze noch mit so genanntem Case Management. Zu deutsch: Einzelbetreuung durch einen Sozialarbeiter, mit dem sie alle Probleme besprechen kann und der ihr weiterhilft. Ihr Ziel: „Einfach nur in Ruhe mit der Sucht leben, ein normales Leben führen, womöglich wieder arbeiten.“

Und genau darum geht’s auch in der Studie: Hier soll festgestellt werden, inwieweit sich die Menschen verändern, wenn man die Rahmenbedingungen der Sucht verändert. Eine ähnliche Studie in der Schweiz ergab, dass viele Teilnehmer ein fast normales Leben führen können, ohne Kriminalität und ohne Verwahrlosung. Jeder Zweite hatte wieder einen Job und keine Szene-Kontakte mehr.

Primäres Ziel der neuen Studie ist es nicht, die Abhängigen zu Abstinenzlern zu machen. Auch Hanne will gar nicht loskommen von der Sucht. „Das lohnt sich für mich nicht mehr“, sagt sie in Anspielung auf Aids, das bei ihr allerdings noch gar nicht ausgebrochen ist. „Diese Schufterei mache ich nicht noch mal.“ Die Ärztin und Projektleiterin Karin Bonorden-Kleij geht jedoch davon aus, dass ein Ausstieg aus der Sucht eher erstrebenswert wird, wenn die Klienten eine Perspektive im Leben entwickelt haben – die meisten sogar zum ersten Mal.

Die Einzel- und auch die Gruppenbetreuung sind deshalb darauf ausgerichtet, den Junkies beim Aufbau eines „normalen“ Lebens zu helfen: Möglichkeiten der Entschuldung werden erörtert, eine Wohnung gesucht oder auch ein Praktikumsplatz. Immerhin: Zwei der Klienten gehen wieder arbeiten, zwei aufs Abendgymnasium. Schon nach ein paar Wochen wirkt sich die Teilnahme an der Studie auf den Gesamtzustand der Patienten aus: „Die meisten sind wesentlich gepflegter als zu Beginn. Vielen sieht man die Sucht gar nicht mehr an“, so Bonorden-Kleij. Was aber noch besser ist: „Sie sind einfach gesünder.“

Hört sich gut an. Auch Hanne sieht gesund und gepflegt aus. Allerdings hat sie gerade einen Durchhänger. Zu Anfang fühlte sie sich von dem reinen Heroin völlig geplättet. „Wie unter Narkose stand ich da“, sagt sie, „ich war zu nichts mehr zu gebrauchen.“ Zwar geht sie regelmäßig in die Drogenambulanz am Högerdamm und „appliziert“ sich ihren Druck, wie das im Studienjargon heißt. Aber das Hochgefühl von früher will sich nicht einstellen. Das Straßenheroin, versetzt mit irgendwelchen Substanzen, zum Teil sogar mit Strichnin, „gibt viel mehr einen Kick“. 12 bis 14 Stunden habe das Wohlgefühl angehalten. Und von diesem Gefühl träumt Hanne schon wieder.

Lust, mit ihrem Sozialarbeiter darüber zu sprechen, hat sie nicht. Deshalb hat sie auch ihre Sitzungen geschwänzt. Was sie ihm auch nicht erzählen will: Dass ihr jetzt, wo sie keine Drogen mehr beschaffen muss, daheim die Decke auf den Kopf fällt. Und dann überfällt sie wieder die Sehnsucht. „Ich suche nach etwas und weiß nicht nach was“, sagt sie. Und das erinnert sie an früher, als sie 16 Jahre alt war. Da wollte sie unbedingt raus aus der Familie, wo sie immer auf die kleinen Geschwister aufpassen musste. Richtig lebenshungrig war sie damals.

Sie lernte Michael kennen, der war zehn Jähre älter und „richtig frei, tat nur, was er wollte“. Der imponierte ihr, und Hanne wollte genauso leben wie er. Und da er Heroin nahm, nahm sie es auch. In kurzer Zeit begann der Teufelskreis aus Drogen beschaffen, Knast, einigen Therapieversuchen und wieder Drogen. Aber auch Idylle: Sie und Michael bekamen eine Tochter, lebten in einem kleinen Häuschen zusammen – und verloren alles. „Mich zog es wieder raus. Ich hatte so eine unbestimmte Sehnsucht“, sagt Hanne. Ihr Kind bettelte: „Mama, bleib doch da, wohin gehst du schon wieder?“ Michael schlug sie. Dem Paar wurde das Kind weggenommen, Michael landete im Knast und Hanne auf der Straße.

Und jetzt ist sie eben wieder da, diese Sehnsucht. Wenn sie an Morgen und Übermorgen denkt, an Arbeit vielleicht, fällt ihr wenig ein. Dann leuchten ihre Augen plötzlich. „Wovon ich träume, ist eine Tierpension auf dem Lande“, sagt sie. „Ja, das wärs.“ Aber auch über diese Träume redet sie nicht mit ihrem Sozialarbeiter. Oder noch nicht. Könnte der nicht sogar einen Praktikumsplatz bei Hagenbeck oder im Tierheim arrangieren? Ja, vielleicht. Eine Möglichkeit. Aber wenn das nichts wird, was dann, wo überhaupt noch etwas suchen? „Manchmal“, sagt Hanne, „da glaube ich, das, was ich suche, das gibt es gar nicht.“

Florian ist da optimistischer. Obwohl auch der 32-Jährige gerade eine Durststrecke durchmacht. Er zog nämlich „den falschen Umschlag“ und landete in der Kontrollgruppe, die kein Heroin, sondern Methadon bekommt. Immerhin gehört er nicht zu den 50 Prozent, die dann die Studie abbrechen. Er lebt vom Prinzip Hoffnung, nämlich dass er nach einem Jahr doch noch ins Heroinprojekt rutscht.

Die Abhängigkeit, die nervt ihn inzwischen. „Ich wünsche mir, eines Tages nicht mehr abhängig zu sein, von nichts und niemand.“ Wenn er endlich reines Heroin bekommt, dann, so hat er sich vorgenommen, will er entziehen. Und dieses Mal, da ist er sich sicher, wird es klappen. Warum er nicht gleich jetzt entzieht, sofort und auf der Stelle? „Weil der Entzug vom Methadon so schmerzhaft und langwierig ist, viel schlimmer als beim Heroin.“

Vielleicht braucht er auch noch eine Zeit, um Abschied zu nehmen von dem Leben mit der Sucht, bei dem er zwar abhängig, aber auch für nichts verantwortlich ist. Gearbeitet hat er nämlich schon lange nicht mehr. Dazu war er körperlich gar nicht in der Lage. Das Abi, das er so gerne machen wollte, rückte in weite Ferne. „Ich hab’s selbst vergeigt“, sagt Florian selbstkritisch. Anfangs hatte er noch die Musik, Klavier spielte er und Bass. Das heißt: Eine kleine Weile blieb ihm noch die Musik. „Die Instrumente sind fürs Heroin draufgegangen.“ Immer weiter rutschte er ab.

In der Zeit vor der Studie wurde er mit Polamidon substituiert. Das gab zwar keinen Kick, und er nahm auch immer noch Drogen nebenher, „aber es war okay.“ Er tat alles, um zumindest nicht „Steine zu rauchen“ (Crack), die Droge, die als die ruinöseste gilt. Nervig findet er es, täglich in die Ambulanz zu müssen. „Mein Polamidon bekam ich für mehrere Tage.“

Aber die ganze Drogenbeschafferei, wo auch immer, soll sowieso eines Tages der Vergangenheit angehören. Das Abi nachmachen will er, das wär sein Traum, „und einen Job, der mir Spaß macht, am liebsten einer, bei dem ich anderen Menschen helfen kann“, sagt Florian. „Für irgendwas muss ich doch gut sein. Ich muss doch eine Aufgabe im Leben haben – und die habe ich noch nicht erfüllt.“

Birgit Müller

Dämmerung in Billbrook

Hamburgs einziges Autokino musste nach 27 Jahren schließen

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

„Ich gehe nirgendwo anders hin“, stellt Willi Dahms klar. Der Filmvorführer, der heute eine der letzten Vorstellungen startet, arbeitet seit fast 27 Jahren im Autokino Billbrook. Zwar ist sich der 80-Jährige sicher, noch eine andere Anstellung finden zu können, aber jedes andere Kino wäre schlechter als „sein“ Autokino. „Hier muss ich mir von niemandem reinreden lassen“, sagt Dahms, der sieben Kinochefs kommen und gehen sah und sich längst als heimlicher Chef fühlt. Er lehnt lässig gegen die Absperrgitter vor seinem Vorführraum, es ist ein milder Abend nach einem heißen Tag, und Dahms trägt ein kurzes Hemd über gebräunter Haut. An solchen Sommertagen ist das Freiluftkino das Paradies. Wer aus ihm vertrieben wird, den locken stickige Kinosäle nicht mehr.

Dämmerung in Billbrook. Freitag, kurz nach zehn, noch ist das Industriegebiet leergefegt. Gleich wird sich hier der „Transporter“ im gleichnamigen Luc-Besson-Actionfilm mit qualmenden Reifen Autoverfolgungsjagden liefern. Mit dabei sind dann Familienväter, Azubis und Hausfrauen, im eigenen Twingo oder Corolla. Noch sieht das Autokino nur wie ein Supermarktparkplatz aus. Auch die Leinwand wirkt mehr wie eine Reklamefläche, die zu bekleben vergessen wurde. Nur die Stangen, die zwischen den Parkplätzen aus dem Boden ragen, lassen das Ungewöhnliche erahnen. An ihnen hängt jeweils ein Paar Heizstrahler, damit sich die Kinogäste auch im Winter wohl fühlen. Der Kinoton kommt durchs Autoradio, rund ums Kinogelände auf UKW 96,8 zu empfangen.

