Vom anderen Stern

Warum der Schanzenpark ohne ein Hotel im Wasserturm viel schöner ist

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Für Parks werden ja bislang noch keine Sterne verteilt. Doch wenn es welche gäbe, dann würde der Schanzenpark wahrscheinlich mit fünf Sternen ausgezeichnet – jedenfalls von denen, die ihn nutzen. Zwar gibt es hier keine Springbrunnen, keine raffinierten Rabatten wie in Planten un Blomen und auch keine weitschweifige Wegeführung mit spektakulären Aussichten wie im Jenischpark. Nein, der Schanzenpark besteht aus drei Rasenflächen, die am Ende des Sommers ziemlich abgeschabt sind, Bäumen, die alt genug sind, um Schatten zu werfen, es aber auch nicht übel nehmen, wenn sie mal einen Ball an die Krone kriegen, zwei eingezäunten Spielplätzen und zwei Fußballfeldern. Und natürlich aus dem fast 100 Jahre alten Wasserturm, immerhin der größte Europas. Der soll nun ein Vier-Sterne-Hotel werden.

Bis jetzt thront er als eine Art Wahrzeichen fürs ganze Viertel mitten im Park auf dem Hügel und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass weder die städtische Denkmalpflege noch sein stolzer Besitzer in letzter Zeit viel für ihn getan haben. An seinem Fuß entsteht in den seltenen schneereichen Wintern eine der längsten Rodelbahnen der Stadt. Im Sommer findet unter seinen Augen all das statt, was den Park zur Fünf-Sterne-Anlage macht: Menschen jeden Alters, meist männlich, rennen Bällen unterschiedlichster Größe hinterher, werfen mit Boule-Kugeln oder Frisbee-Scheiben. Andere rennen sich die Lunge aus dem Leib. Auf dem Hang sitzen Trommler, Jongleure, Biertrinker, Kaffeetrinker, Teetrinker und auch Kiffer. Kinder erproben die Geländetauglichkeit von Bobbycars, Dreirädern und ihrem ersten Fahrrad, Hunde lernen zu apportieren – oder auch nicht. Männer, Frauen und Kinder sammeln sich um Feuerstellen mit riesigen Fleischstücken. Einzelgänger lesen, Pärchen liegen stundenlang bewegungslos auf dem Rasen. Manche, zu wenige eigentlich, küssen sich auch. Dazwischen laufen von Zeit zu Zeit Männer umher, die so unauffällig aussehen, dass sie nur Zivil-Polizis-ten sein können.

All das passiert auf insgesamt knapp acht Hektar, ohne dass es zwischen den unterschiedlichen Nutzern bisher zum offenen Krieg gekommen wäre. Manche glauben deshalb, der Park verfüge über geheimnisvolle Kräfte und dehne sich bei schönem Wetter vielleicht einfach aus. Ein Gutachten von 1996 stellt nüchterner fest, der Park sei gewissermaßen „übernutzt“.

Jürgen Mantell, Leiter des zuständigen Bezirksamts Eimsbüttel, weiß das. Er hat nämlich auch keinen Garten und läuft „des öfteren auch privat durch den Park“. Trotzdem findet er es kein Problem, ausgerechnet hier ein Vier-Sterne-Hotel zu bauen, sondern freut sich, „dass jetzt endlich was passiert mit dem Turm“. Schließlich hatte man den schon 1990 für 39.000 Mark an den Münchner Investor Ernst Joachim Storr verkauft. Der sollte ihn nutzen und dadurch erhalten, ließ ihn aber so lange weiter verrotten, dass einige im Bezirk schon darüber nachdachten, ihm die Baugenehmigung zu entziehen.

Doch bevor es soweit kam, tat Storr sich mit dem Schweizer Hotel- und Gastronomie-Unternehmen Mövenpick und der Augsburger Immobilien-Gruppe Patrizia AG zusammen. Die wollen im nächsten Frühjahr die Bagger anrücken lassen. 16 hundertjährige Bäume werden gefällt, und mindestens eine Saison lang wird der Hügel dann Baustelle sein. Denn im Wasserturm sollen auf 16 Stockwerken 226 Zimmer entstehen, darunter acht Juniorsuiten und zwei Towersuiten. Natürlich wird es ein Fitnesscenter geben, ein Restaurant mit 150 Plätzen und Terrasse, eine Tiefgarage und einen unterirdischen Zugang von der zur Bahn hin gelegenen Seite. Dort, am Rande des Parks, soll sich die Hotellobby befinden, von der aus die Hotelgäste auf 75 Meter langen Rollbändern ins eigentliche Turm-Gebäude gebracht werden.