Platz wäre für 468 Besucher, aber nur etwa 100 Autos wollen heute rein. Aus den heruntergekurbelten Fenstern klingt laute Musik des Kino-Senders. In den Autos sitzen Jugendliche, Familien und Arbeitskollegen – ein Publikum, das man auch im „Cinemaxx“ treffen könnte. Ganz im Sinne der Betreiber, die betonen, dass es im Autokino um gute Filme und längst nicht mehr nur ums Knutschen auf der Rückbank geht.

Die größten Fans des Freiluftkinos aber sind die PS-Verrückten, die mit ihrem Auto ihr ganzes Lebensgefühl ausdrücken. So wie Sascha. Der 21-Jährige ist mit seiner Freundin Jaqueline im aufgemotzten Opel gekommen. Seine Liebe zu diesem Gefährt geht so weit, dass seinen rechten Oberarm ein tätowiertes Opel-Logo ziert. „Für uns kommt eigentlich nur Autokino in Frage“, sagt der Kraftfahrer. So ist auch abends das vierrädrige Familienmitglied dabei. „Und klar hatten wir hier schon Sex“, gibt er freimütig zu. Den Namen seiner Freundin in die Haut zu ritzen, käme für Sascha nicht in Frage: „Da würde ich mir eher mein Auto auf den Rücken tätowieren.“ Wie mancher Seebär die „Gorch Fock“. Denn die Liebe kommt und geht – Opel bleibt.

Neben Sex lockt noch ein anderes Laster ins Autokino, das im „Cinemaxx“ verboten ist: „Hier kann ich rauchen“, erklärt Henning aus seinem grünen Cabriolet mit Oldesloer Kennzeichen. Der 24-Jährige fährt ins Autokino, seit er den Führerschein hat. Früher fast jede Woche. Ein bisschen geknutscht hat er auch. „Naja, mit fünf bis sechs Frauen werde ich wohl schon hier gewesen sein“, antwortet er zögernd und schaut etwas unsicher zum Beifahrersitz. Nummer sieben – Mareille – trägt es mit Fassung. Auf jeden Fall sei es „eine Sauerei“, dass das Kino jetzt schließen muss. „Wenn ich es vorher gewusst hätte, dann hätten wir irgendwelche Aktionen gemacht“, so Henning. Wenn schon der FC St. Pauli gerettet werden konnte – warum dann nicht auch das Freiluftkino?

Es ist kein Abschied im Guten. Wäre das Autokino ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das einfach nicht mehr rentabel ist, man hätte es einsehen müssen – niemand kann etwas gegen den sich wandelnden Geschmack des Publikums sagen. Aber das Kino hielt sich mit seinen Einnahmen über Wasser. Schuld am Aus ist die Umweltbehörde. Weil das Kino über einem alten Industriekanal gebaut wurde, steigen jetzt gesundheitsschädliche Faulgase an die Oberfläche. Die Behörde besteht auf einer Bodensanierung – 250.000 Euro würde das kosten, zu viel für die Kino-Betreiber.

Wütend sind nicht nur die Besucher. Wütend sind auch alle Mitarbeiter des Kinos. Wütend auf die Behörde, die sie von einem Tag auf den anderen auf die Straße setzt. Nährboden für Verschwörungstheorien, die Stadt könnte das Kino loswerden wollen, um einen profitableren Pächter zu finden. Wut auch über die Reporter, die plötzlich so interessiert sind. Jetzt, wo es zu spät ist. Willi Dahms glaubt nicht an die Bedrohung aus der Tiefe: „Wenn das so stimmt, müsste ich längst tot sein“, sagt er grimmig. Schließlich ist er länger hier als alle anderen.

Der Faszination Kino erlag Dahms mit 13 Jahren. Damals wohnte er noch in Berlin. Dort teilten sich in den Mietshäusern die Parteien eines Stockwerkes eine Toilette. Eines Tages fand Dahms in der Toilettentür einen vergessenen Schlüssel. Und wurde sofort ganz aufgeregt: „Ich wusste, dass die Schlüsseleigentümerin im Kino arbeitet“, erinnert sich Dahms, „und da hoffte ich natürlich, als Finderlohn eine Karte zu bekommen.“ Unbezahlbare 25 Pfennig kostete damals eine Kinokarte.

Seine Nachbarin lud Dahms nicht nur einmal ins Kino ein. Bald war er aus dem Filmtheater nicht mehr wegzudenken. Sogar in den Vorführraum durfte er, denn noch mehr als die Filme faszinierte den Jungen die Technik. „Damals war Vorführer ein richtig gefährlicher Job“, erzählt Dahms, „weil Nitrofilme benutzt wurden, und die sind leicht brennbar.“ Deswegen musste jeder Vorführer auch einen „Vorführschein“ machen.

Später fing er beim Wanderkino an, tingelte durch die Dörfer Norddeutschlands. „Wer nie mit einem Wanderkino unterwegs war, sollte sich nicht Filmvorführer nennen dürfen“, meint Dahms. Aufbauen, die ganze Technik, alles in der Verantwortung des Vorführers. Wenn etwas kaputt war, musste sich Dahms darum kümmern. „Heute wird nur einfach ein Techniker gerufen, und das war’s“, klagt Dahms, „in den Multiplexen werden nur noch die Anfangszeiten einprogrammiert, und der Film läuft automatisch an.“

Dahms wird aus seinen Gedanken gerissen, denn das erste Hupen findet schnell Nachahmer. Geduldig ist niemand im Autokino. Erschrocken schaut Dahms auf die Leinwand: „Oh Mensch, ich rede hier und passe nicht auf!“ Der Film ist verrutscht. „Wenn Sie hier noch einmal hupen, fliegen Sie raus!“, ruft er noch schnell in die Richtung der Autos, und stürzt in seinen Vorführraum.

Im „Allerheiligsten“ des Autokinos ist es ein bisschen wie früher. Zwei Projektoren zielen durch eine kleine Öffnung auf die Leinwand. Bei einem Rollenwechsel schaltet Dahms zwischen den beiden Projektoren um, damit die Zuschauer keine Unterbrechung mitbekommen. In modernen Kinos ist das nicht mehr nötig, dort werden die Filme vorher zusammengeklebt.

Neben der Technik findet sich im Vorführraum auch Privates. Ein Foto von der Enkelin auf dem Regal, ein Foto vom Schäferhund an der Wand. In 27 Jahren hat es sich Willi Dahms auch ein bisschen schön gemacht. Dahms hebt eine Filmrolle auf einen Projektor. Fünf Kilo wiegt so eine Rolle. „Na, ob du das mit 80 auch doch schaffst?“, fragt er den Gast. Dann wirft er einen Blick auf das Foto seiner Enkelin. „Wie es wohl ist, wenn sie 80 wird?“, sagt Willi Dahms nachdenklich. „Wenn das alles so weitergeht, kann man niemandem mehr wünschen, so alt zu werden.“

Er konkretisiert das Unheil nicht, das auf seine Enkelin und alle anderen wartet. Fest steht nur: Wenn heute die Scheinwerfer angehen und die Autos aufheulen, bleiben nur noch eine Handvoll Vorstellungen. Und jetzt, da dieser Artikel erscheint, ist das Freiluftkino schon Vergangenheit.

Marc-André Rüssau

Wasser: Flüssige Ware

Werden die Hamburger Wasserwerke privatisiert? Initiativen befürchten sinkende Qualität und steigende Preise

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Wenn Klaus Milewski Durst hat, geht er zum Wasserhahn. „Ich trinke schon seit Jahren grundsätzlich Leitungswasser“, sagt der 44-Jährige. In Hamburg kann Milewski seinen Durst bedenkenlos stillen: Das Leitungswasser in der Stadt ist hervorragend.

Bleibt das so? Das Bündnis „Unser Wasser Hamburg“, in dem sich Milewski engagiert, befürchtet sinkende Qualität und steigende Preise. Grund: die mögliche Privatisierung der Hamburger Wasserwerke (HWW), die bisher noch ausschließlich der Stadt gehören. Könnte das Lebensmittel Nummer 1 zum Spielball von Konzernen werden, nur um kurzfristig etwas Geld in die Stadtkasse zu spülen?

Immerhin interessiert sich HWW, viertgrößter Wasserversorger in Deutschland, für die Übernahme von Gelsenwasser, der Nummer 2 am Markt. Um den millionenschweren Einkauf zu bezahlen, so eine Vermutung,+ müsste sich HWW selbst einen Geldgeber ins Haus holen. Der will natürlich mitreden – und damit hätte, nach mehr als 150 Jahren in öffentlicher Regie, die Privatisierung der Hamburger Wasserversorgung begonnen.

Finanzsenator Wolfgang Peiner wäscht seine Hände in Unschuld: Das seien bloße „Gerüchte“. Behördensprecher Burkhard Schlesies bekräftigt: „Wir führen keine Verhandlungen mit Investoren, wir haben auch keine Angebote erbeten.“ Allerdings überprüfe die Finanzbehörde derzeit alle städtischen Beteiligungen, darunter auch HWW. Schlesies: „Der Senat entscheidet im Laufe des Sommers, wie er mit den Beteiligungen weiter verfährt.“

Die Privatisierung der Wasserversorgung liegt weltweit im Trend. Ob in Manila oder Prag, Hongkong oder Buenos Aires – immer öfter sind es kommerzielle Anbieter, die den Bürgern das Wasser reichen. Den Kommunen gefällt es: Sie können mit Erlösen aus dem Verkauf städtischen Eigentums das nächstliegende Haushaltsloch stopfen. Berlin hat 49,9 Prozent seiner Wasserbetriebe bereits versilbert – an RWE und Vivendi, die mit dem französischen Konzern Suez am internationalen Wassermarkt das Sagen haben.

Hamburg könnte eine wahre Perle zu Markte tragen. Die zentrale Wasserversorgung der Stadt ist die älteste auf dem europäischen Kontinent – und heute eines der profitabelsten Unternehmen in städtischem Besitz. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich Hamburgs Bürger ihr Wasser auf unterschiedliche Weise beschafft: Sie ließen sich Quellwasser auf ihre Grundstücke leiten, sie bezogen Alster- oder Elbwasser von den privaten „Wasserkünsten“, wie Speicherbehälter und Pumpsysteme früher genannt wurden, sie gingen selbst zum Schöpfbrunnen, oder sie wurden von Wasserträgern beliefert. Nach dem Großen Brand von 1842 fiel in Hamburg eine wegweisende Entscheidung: Der englische Ingenieur William Lindley plante ein Wassernetz in städtischer Trägerschaft. 1848 ging die „Zentrale Stadtwasserkunst“ in Betrieb und pumpte geklärtes Elbwasser in die Häuser. Im 20. Jahrhundert wurde zunehmend Grundwasser verwendet, aber erst seit 1964 wird Hamburgs Trinkwasser völlig ohne Elbwasser gewonnen.

HWW hat heute zwei Millionen Kunden, rund 1.200 Mitarbeiter erwirtschaften einen Umsatz von 182 Millionen Euro. Der Gewinn aus dem Wasserverkauf ist 2002 kräftig gestiegen: auf 35,7 Millionen Euro (Vorjahr: 26,8 Millionen). Damit wurde locker der millionenschwere Verlust der Hamburger Schwimmbäder ausgeglichen, die über Bäderland ebenfalls zu HWW gehören. Trotzdem blieben immer noch fast 19 Millionen Euro übrig, die das Unternehmen an die Stadt überwies. Eine Summe, die im Haushalt natürlich fehlen wird, wenn die Stadt nicht mehr allein Eigentümerin ist.

In der HWW-Zentrale in Rothenburgsort gibt man sich wortkarg, wenn es um eine mögliche Privatisierung geht. „Kein Kommentar“, lässt Geschäftsführer Hanno Hames ausrichten. Deutlich äußert sich dagegen „Unser Wasser Hamburg“. „Die Hamburger Wasserwerke haben am Markt überhaupt nichts verloren. Trinkwasser ist ein Menschenrecht – keine Handelsware“, sagt Volkswirt Jürgen Arnecke, einer der Sprecher. Das Bündnis formierte sich Anfang des Jahres. Zu den Initiatoren gehören die Globalisierungskritiker von Attac, die Umweltschutzverbände BUND und NABU, die Verbraucherzentrale und die beiden großen Hamburger Mietervereine.

„Unser Finanzsenator müsste eigentlich wissen, dass ein Privatunternehmen nur in ein Wasserwerk einsteigt, wenn es Profit machen kann“, ergänzt Klaus Milewski, der derzeit durch Europa tourt, um für Volksabstimmungen in der EU zu werben. Ein privater Kapitalgeber wolle, unabhängig von einer Minderheits- oder Mehrheitsbeteiligung, das operative Geschäft kontrollieren und dann „massive Sparmaßnahmen“ einleiten.

Mit der exzellenten Qualität des Hamburger Trinkwassers wäre es nach einer Privatisierung womöglich vorbei, befürchtet das Bündnis. Gewinnorientierte Unternehmen könnten die Qualität des Trinkwassers auf das gerade noch erlaubte Maß absenken. Beispiel: Sie mischen dem hochwertigen Grundwasser chemisch aufbereitetes Oberflächenwasser bei, das weniger kostet.

Führt eine Privatisierung wenigstens zu sinkenden Preisen? Wohl kaum. Denn anders als im Strom- oder Telefonnetz können bei Wasser nicht mehrere Anbieter dieselben Leitungen nutzen. Dazu ist Wasser ein zu empfindliches Gut, das sich – im Gegensatz zu Strom – nicht einfach „mischen“ lässt. Folge: Der viel gepriesene Wettbewerb, der etwa bei Telefongesprächen für sinkende Preise gesorgt hat, kann bei Wasser gar nicht stattfinden. „Hier wird ein staatliches in ein privates Monopol überführt“, kritisiert Jürgen Arnecke, „das ist das Gegenteil von Wettbewerb.“ Hamburg würde „beim Grundnahrungsmittel Nummer 1 von einem einzigen Lieferanten abhängig“, der Preis und Qualität diktiere. Das Bündnis verweist auf Großbritannien, wo die Privatisierung zu einem Preissprung von 46 Prozent geführt habe. Statt marode Leitungen zu sanieren, sei die Dividende erhöht worden. Arnecke ironisch: „Wenn unser Trinkwassersystem dann nach 15 Jahren ohne nennenswerte Investitionen völlig heruntergewirtschaftet ist, dürfen wir es wieder zurückkaufen.“

Am sparsamen Umgang mit Wasser, befürchtet auch der GAL-Abgeordnete Christian Maaß, können private Anbieter kaum interessiert sein. Verluste im Netz würden sie in Kauf nehmen, solange betriebswirtschaftlich die Kasse stimmt – Ökologie nachrangig. Werbung fürs Wassersparen, wie HWW sie betreibe, werde ein privater Investor kaum fortführen, vermutet Maaß. Auch mit der finanziellen Stütze für die Hamburger Bäder, die bisher von Gewinnen aus der Wasserversorgung profitieren, dürfte es vorbei sein. Maaß: „Das bedeutet für zahlreiche Schwimmbäder Hamburgs das Aus. Gerade sozial benachteiligte Stadtteile wären betroffen.“

Um eine Privatisierung von HWW zu verhindern, hat „Unser Wasser Hamburg“ eine Volksinitiative gestartet. Die erforderlichen 10.000 Unterschriften sind bereits erreicht, obwohl die Frist noch bis Anfang August läuft. Auf der nächsten Stufe, beim Volksbegehren, müssen innerhalb von zwei Wochen gut 60.000 Hamburger unterschreiben. Ist auch das geschafft, könnte ein Volksentscheid über die Wasserversorgung stattfinden.

Doch vorerst bleibt alles im Fluss. Finanzsenator Wolfgang Peiner hat eine Privatisierung der HWW nicht offen befürwortet, aber auch nicht ausgeschlossen. SPD und GAL in der Bürgerschaft haben unterdessen versucht, den Verbleib von HWW im Eigentum der Stadt festzuschreiben. Doch das scheiterte an den Stimmen der Regierungskoalition.

Detlev Brockes

Wasserverschmutzer beim Kadi

Wie Tribunale sogar Konzerne zum Umdenken zwingen

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Costa Rica, im März 2003

Im „Macondo“, einer Kulturbar in einer kleinen Stadt in den Bergen von Costa Rica (Mittelamerika), knien eifrige Kinder im Hof über riesigen weißen Bettlaken und bemalen sie mit gelben Sonnen, blauen Wellen und grünen Buchstaben. Alles, was ihnen einfällt zum Thema Wasser. Ein Gang auf die Toilette der Bar offenbart einen unerwarteten Teil des Hauses. In einem Hinterzimmer stapeln sich Infobroschüren, Flyer und Poster auf einem Tisch, Plakatwände informieren über weltweite Aktionen zum Schutz des Wassers. Durch eine weitere Tür gelangt man in einige holzgetäfelte Büroräume. Hier stehen jede Menge graue Aktenordner in den Regalen, an den Wänden hängen Plakate mit Wasserfällen und Seen, umgeben von dichtem Regenwald. Das ist das Reich von Javier Bogantes Díaz, von Beruf Anwalt und Philosoph.

Er ist der Koordinator des Tribunal Centroamericano del Agua. Ein Gerichtshof, der im Namen der Bürger mutwillig herbeigeführte oder in Kauf genommene Schäden am Wasser anklagt, die im Alleingang durch private Firmen, aber auch unter Billigung von Regierungsinstitutionen entstanden sind. Rechtlich bindend sind die gefällten Urteile nicht, aber sie bringen Skandale an die Öffentlichkeit. Viele Firmen scheuen die negative Werbung und sind plötzlich zu Lösungen bereit. Oft sind auch Regierungen in die Fälle verwickelt und sichern die angeklagten Firmen rechtlich ab.

Weltweite Kooperation

Die Idee eines ethischen Gerichtshofes hat der 47-jährige Bogantes aus Amsterdam mitgebracht. Dort wurde 1991 ein internationales Wassertribunal inszeniert, auf dem weltweit arbeitende Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) zwölf Fälle von Wasserverschmutzung einbringen konnten, die von neun ehrenamtlichen Richtern in einer Woche verhandelt wurden. Javier Bogantes arbeitet seit mehr als 15 Jahren in unterschiedlichen Organisationen für den Schutz des Wassers.

Zusammen mit anderen Umweltorganisationen aus Lateinamerika brachte er eine Forderung gegen die Standard Fruit Company nach Amsterdam: Über die Marke Dole kontrolliert das Unternehmen ein Drittel des Bananenexports Costa Ricas und ist unter anderem für großflächige Wasserverschmutzungen durch Pestizide im Valle de la Estrella in Costa Rica verantwortlich. Der Fall wurde behandelt und das Unternehmen verurteilt, die umweltschädigenden Praktiken umzustellen. Angeregt durch diese Erfahrung, schlossen sich die lateinamerikanischen NGOs in der Gruppe „Rios Vivientes“ (lebendige Flüsse) zusammen mit dem Ziel, auch in Lateinamerika ein solches Tribunal zu veranstalten. 1993 verwirklichten sie ihre Vision in Brasilien und im Jahr 2000 in Costa Rica. Für das nächste Jahr planen die Gruppen eine weitere Anhörung von Fällen in Costa Rica, langfristig sollen die Umweltrichter alle drei bis vier Jahre zusammenkommen.