Wie viele Millionen dieser aufwendige Umbau genau kostet, will die Patrizia AG nicht verraten, aber es sei auf jeden Fall teurer als ein Neubau. Auf schriftliche Nachfrage – denn zum Telefonieren hat er keine Zeit – lässt Projektleiter Jürgen Kolper dann noch wissen, dass kein Zaun, sondern nur ein Sichtschutz die Hotelterrasse vom Park trennen soll. Und dass er den Park natürlich kenne und schätze, und zwar ganz besonders die Spielplätze und die Schanzenspiele.

Nein, natürlich solle die bisherige Nutzung des Parks durch das schicke Hotel nicht beeinträchtigt werden, versichert auch Bezirksamtsleiter Mantell. Das habe er extra in den Vertrag schreiben lassen, „da ist der Trommler sogar als Beispiel wörtlich erwähnt.“ Klingt fortschrittlich. Allerdings nur, wenn man nicht weiß, dass in dem Vertrag auch mal stand, dass der Käufer des Wasserturms verpflichtet ist, mindestens 50 Prozent des Gebäudes für öffentliche Nutzung zur Verfügung zu stellen. Ja, dieser Passus habe leider geändert werden müssen, sagt der Bezirksamtsleiter. „Mitte der 90er-Jahre sagte Herr Storr, wegen der gesunkenen Gewerbemieten könne er den Turm nur noch finanzieren, wenn er ihn zu 100 Prozent als Hotel nutzen dürfe.“ Deshalb habe man den städtebaulichen Vertrag geändert und den Investor verpflichtet, zwei Millionen Mark, also eine Million Euro für den Stadtteil bereitzustellen.

„Was sind solche Verträge denn wert, wenn sie jederzeit geändert werden können“, regt sich Ralf auf. Ralf wohnt seit 20 Jahren im Viertel, und seine Tochter ist quasi im Schanzenpark groß geworden. Zusammen mit anderen hat er sich im vergangenen Sommer erfolgreich darum gekümmert, dass der kleine Park hinter der Flora wieder von den Anwohnern genutzt wird. Jetzt sorgt er sich, dass all die Versprechungen von „Bestandsschutz“ nichts wert sind. „Wenn sich die Hotelbetreiber das erste Mal ernsthaft über Lärm oder sonst was beschweren, dann geben die Politiker doch sofort nach.“ Tatsächlich hat der Bauausschuss erst vor ein paar Wochen schon wieder einer Änderung zugestimmt: Der gläserne Anbau fürs Restaurant soll jetzt nicht vier, sondern acht Meter hoch werden und 25 Meter lang. Eine Kleinigkeit nur, aber symptomatisch dafür, dass dieses Hotel mehr Raum einnehmen wird, als die 3.000 Quadratmeter, die eigentlich dafür vorgesehen sind.

„Mindestens 30 Meter rund um die Anlage wird niemand mehr auf der Wiese liegen,“ meint Winfried Kölsch, der für die GAL im Planungsausschuss sitzt. „Auch wenn meine Kollegen immer betonen, man könne da trotzdem noch spazieren gehen. So ein Bau verändert den Charakter, das ist dann kein Park mehr, sondern eine Grünfläche.“ Trotzdem hat die GAL den Plänen zugestimmt, damit mit dem Wasserturm endlich etwas passiert. Jetzt berät jedenfalls der Kerngebietsausschuss darüber, an welche Projekte die Euro-Million verteilt wird. Doch egal wer sie bekommt, man wird davon weder die Schäferkampsallee zur Liegewiese umbauen, noch andere Freiflächen schaffen können. Hunde, Kinder, Jogger, Faulenzer, Griller, Boulespieler, Bobbycarfahrer und Fußballer werden im Schanzenpark noch enger zusammenrücken müssen. Und ob dessen geheimnisvolle Kräfte dann noch ausreichen, ernsthafte Konflikte zu verhindern, ist fraglich. Es sei denn, alle gemeinsam würden durch offensives Freizeitverhalten ihren Fünf-Sterne-Park vor dem Vier-Sterne-Hotel in Schutz nehmen. Bloße Grünfächen gibt es schließlich schon genug.