Madre Selva

Vor Gericht werden nur Fälle zugelassen, die schon seit einigen Jahren die Gemüter erhitzen und für die noch keine offizielle Lösung gefunden wurde, sei es auf politischer, juristischer oder ökonomischer Ebene. Für die Organisationen, die die Fälle als Ankläger vertreten und präsentieren, bedeutet die Anhörung und Verurteilung eine große Hilfe. Mit dem Urteil und der damit verbundenen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit können sie viel besser Druck auf die Firmen ausüben.

Im Jahr 2000 beispielsweise klagte die Umweltschutzorganisation „Madre Selva“ (Mutter Urwald) die US-Ölfirmen Basic Resources und Anadarko Petroleum Company an, durch Ölförderung in einem Naturschutzgebiet in El Petén, Guatemala, die Lagune Del Tigre vergiftet zu haben. Fünf Jahre lang hatten die Aktivisten protestiert und verhandelt, aber eine Einigung mit der Industrie war nicht in Sicht. Sobald jedoch bekannt wurde, dass die Organisation den Fall vor dem Tribunal in Costa Rica öffentlich machen wollte, kam ein Abgeordneter der Regierung Guatemalas, die ebenfalls angeklagt war, und war bereit, die Rückendeckung der Regierung gegenüber den Ölfirmen zu beenden. Im Gegenzug sollte der Fall nicht öffentlich verhandelt werden.

„Madre Selva“ ließ sich nicht auf den Deal ein und brachte den Fall vor das Tribunal. Die ehrenamtlichen, aber neutralen Richter verurteilten das Vorgehen der Ölfirmen. Sie verlangten den sofortigen Rückzug aus dem Naturschutzgebiet, Schadenersatz für die verursachten Umweltschäden, und sie mahnten die Regierung Guatemalas, in Zukunft für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen. Reporter aus Lateinamerika und der Welt berichteten über die Verhandlung. Der öffentliche Druck führte schließlich dazu, dass sich die Fördergesellschaften aus dem Gebiet der Lagune zurückzogen und auf benachbarte Ölquellen auswichen. Ein Teilerfolg, der ohne die Arbeit des Gerichts und dessen Helfer kaum vorstellbar schien.

Vor den medienwirksamen Urteilssprüchen liegen allerdings fast zwei Jahre aufwändiger Fallrecherchen. Die angezeigten Vergehen müssen vor Ort überprüft und Beweise gesammelt werden. Naturwissenschaftler nehmen Proben und werten sie im Labor aus, die Schäden werden dokumentiert, dann wird erst entschieden, ob der Fall zur Anhörung kommt. Wichtig ist dabei auch, wie viele Menschen betroffen sind und wie groß der Schaden für das Ökosystem ist.

Auch Javier Bogantes ist in der heißen Vorbereitungsphase viel unterwegs, reist nach Honduras, Panama und Guatemala, um Fälle zu sichten und Werbung für das Tribunal zu machen. Wo es möglich ist, löst er die Konflikte schon im Vorfeld auf friedlicher Basis. In Guatemala konnte er die verfeindeten Parteien im Streit um die Abholzung eines Gebiets in Sierra de las Minas an den Verhandlungstisch bringen: Eine Holzfirma blockierte den Zugang zum Wasser, nach 40 trockenen Tagen rebellierte die Bevölkerung dagegen und versperrte die Zufahrtswege für die Firmenfahrzeuge. Durch Bogantes’ Vermittlung einigten sich die Beteiligten und gaben die blockierten Wege und Ressourcen frei.

Menschenrecht oder Bedürfnis?

Neben der ethischen Rechtsprechung will Javier Bogantes mit seiner Arbeit aber auch die Menschen aufklären und ihnen bewusst machen, dass Wasser ein Menschenrecht ist. „Das Recht auf Wasser ist genauso wichtig wie das Recht auf freie Meinungsäußerung“, sagt der Anwalt. Das sehen die globalen Wasserunternehmen allerdings anders. Auf dem Weltwasserforum in Den Haag 2000 reduzierten die weltgrößten Wasserkonzerne wie Vivendi und Suez gemeinsam mit Vertretern der Vereinten Nationen und Ministern aus 140 Ländern das Recht auf Wasser auf ein Bedürfnis. Das bedeutet: Trinkwasser darf ein Handelsgut sein. Der Beschluss ist eine der Grundlagen für die aktuelle Politik der weltweiten Privatisierung der Wasserversorgung. Dagegen schreibt Bogantes an: Broschüren, Bücher und Ausstellungen warnen vor den Gefahren, wenn die öffentlichen Wasserversorger verkauft werden, sie informieren über das Tribunal und andere Umweltthemen.

Unterstützung und Erfolg

Finanziert wird das Wassertribunal über internationale Spenden. Von der Regierung Costa Ricas bekommt Bogantes keine Unterstützung. Kein Wunder: Im Jahr 2000 stand das Gesundheitsministerium in der Rolle eines Angeklagten vor Gericht. Das habe die Zusammenarbeit nicht gerade erleichtert, sagt der Anwalt. Doch die Erfolge geben der Arbeit des Tribunals recht. In Lateinamerika arbeitende Weltfirmen wie Del Monte oder Kimberly Clark respektieren inzwischen die Schuldsprüche als ethische Urteilsinstanz und ändern teilweise ihre Haltung. Doch der größte Erfolg bleibt, dass die Umweltschutzorganisationen „ein Forum erhalten, um die Fälle von Wasserverschmutzung öffentlich zu machen“, so Bogantes. Denn der Zugang zu sauberem Wasser ist so lebensnotwendig wie das Scheinen der gelben Sonne, die die kleine Alexa gerade auf das große Tuch malt.

Rolle der UNO

Schon heute haben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation mehr als 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, das entspricht etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung. Alle 14 Sekunden stirbt ein Mensch infolge verschmutzten Wassers, die meisten davon sind Kinder in Entwicklungsländern.

Die UNO hat daher das Jahr 2003 zum Jahr des Frischwas-sers erklärt und sich vorgenommen, die Zahlen bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Ein gewagtes Ziel, wenn man den weltweiten Trend zur Privatisierung des Wassers bedenkt und den damit einhergehenden Kontrollverlust der Regierungen über Qualität, Menge und Zugang zum lebenswichtigen Nass.

Dazu kommt: Zahlreiche Unternehmen zerstören Wasserressourcen, zum Beispiel bei Landwirtschaft, Bergbau, Holzhandel oder Ölförderung. Der Planet Erde ist zu mehr als drei Vierteln mit Wasser bedeckt. 97 Prozent davon sind Salzwasser, 3 Prozent Süßwasser, davon ist ein Prozent Trinkwasser.

Sonja Norgall

Wenn der Berater zweimal klingelt

„Hausbesuch statt Räumung“ fordert Hinz & Kunzt – wie das gehen könnte, zeigen SAGA und GWG

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Einem Menschen in Not ist alles zu viel. Zum Beispiel der junge Mann aus Bramfeld. Der SAGA-Mieter fand keinen Job, und dann ließ ihn zu allem Übel auch noch die Freundin sitzen. „Dem hatte die HEW schon den Strom abgedreht. Der hat sich um gar nichts mehr gekümmert“, erinnert sich Jürgen Menz. Als der 59-jährige Berater das erste Mal an der Wohnungstür des säumigen Mieters klingelte, öffnete niemand. Da warf Menz einen Brief ein und bot seine Hilfe an im Auftrag der SAGA. Zwei Tage später klingelte das Telefon: „Was können wir bloß tun?“, fragte der junge Mann verzweifelt. Menz hatte es geschafft: Der Kontakt war hergestellt.

Wie Jürgen Menz arbeiten zwölf weitere freiberufliche Mieterberater für die Firma „Wohnservice Hamburg“ (WSH). Die städtischen Wohnungsgesellschaften SAGA und GWG beauftragen ihr Tochterunternehmen immer dann, wenn ein Sachbearbeiter mit Mietern nicht mehr weiterkommt und eine fristlose Kündigung losschickt. Gut 2000 Mal im Jahr geschieht das, in immerhin rund 60 Prozent der Fälle können Menz und seine Kollegen nach Angaben der WSH die Zwangsräumung verhindern.

„Was können wir bloß tun?“, fragte der Mieter verzweifelt.

Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass das Sozialamt die Miete direkt überweist, wenn die Menschen Probleme im Umgang mit Geld haben, begleiten sie, wenn es Schwierigkeiten gibt mit Behörden, oder vermitteln sie weiter an Schuldnerberater. Und sie kümmern sich darum, dass die Mietrückstände beglichen oder notfalls vom Amt übernommen werden. Die Betroffenen sind über derartige Unterstützung nur froh, berichtet Mieterberater Menz: „Die sind alle dankbar. Dass jemand aggressiv wurde, habe ich jedenfalls noch nicht erlebt.“ Wenn er allerdings mehrfach vergeblich den Kontakt zum Mieter sucht, geht der Fall an die SAGA zurück und die Räumungsmaschinerie setzt sich in Gang.

„Da steckt einfaches kaufmännisches Kalkül dahinter“, kommentiert SAGA-Sprecher Adrian Teetz das Engagement der Unternehmen. „Bei einer Zwangsräumung gibt es nur Verlierer.“ Bis zu 5000 Euro muss ein Vermieter für die Abwicklung einer Räumung berappen – da komme die Arbeit der Mieterberater billiger, so der SAGA-Sprecher. Allerdings hat die Fürsorge der Wohnungsgeber auch ihre Grenzen: „Es gibt Menschen, die haben so viele Probleme, dass sie eine Wohnung aus eigener Kraft nicht halten können und betreut werden müssen“, sagt Teetz. „Das können wir nicht bezahlen.“

Inwieweit die Stadt solche Hilfen künftig leisten wird, ist unklar. Ein entsprechender Vertrag mit der Wohnungswirtschaft, die sich im Gegenzug verpflichten soll, wieder vermehrt an Sozialschwache zu vermieten, liegt Behörden und Bezirken seit April zur Abstimmung vor.

„Bei einer Zwangsräumung gibt es nur Verlierer.“

Das Problem – rund 2600 Menschen wurden im Jahr 2002 aus ihren Wohnungen geräumt – ist seit längerem bekannt. Dass es anders geht, zeigen Städte wie Duisburg, wo es Zwangsräumungen gar nicht mehr gibt, weil Prävention groß geschrieben wird (siehe H&K Nr. 123).

Ulrich Jonas

Grüne Zuflucht

Ansichten in einer Schrebergarten-Anlage in Altona

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Kleingartenanlage Altona Nord II.

Mein Dartpfeil ist in einer Schrebergartenanlage gelandet. Ich bin ihm gefolgt und stehe nun inmitten von Grün. Es ist still. Es riecht nach frischer Erde und nach Gras. Unter meinen Schuhen knirscht es, als ich einen schnurgeraden Kiesweg entlanggehe – die Hauptstraße der Kleingartenanlage Altona Nord II. Rechts und links hohe Hecken, dahinter ducken sich die insgesamt 52 Holzlauben in den Schutz hoher Bäume. Ein Idyll, das eingeklemmt ist von Hochhäusern auf der einen Seite und den Gleisen des Hauptgüterbahnhofs Eidelstedt auf der anderen.

Ich will erfahren, wie es so ist, das Leben als Schrebergärtner. Doch eigentlich mag ich keinen stören. Die Menschen sind alle so beschäftigt: sie entspannen, säen, zupfen Unkraut, mähen Rasen, lesen Zeitung, trinken Kaffee, plaudern, gucken in den Himmel. Sie sitzen meist ganz hinten in ihren Gärten, weit weg vom Gartenzaun. Doch das Ehepaar Will lässt mich herein. Das Gartentor knarrt leise. Wir setzen uns unters Wellblechdach ihrer Gartenterrasse. Helmut Will war früher Fahrdienstleiter am Hauptbahnhof, im Schichtdienst. Heute haben sie mit der Bahn eher Ärger. Laut donnern die Züge an den Gärten vorbei. Das scharfe Geräusch verdrängt für einen Moment Vogelgezwitscher und Blätterrascheln und verkrallt sich im Ohr. Gegen den Lärm haben die Wills Holzplatten vor die Hecke gestellt, die zu den Gleisen zeigt, und diese mit Gummimatten ausgekleidet. Es hilft nicht viel. „Und die Bahn will den Takt noch erhöhen“, sagt Helmut Will. „Noch mehr Züge sollen fahren, die Höchstgeschwindigkeit soll raufgesetzt werden.“

Am Bahndamm hat er mal zusammen mit ein paar Leuten aus dem Gartenverein Draht gespannt. Der Grund: „Immer wieder spielen Kinder dort, legen Gegenstände auf die Gleise, und wenn ein Zug dann da drüber rasselt, knallt es. Die Bahn sperrt das nicht genügend ab.“ Der Draht draußen am Damm ist an verrosteten Pfählen befestigt. Er ist an vielen Stellen schon wieder auf den Boden gedrückt oder ganz heruntergerissen. Zwischen Brennnesseln, Pusteblumen und Disteln liegen ein paar zerdrückte Bierdosen. Hier jedoch wird alles liebevoll gepflegt.

„Es ist schön, wenn man so sitzt und alles blüht“, sagt Frau Will und sieht über den Garten, der den Eheleuten schon seit 30 Jahren gehört. Die Fische im Teich sind zutraulich. Sie kommen angeschwommen, und wenn Herr oder Frau Will die Finger ins Wasser halten, saugen sie daran. An meinen Fingern saugen sie nicht, die gucken sie nur an. Die Wills haben Schnüre über den See gespannt, damit die Reiher die Fische nicht holen. Im Winter kommen sie jeden Tag her und sehen nach, ob alles heil ist. Füttern die Vögel, die Fische brauchen dann nichts. Es kam schon vor, dass eines Tages das Vogelhaus zusammen mit Mülltüten im Gartenteich lag, Blumentöpfe zerbrochen, die Erde verstreut. „Die haben noch nicht mal was geklaut, nur randaliert“, sagt Helmut Will und schüttelt den Kopf. Seine Frau nickt.

Der Blick fällt auf die Hochhäuser nebenan. Auch wenn viele, die hier einen Garten haben, in der Gegend wohnen, ist der Blick auf die Plattenbauten meist ein skeptischer. Ein Chaotenviertel sei das, sagt mir jemand, oder: „Dort wohnt jetzt alles.“ Von dort oben wurde mal geschossen, erzählt entrüstet eine Frau. Einer wollte sich runterstürzen, und vor 30 Jahren sei tatsächlich einer gefallen, er saß im Fenster und hatte zu viel Bier getrunken. Kommen nun von dort diejenigen, die auf den Spielplätzen Reifen zerstechen und in den Gärten randalieren? „Es gibt eben auch immer welche, die sich nicht ganz anpassen“, so erklärt sich das Frau Will. Richard Schmidt ist der gleichen Ansicht. Der 71-Jährige ist bereit, seinen Garten mit allen Mitteln zu verteidigen. Nicht gegen den Zuglärm, der stört ihn nicht. „Terror im Kleingarten. Du wirst abgefackelt!“, sagt er und zeigt mir einen drei Jahre alten Zeitungsartikel aus einem Lokalblatt. Seit damals sein Geräteschuppen in Brand gesteckt wurde und dabei fast die Laube abgebrannt wäre, hat er aufgerüstet. Drei Gewehre und eine Pistole hängen neben Geweihen im Haus. Nach eigenem Bekunden alle geladen. „Ich hab seitdem einen Waffenschein“, sagt er und bietet mir einen Kaffee an. „Irgendwie muss ich ja die Enkel verteidigen, wenn sie hier schlafen und irgendwas ist.“ Seit dem Vorfall hat er Gartentor und Laube mit einer Alarmanlage gesichert. Auch einen Schäferhund haben sie jetzt, wie der Nachbar.

Meine Blicke huschen durch die kleine Gartenlaube. „Haben wir alles in Handarbeit selbst aufgebaut“, sagt er stolz. Es ist alles da, sogar ein Fernseher. Eine kleine Küchenzeile. Auf der ausklappbaren Couch sitzen Puppen, auf dem Regal stehen zwei beleuchtete Mickeymäuse neben diversen Pokalen. Eine Art Miniwohnung auf 20 Quadratmetern. Richard Schmidts Sohn Thomas mäht derweil draußen um einen Fahnenmast herum, an dessen Spitze eine Hamburg-Flagge weht. Im Hintergrund ein Wetterhahn auf dem Laubendach. Davor Blumenbeete, um die herum gleichfarbige, gleichgroße Steine liegen. Auf den Beeten Gartenzwerge. Der 39-Jährige arbeitet in der eigenen Gartenbaufirma, zusammen mit seinem Vater. Familienbetrieb seit fast sechzig Jahren. Vor seinem Haus in Bahrenfeld hat er auch einen Garten. So wird das Leben der Schmidts maßgeblich von Gärten geprägt.

Ein paar Parzellen weiter treffe ich einen Mann mit grauem, nach hinten gekämmtem Haar. Er trägt eine blaue Latzhose und klobige Arbeitsschuhe. Wolfgang Brenker erzählt über den Zaun hinweg. Sein Garten ist ihm alles, als Rentner hat er Zeit. Er kommt jeden Tag. „Ich mach dann hier was und da was. Und wenn ich nicht mehr kann, setz ich mich hin und ruh mich aus.“

Sein Blick fällt auf den Garten nebenan. Dort stehen weiße Blumen auf der Wiese, die viel höher ist als in all den anderen Gärten. Am Obstbaum hängen noch Ostereier, obwohl Ostern längst vorbei ist. Der Garten gehört einer alten Dame, frisch operiert, die kann im Moment nicht mehr so, klärt mich der alte Mann auf. „Bald geh ich nach drüben und mach das weg. Das kommt sonst alles hier rüber“, erklärt er. Schade, denke ich, und sehe auf die hohe Wiese. Ich denke an die Schmetterlinge, die über die Blüten flattern und miteinander flirten. Wolfgang Brenker stützt sich auf seinem Gartenzaun ab. „Und wissen sie, warum ich es noch nicht weggemacht habe?“ Er sieht mich an und blinzelt gegen die Sonne: „Wegen den Schmetterlingen lass ich es noch eine Weile stehen.“

Als der Kiesweg aufhört und es unter meinen Schuhen wieder still ist, habe ich die Schrebergärten hinter mir gelassen. Ich will schon gehen, da sehe ich Eduard. Er sitzt auf einer Bank und sieht auf das Hochhaus, in dem er wohnt. Eduard ist 73. Er ist vor zwölf Jahren mit seiner Frau aus Kasachstan gekommen. Hier gefällt es ihm. Mit der Zwei-Zimmer-Wohnung ist er zufrieden. Er hat nette Nachbarn, sagt er. Mit einem macht er immer vor dem Haus sauber, sammelt den Müll weg, das macht sonst keiner. „Und ich kann mittlerweile ganz gut lesen“, sagt er. Früher war er Analphabet. „Sechs Stunden pro Woche lesen wir in der Bibel. Zwei am Sonntag, zwei am Dienstag, zwei am Donnerstag. So habe ich es gelernt.“ Eduard ist Zeuge Jehovas. Heute war er schon im Dienst, hat viele Prospekte verteilt. Jetzt lässt er sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Als ich gehe, schaue ich noch mal zurück. Eduard ist jetzt ganz klein. Er winkt.

Katja Thomas

Nr. 4: Kundenfreundliches Amt

Zehn Jahre Hinz & Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Darum geht es:

Sozialhilfeempfänger müssen oft stundenlang warten, bis ihnen geholfen wird. Sie bekommen ihren Sachbearbeiter nicht ans Telefon oder werden nur mangelhaft beraten. Anträge bleiben liegen, weil die Sozialämter überlastet sind. Die Mitarbeiter müssen zu viele Hilfeempfänger betreuen – und sollen jeden Euro dreimal umdrehen, bevor sie ihn bewilligen. Die Atmosphäre in den meisten Dienststellen ist abweisend, schon die Ausstattung der Räume signalisiert: Bürger, bleib lieber weg! Doch Sozialhilfe ist kein Almosen, sondern gesetzlich verbürgter Anspruch.

Der Hintergrund:

Rund 110.000 Menschen in Hamburg sind auf Sozialhilfe angewiesen. Die Sozialämter in den Bezirken sollen ihnen helfen. Betroffene klagen jedoch über ein zunehmend raues Klima. Der Umgangston werde immer unfreundlicher, Anträge würden Wochen und Monate lang nicht bearbeitet, Unterlagen mitunter verschwinden. Eine Gruppe Hamburger Hilfe-Empfänger („Initiative Projekt Class Action“) spricht von „massenhaften und staatlich organisierten Grund- und Menschenrechtsverletzungen“ mit dem Ziel, „Menschen von der Sozialhilfe fernzuhalten und dadurch Kosten einzusparen“. So habe zum Beispiel eine Kranke, die dringend einen Kühlschrank benötigte zur Aufbewahrung ihrer Medikamente, ein dreiviertel Jahr auf die Bewilligung ihres Antrags warten müssen. Die Initiative will die Hansestadt auf Basis von 80 dokumentierten Fällen vor einem US-amerikanischen Gericht verklagen.

Offensichtlich sollen immer weniger Sachbearbeiter immer mehr Notleidenden helfen. Statt 1300 Mitarbeitern 1992 sitzen heute nur noch rund 730 Kollegen in Hamburgs Bezirks-Sozialämtern, so ein Sachbearbeiter, der ungenannt bleiben möchte. „Seit Jahren herrscht Einstellungsstopp, die Kollegenschaft ist überaltert, bei vielen schwinden die Kräfte.“ Weiteres Problem: Wer einmal im Sozialamt arbeite, komme von dort nicht mehr weg. Die Folgen: hohe Krankenstände, oft wenig motivierte Sachbearbeiter, schlechte Betreuung der Hilfesuchenden. „Bei uns waren vergangenes Jahr manchmal nur zwei von zehn Kollegen am Arbeitsplatz“, so der Sozialamts-Angestellte. Gleichzeitig werde die Kundschaft zunehmend schwieriger: „Wir haben immer mehr psychisch Kranke.“ Dennoch steige der Druck von oben, die Zahl der Hilfeempfänger zu senken. Lieber wäre dem Sachbearbeiter stattdessen die Verdoppelung des Personals: „Dann hätte man Zeit, tatsächlich nach Lösungen zu suchen.“

Das Bezirksamt Harburg teilt mit, die Zahl der Mitarbeiter in den Sozialämtern sei „in etwa gleichbleibend“. Jeder der 95 Sachbearbeiter habe 160 bis 170 Haushalte zu betreuen, „Sicherstellung laufender Leistungen hat Vorrang“. Der Bezirk Eimsbüttel beantwortet „Fragen zur Personalausstattung und Arbeitsbelastung der Mitarbeiter generell nicht“. In dringenden Fällen würden Anträge „innerhalb weniger Tage oder in ganz besonderen Ausnahmefällen innerhalb eines Tages entschieden“. Im Bezirk Mitte muss jeder der 145 Sachbearbeiter rund 150 Fälle bearbeiten, so das Bezirksamt.

Die Entwicklung der Mitarbeiter-Zahl „wurde statistisch nicht erfasst“. Die Wartezeit auf den Ämtern schwanke zwischen „zehn Minuten, in Einzelfällen auch über eine Stunde“. Interne zeitliche Vorgaben, wann Anträge spätestens entschieden werden müssen, gibt es auf den Sozialämtern nicht.

Eine eigene Anlaufstelle bietet die Stadt für Menschen ohne festen Wohnsitz. Sie müssen ins Referat „Hilfen für wohnungslose Menschen“, das ehemalige Landessozialamt. In dem Gebäude an der Kaiser-Wilhelm-Straße (Neustadt) herrschen zeitweise chaotische Zustände. In der Vergangenheit waren Stellen unbesetzt, überdurchschnittlich viele Mitarbeiter meldeten sich krank, die Sprechzeiten wurden eingeschränkt. Hilfeempfänger können ihre Anliegen gar nicht mehr oder nur nach stundenlangem Warten vorbringen.

Derzeit suchen an den wichtigsten Sprechtagen, montags und donnerstags, zwischen 300 und 500 Menschen das Haus auf. Sie müssen eine Wartenummer ziehen und werden aufgerufen. „Aufgrund des hohen Besucheraufkommens ist die telefonische Erreichbarkeit der Sachbearbeiter oft schwierig“, räumt Behördensprecherin Anika Wichert ein. Die Wartezeit sei „zurzeit noch sehr lang, bis zu sieben Stunden“. 40 Mitarbeiter sind im „Landessozialamt“ tätig, darunter auch Teilzeitkräfte. Nach Behördenangaben wurde das Personal in den vergangenen Jahren aufgestockt, 2001 gab es nur 32 Mitarbeiter. Eine Vollzeitkraft ist im Schnitt für 110 Hilfeempfänger zuständig.

Zwei „Schnellschalter“ (auch hier müssen aber Nummern gezogen werden) sollen seit diesem Monat die Wartezeiten verkürzen. Die Counter sind für Anliegen gedacht, die keiner Beratung bedürfen, zum Beispiel das Ausstellen eines Krankenscheins. Außerdem will die Behörde drei zusätzliche Sozialarbeiter einsetzen, die sich um Hilfeempfänger kümmern sollen – vor allem um junge Erwachsene, um Betroffene, die ihre Wohnung gerade erst verloren haben, und um Menschen, bei denen mehrere Probleme zusammenkommen, etwa Obdachlosigkeit und Sucht.

Wie andere es besser machen:

Kein Hilfesuchender soll länger als zehn Minuten warten: Das ist die Vorgabe für Mitarbeiter der „Job Center“ in Großbritannien, wo Sozial- und Arbeitsämter bereits zusammengelegt sind. Freundlich eingerichtet sind die Räume, von neun bis 18 Uhr sind die Beratungszentren werktags geöffnet, sonnabends bis zur Mittagszeit. Die Idee: Hilfesuchende sollen vor allem spüren, dass sie hier Unterstützung finden. Solche Konzepte sind nicht billig. Drei Milliarden Euro hat die britische Regierung in den Aufbau der Job Center investiert. Doch am Ende könnte sich das Modell rechnen: Mit jedem, der Arbeit findet, spart der Staat schließlich Geld.

Lernen lässt sich auch von deutschen Behörden: Im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf zum Beispiel, stehen den 160 Sachbearbeitern auf den Sozialämtern immerhin 20 Sozialarbeiter zur Seite. „Es erfordert eine bestimmte Qualifikation, die Schwierigkeiten der Menschen zu sehen“, sagt Sozialstadträtin Martina Schmiedhofer. Dennoch mag sie nicht behaupten, die Sozialämter in ihrem Bezirk seien kundenfreundlich: „Man kann das tollste System haben: Wenn nicht genügend Mitarbeiter da sind, gibt es immer Hetze und Stress.“

So müsste es laufen:

– deutlich mehr Mitarbeiter in den Sozialämtern

– mehr und besser ausgebildete Sozialarbeiter, die sich auch um „schwierige Fälle“ kümmern bessere telefonische Erreichbarkeit der Ämter und Sachbearbeiter

– kürzere Wartezeiten, vor allem in der Kaiser-Wilhelm-Straße

Detlev Brockes/Ulrich Jonas

Palmen für St. Pauli

Wünschen hilft doch – der Traum von einem Park wird Wirklichkeit

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Palmen sind auf St. Pauli nicht vorgesehen, eigentlich. Aber schön wäre es schon, dachte sich vor sieben Jahren so mancher aus der Nachbarschaft, einige wünschten sich „verschiebbare Inseln“, andere Plattformen, auf jeden Fall mit Palmen. Und tatsächlich: Seit ein paar Wochen wachsen aus dem Dach der neu gebauten Turnhalle am Pinnasberg drei meterhohe Palmen. Sie sind aus Stahl, schließlich liegt St. Pauli nicht in der Südsee, sondern gegenüber vom Blohm+Voss-Dock. Doch von weither sichtbar grüßen sie Einheimische wie Fremde und erinnern daran, dass das Wünschen auch heutzutage manchmal hilft.

Jedenfalls, wenn man es so hartnäckig und phantasievoll betreibt wie die Gruppe Park Fiction. Die errang im vergangenen Sommer die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstwelt, weil ihr Projekt zur documenta nach Kassel eingeladen wurde. Jetzt ist die Ausstellung mit Film-, Bild-, und Ton-Dokumenten, Park-Modellen, Briefwechseln und Texten wieder in Hamburg zu sehen. Das freut die Aktivisten wie den 36-jährigen Dirk Mescher. Doch viel mehr freuen ihn und all die anderen, die im Laufe der Jahre für einen Park gearbeitet und gestritten haben, dass die Wirklichkeit nur noch 500 Meter Luftlinie von der Fiktion entfernt liegt. „Als ich die Palmen das erste Mal gesehen habe, musste ich mich kneifen, um mir sicher zu sein, dass ich nicht träume“, lacht Dirk Mescher, der um die Ecke in der Detlev-Bremer-Straße wohnt. Jessica David sagt, dass ihr die Tränen kamen, als sie sah, dass Bauarbeiter am Antonipark „wirklich Palmen aufgestellt und Rollrasen verlegt haben“.

Jessica ist zwölf und lebt im Kinderhaus am Pinnasberg. Mit anderen „Kinder-Guides“ führt sie durch die Park Fiction-Ausstellung. Als das Projekt begann, war sie gerade geboren. Als sie sechs war, fragte die Filmemacherin Margit Czenki sie und andere aus dem Kinderhaus nach ihren Park-Wünschen. Jessica malte ein Bild, das sie jetzt aus dem „Wunscharchiv“ der Ausstellung zieht. Darauf sieht man ein Hausdach mit einer Rutsche und ein riesiges Klettergerüst, „mindestens fünf Meter hoch, damit die Kinder ihre Höhenangst überwinden können“, erläutert sie ihre Idee von damals. Daneben hat sie zwei Schaukeln gemalt: „Eine für die Jungs und eine für die Mädchen, damit alle genug Platz haben und sich nicht ständig in die Quere kommen.“

Diesen Wunsch kann man gut verstehen, wenn man weiß, dass Jessica, wie viele Kinder auf St. Pauli, immer nur den Spielplatz an der Silbersackstraße hatten, einen der wenigen in einem Viertel, das zu den dichtbesiedeltsten in der Stadt zählt. Ein Viertel, in dem auch Erwachsene wenig Auslauf haben: die größte zusammenhängende Grünfläche ist bislang das Millerntorstadion. Kein Wunder also, dass es schon 1959 St. Paulianer gab, die einen Park forderten. Der Wunsch blieb eine Utopie, die Anfang der neunziger Jahre, nach dem erfolgreichen Kampf um die Hafenstraße, vom „Hafenrandverein für selbstbestimmtes Leben auf St. Pauli“ wieder aufgegriffen wurde. Damals drohte eine Blockbebauung allen Grünträumen den endgültigen Riegel vorzuschieben. Sie wurde verhindert, und anders als andere Stadtteil-Initiativen beschränkten sich die Park-Aktivisten dabei nicht auf die üblichen Rituale von Protest und Mitbestimmung. „Nur damit hätten wir niemals so lange durchgehalten“, ist sich Dirk Mescher sicher.

Mit Theaterstücken, Filmen, symbolischen Baumpflanzungen, Grillaktionen, Festen und irgendwann dem ,Park-Fiction-Container‘ am Ort „haben wir immer schon ein Stück Utopie wirklich werden lassen, und dadurch sind natürlich auch wieder neue Ideen entstanden“. Park Fiction eben, an der Künstler wie Christoph Schäfer und die Filmemacherin Margit Czenki maßgeblichen Anteil hatten. „Aber als wirklich Beteiligte“, als Anwohner, die genauso hier leben wie die Kinder vom Pinnasberg, die Nachbarn, die sich in der Gemeinwesenarbeit St. Pauli Süd engagieren, die Lehrer an der Schule Friedrichstraße oder die Gastronomen am Hein-Köllisch-Platz.

Oder eben der Anwohner und Sozialwissenschaftler Dirk Mescher, der jetzt vor der leuchtend bunt gemalten Bautafel steht und erklärt, wie die Wünsche Wirklichkeit wurden. Das Tartan-Sportfeld mit dem Tulpenmuster beispielsweise, eine Idee der damals 17-jährigen Nesrin Biegün. „Sie wollte Platz für Sportarten wie Basketball oder Badminton, ließ sich von den Teppichmustern ihrer türkischen Heimat inspirieren und entdeckte dabei schließlich die Tulpe als Symbol für einen aufgeklärten, toleranten Islam wieder.“ Sabrina hatte sich als Kind eine riesige Erdbeere gebaut, „die soll ein Baumhaus sein. In das dürfen nur Kinder rein und keine Erwachsenen. Damit wir die Erwachsenen endlich mal loshaben.“ Auch die Erdbeere wird demnächst wohl gebaut, aber Sabrina ist inzwischen kein Kind mehr, sondern ein Teenager, die ihre Idee von damals kindisch und uncool findet, erzählt Dirk Mescher.

So etwas passiert eben, wenn es so lange dauert, bis Wünsche wahr werden. Wie lange und mühselig es war, dokumentieren die Ak-tenordner voller Anträge und Gegen-Anträge, Bürgerschafts- und Bezirksversammlungs-Beschlüsse in dem Teil der Ausstellung, der „Mit der Bürokratie im Bett“ heißt.

Doch nicht nur die Bürokratie steht den Wünschen im Weg, manchmal sind es auch die Menschen selbst, vor allem die Älteren, die gar nicht mehr wissen, wie das Wünschen überhaupt geht. Vielleicht, weil sie lange nicht danach gefragt worden sind. Wie viele andere ist Dirk Mescher von Haus zu Haus gegangen, damit der Park nach den Vorstellungen der Leute Gestalt annimmt.

Ausgerüstet mit dem „Action Kit“, einer Art Bastelkoffer mit Knete, Buntstiften und einem Panorama der Gegend. „Ein älterer Mann meinte zum Beispiel, es müsse etwas für Kinder geben. Aber für ihn selbst fiel ihm erst mal gar nichts ein.“ Schließlich habe er sich Bänke gewünscht, weil er nicht mehr so gut zu Fuß war, „wie Bänke eben so aussehen“. Doch am Ende habe er eine Art Bank-Schlange durch den ganzen Park entworfen, „so dass man sich jederzeit setzen kann“.

Auch Jessica sagt von sich, dass sie durch die ganzen Park-Ideen überhaupt erst gelernt habe, „mir Sachen vorzustellen. Früher konnte ich das überhaupt nicht.“ Heute ist sie eine der Engagiertesten in der Theatergruppe ihrer Schule, und das soll später auch mal ihr Beruf werden, wünscht sie sich ganz selbstbewusst. Auch wenn am Ende längst nicht alles verwirklicht werden kann: Dass so viele die Kraft der Wünsche überhaupt wieder entdeckt haben, das ist wahrscheinlich die größte Kunst an Park Fiction. Margit Czenki sagt es in ihrem Film mit einem wunderbaren Satz, der vor Ort fast schon ein geflügeltes Wort ist: „Die Wünsche verlassen die Wohnung und erobern die Straße.“

Abgesehen davon freuen sich der balkonlose Dirk Mescher und die von Mallorca träumende Jessica jetzt erst mal wahnsinnig auf das erste Sonnenbad in ihrem Park. Und wenn auf St. Pauli schon Palmen wachsen, wer weiß, was dann noch alles möglich ist. Zu wünschen bleibt jedenfalls genug.

Sigrun Matthiesen

Wasser: Die Pferdeschwemme

Zu Besuch in Hamburgs einziger Badeanstalt für Ross und Reiter

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Celim, die 6-jährige ungarische Lipizzaner-Stute, schnaubt leise vor sich hin. Neben ihr steht Magic, eine Mischung aus Araber-Vollblut und Hannoveraner-Stute. Magic hat die Ohren weit nach vorne gespitzt, so als warte sie nun ganz neugierig auf ein nächstes Abenteuer. Eben noch sind beide Pferde inmitten einer Herde aufgeregt durch das Wasser der Dove-Elbe gespritzt, haben mit den Hufen Schaumkronen aufgeschlagen und dabei nicht nur die Hosenbeine der Reiterinnen durchnässt. Wie kleine Kinder haben sie da getobt, wenn die sich im Badebecken unter Gejohle und bis zur Erschöpfung mit den Händen gegenseitig Wasser auf die Körper schaufeln.

Jetzt prustet auch Magic ganz zufrieden, und Celim beginnt langsam, ihr mit dem Maul das Fell am Mähnenkamm zu kraulen. Ganz dicke Pferdefreundschaft demonstrieren die beiden nun. Schließlich klappt Magic schnell noch die Oberlippe über die Nüstern, so als versuche sie, nie mehr diese Witterung zu verlieren, diesen Duft vom Wasser und den vom befreundeten Pferd, die jetzt wohl gleichermaßen in ihrer Nase hängen.

Sommerzeit ist Badezeit, auch für Pferde. Im vierten Jahr nun schon gibt es für sie in den Vier- und Marschlanden eine eigene Badeanstalt, die einzige offizielle Schwemme dieser Art auf Hamburger Gebiet. Am Moorfleeter Deich wurde sie vom Bezirksamt Bergedorf gemeinsam mit den umliegenden Reiterhöfen und mit Zustimmung des Wasserwirtschaftsamtes in die Dove-Elbe gebaut.

Etwa 3.500 vor allem Reit- und Freizeitpferde leben in den ländlichen Randgebieten der Großstadt Hamburg, knapp die Hälfte davon in den Vier- und Marschlanden. Über Jahrhunderte schon war es den jeweiligen Besitzern gestattet, ihre Tiere zur Erfrischung in naheliegende Gewässer zu führen. Um mögliche Widersprüche zum heutigen Baderecht mit seinen Verschmutzungsverordnungen zu umgehen, ist deshalb im Frühjahr 2000 an der Dove-Elbe die Pferdeschwemme errichtet worden – eine Art Badestrand mit festem Sanduntergrund für die schweren Huftiere, der sanft ins Wasser abfällt. Ein paar Meter vor dem Ufer ragen einige hölzerne Pferdeköpfe aus dem Wasser; für Mensch und Tier eine lebensgroße Symbolik, wer hier welche Vorrechte genießt.

Pferde dürfen seither ganz offiziell dort baden – ein paar hundert Meter weiter gilt gleiches übrigens auch für Hunde –, Menschen hingegen nur auf eigene Verantwortung. An warmen Sommertagen, wenn auch die Ufer der Dove-Elbe Ziel unzähliger Kurzurlauber aus der Großstadt werden, „haben wir hier Zuschauer hoch drei. Die Leute fasziniert, was sie sehen“, erzählt Helmut Burmester, Vorsitzender des Reit- und Fahrvereins Allermöhe/Moorfleet/Reitbrook und Besitzer eines benachbarten Reiterhofes.

Beispielsweise, wenn Pferd und Reiterin gemeinsam hinaus in den Fluss schwimmen. „Das ist voll cool. Wir machen das an heißen Sommertagen“, sagt Ramona, die 15-jährige Tochter des Reiterhof-Besitzers, die heute Nachmittag auf dem Rücken von Celim sitzt. Und ihr Vater fügt hinzu: „Bei Flipper auf der Rückenflosse zu liegen muss ein ähnliches Gefühl sein.“ Pferde können sich beständig über Wasser halten. Ramona steigt dann erst draußen im Fluss aus den Sattelschlaufen, um sich zunächst längs über dem Pferderücken auszustrecken und schließlich sanft an die Seite des schwimmenden Tiers zu rutschen.

Zwar können einige Pferde durchaus Scheu vor Wasser zeigen. Doch die lässt sich, vor allem im jungen Fohlenalter, leicht nehmen durch ein behutsames Heranführen an das nasse Metier. Pferde sind nämlich auch neugierige Wesen, und Herdentiere sind sie sowieso. Wo zunächst nur einige von ihnen vergnügt durchs Wasser pflügen, stieben auch die zunächst Scheueren irgendwann ganz aufgeregt hinterher. Und verhalten sich fortan vielleicht so, als hätten sie dies eigentlich schon immer so gewollt.

Zum Wasser wollte heute auch Magic wieder. Vorhin auf den paar hundert Meter Weg vom Hof zur Badestelle, erzählt die 16-jährige Reitschülerin Katharina auf Magic’s Rücken, „da hab ich schon gespürt, wie sie sich freut. Sie wusste, wohin wir reiten. Und als sie dann im Wasser planschte, da fand sie das ganz toll.“

Peter Brandhorst

Stelldichein der Straßenkicker

In Graz treffen sich Wohnungslose aus 18 Ländern zu ihrer ersten Fußball-Weltmeisterschaft

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Blondi keucht. Er ist aus der Puste. Die Sonne brennt, und die Beine sind schwer geworden nach dem 30-Meter-Spurt um die Kugel. Immerhin ist es eine Weile her, dass der 36-Jährige das letzte Mal Fußball gespielt hat. „Lass uns eine Pause machen!“, ruft der Hinz & Kunzt-Verkäufer seinem Kollegen Frank zu. Dem ist das recht. „Laufen ist nun mal etwas anderes als Fahrrad fahren“, sagt der 37-Jährige, der eine einfache Begründung dafür hat, warum er unbedingt beim Stelldichein der Straßenkicker dabei sein will: „Fußball ist Sport. Und Sport ist gut.“

Frank und Blondi gehören zur achtköpfigen deutschen Mannschaft, die im Juli in Österreich mit Wohnungslosen aus 18 Ländern um den Weltmeistertitel der Wohnungslosen kicken wird. Die Idee zum „Homeless World Cup“ hatten Mitarbeiter des Grazer Straßenmagazins Megaphon. Welcher Ort, so fragten sich die Kollegen vom H&K-Schwesterprojekt, bietet sich besser an für eine Obdachlosen-Weltmeisterschaft als die europäische Kulturhauptstadt 2003 – wo Fußball doch ein ebenso globales wie Kulturgrenzen überschreitendes Phänomen ist…

Die Resonanz ist überwältigend: Teams aus vier Kontinenten werden in Graz auflaufen. Vom Welt-Fußballverband UEFA bis zur US-Botschaft in Österreich reicht die Liste der Kooperationspartner und Sponsoren. Während die deutsche Mannschaft – je zwei Spieler kommen aus Freiburg, Stuttgart, Regensburg und Hamburg – auf die Gunst der Stunde setzen muss (siehe Interview), laufen anderswo seit Monaten die Vorbereitungen.

„Meine Jungs spielen Qualitäts-Fußball“, sagt Sigi Milchberger, Trainer der Gastgeber-Mannschaft, die zu den Favoriten zählt. „Black is beautiful“ könnte das Motto des jungen österreichischen Teams lauten. Denn die Ballkünstler stammen aus Nigeria, Kamerun oder Senegal – Flüchtlinge aus Krisenregionen, die auf verschlungenen Wegen die Stadt an der südlichen EU-Grenze erreicht haben und dort mit dem Verkauf des Straßenmagazins ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Die US-amerikanischen Straßenfußballer trainieren sogar schon seit vergangenem Herbst in einer New Yorker Turnhalle. „Wir gelten als Außenseiter“, sagt Ron Grunberg, Herausgeber des Straßenmagazins BIGnews. „Doch wir haben den tiefen Glauben daran, dass wir gewinnen können.“ Prominente Unterstützung hat die Konkurrenz aus Spanien und Großbritannien erhalten: Star-Fußballer und Trainer der Spitzenclubs Real Madrid und Manchester United nahmen die Streetsoccer-Teams unter ihre Fittiche. Bewerber für die englische Auswahl mussten erst mal zum Vorspielen nach Manchester reisen. Nur die Besten wurden dort ausgewählt unter den Augen von United-Trainer Sir Alex Ferguson.

Auf der Insel hat der Kick unter Wohnungslosen bereits Tradition: Um die „Streetleague“ spielen sie dort seit Jahren, und kein geringerer als Gilberto Silva ist Schirmherr der besonderen Fußball-Liga. Silva, brasilianischer Nationalspieler in Diensten von Arsenal London, hat nicht vergessen, wo seine Wurzeln liegen: auf der Straße, in den Slums. Dort spielen die Kids Tag für Tag, von morgens bis abends.

Eine deutsche Straßenfußballer-Biografie sieht ein wenig anders aus: Blondi ist gelegentlicher Hobby-Kicker. Er setzt auf „gutes Stellungsspiel“ und darauf, „dass ich mit Alkohol und Zigaretten nichts am Hut habe“. Frank war als Kind „mehr für Leichtathletik“, wurde vom Vater für den Fußball gewonnen und hat später „in Kneipenmannschaften gespielt“. Doch das ist lange her. „An der Kondition müssen wir noch arbeiten“, bilanziert Blondi selbstkritisch. Übertreiben werden sie es aber nicht mit der Vorbereitung. Wie sagt Frank so schön: „Das Wichtigste ist der Spaß.“

„Schöne Freundschaften“

Interview mit Reinhard Kellner (53), Vorsitzender des Bundesverbandes Sozialer Straßenzeitungen und Trainer der deutschen Auswahl

H&K: Warum eine Straßenfußball-Weltmeisterschaft der Obdachlosen?

Reinhard Kellner: Wir wollen zeigen, dass sich Arme, Obdachlose, Sozialhilfeempfänger weltweit organisieren können, auch über die Straßenmagazine hinaus. Es geht darum, gemeinsam Sport zu machen und Kameradschaft zu erleben, aber auch, über Armutsbekämpfung weltweit zu diskutieren. Da kommen ja Menschen aus 18 Ländern zusammen.

H&K: Die deutsche Mannschaft spielt mit Wohnungslosen aus vier Städten. Wie bereitest du das Team auf das Turnier vor?

Reinhard Kellner: Ausschließlich mental. Wir treffen uns ja erst am Abfahrtstag. Da können wir höchstens noch neben der Autobahn trainieren. Aber Deutschland war immer schon eine Turniermannschaft.

H&K:Wer wird Weltmeister?

Reinhard Kellner: Ich geh davon aus, dass die Brasilianer gewinnen werden, weil die mit relativ jungen Leuten kommen und einfach gut spielen. Aber das ist nicht so wichtig. Ich hoffe, dass der Austausch der Spieler untereinander im Vordergrund stehen wird.

H&K: Gibt es wenigstens eine Außenseiter-Chance für die deutsche Mannschaft?

Reinhard Kellner: Unser Ziel ist es, die Vorrunde zu überstehen. Es gibt schon ein paar Teams, bei denen wir denken, dass wir mithalten können. Wir haben halt eine relativ alte Mannschaft, Durchschnitt 35, eher zu den 40 hingehend. Das Team der Österreicher zum Beispiel besteht ausschließlich aus jungen Modellathleten. Die werden uns wohl von der Bühne putzen.

H&K: Wird es künftig regelmäßig Weltmeisterschaften geben?

Reinhard Kellner: Ich kann mir das gut vorstellen. Kulturhauptstadt Europas wird ja immer wieder eine andere Stadt. Und das lässt sich gut miteinander verbinden.

H&K: Können wir auf eine Fußball-Bundesliga der Obdachlosen hoffen?

Reinhard Kellner: Also, eine süddeutsche Meisterschaft gibt es ja schon. Daraus sind schöne Freundschaften unter Verkäufern entstanden. Inwieweit sich die Nordlichter von so etwas anstecken lassen, werden wir sehen.

H&K: Warum trägt die deutsche Mannschaft eigentlich orangefarbene Trikots mit dem Schlachtruf „venceremos“?

Reinhard Kellner: Die Greenpeace-Designerin hat die Trikots entworfen und hatte bei der Farbe freie Hand. Von mir stammt die Idee mit „venceremos“. Das heißt ja: Wir werden gewinnen, und das tun wir auch. Wir werden nämlich alle gewinnen, weil wir uns sehen, treffen und austauschen.

Ulrich Jonas