Sigrun Matthiesen

Worte wie Sterne

Der Schauspieler Rudolf H. Herget bringt Poesie ins Planetarium

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Der Mann ist ein Besessener. Ein Besessener der Poesie und der Sterne. Selbst im Lift hoch auf die Aussichtsplattform des Planetariums nutzt der Schauspieler Rudolf Heinrich Herget jede Gelegenheit, andere mit seiner Leidenschaft anzustecken. Zum Beispiel die zwei Kinder, die mit ihrer Mama auf dem Weg nach oben sind. „Warum ist die Sonne noch unverheiratet?“, fragt er die beiden unvermittelt. Die zwei Kinder haben sich im Leben noch keine Gedanken über das Liebesleben der Sonne gemacht. Sie drücken sich näher an ihre Mutter und zucken ratlos die Achseln.

Und schon legt Herget los: Dass sich vor vielen, vielen Jahren die Tiere Sorgen um die Sonne gemacht hätten, weil sie keinen Mann habe. Die Tiere seien erst Feuer und Flamme gewesen, ein passendes Ehegespons zu suchen. Dann sei ihnen irgendwann klar geworden, dass die Sonne bei einer Verheiratung ja nicht nur einen Mann, sondern vermutlich auch viele Kinder hätte. Und das wäre eine Katastrophe: „Da würden wir ja alle verbrennen!“ Das sehen auch die Kinder ein. Fasziniert schauen sie den fremden Mann an. Bestimmt kommen sie demnächst ins Kinderprogramm des Planetariums, um noch mehr Geschichten von Sonne, Mond und Sternen zu hören. Und vielleicht hat auch die Mutter wieder Lust bekommen, mal abzuschalten und zumindest literarisch hoch zu den Sternen zu fliegen. „Ich will eine Poesiewolke über den Stadtpark senden“, sagt Rudolf Herget über seine Mission.

Im Hamburger Planetarium gehört der Schauspieler fast schon zum Inventar. Allein im Dezember spricht und spielt er vier Mal den Kleinen Prinzen, an einem Sonntagabend lädt er mit Lyrik zum Innehalten ein, und natürlich erzählt er Kindern im Kuppelsaal Sternenmärchen. Da kann man dann die Geschichte von der Single-Sonne ausführlicher hören… An den übrigen Tagen tourt der Schauspieler durch die Planetarien anderer deutscher Städte.

Seine Liebe zu den Sternen und zur Poesie hatten sein Leben total verändert. Das war Anfang der achtziger Jahre. Damals lebte er zwei Jahre in Buenos Aires und spielte am dortigen Deutschen Theater. Das Ensemble war gerade auf Tournee in San Francisco. Und dort besuchte Herget zum ersten Mal ein Planetarium. „Ich war überwältigt“, sagt er. Vor allem deshalb, weil er gerade den Galileo Galilei gespielt hatte. „In dem Stück spielen die Sterne eine Hauptrolle, aber man steht immer nur auf einer kahlen Bühne.“

Plötzlich wurde ihm klar, dass nicht nur der Galilei unter den Sternenhimmel gehört, sondern auch lyrische Texte und seine Lieblingsgedichte. Kurz zuvor hatte er eine unschöne Erfahrung gemacht: Zusammen mit dem großen Schauspieler Will Quadflieg war er auf Tournee gewesen. Unter anderem gastierten sie in einer Schulaula. „Die Vorhänge wurden notdürftig zugezogen, die lustlosen Schüler wurden in den Raum getrieben.“ Herget glaubt, dass auch der lieblose, kalte Raum daran Schuld war, dass das Ganze für Literaturfreunde zum Horrorerlebnis wurde. „Im Planetarium, im Dunkeln, kann man poetische Texte ganz anders vortragen. Da wirkt es nicht überladen oder kitschig. Man lässt sich als Zuhörer auch ganz anders ein“, sagt er.

So begeistert war er von seiner Idee, Extra-Programme für Planetarien zu entwickeln, dass er nach diesem Schlüsselerlebnis den Schritt wagte, aus seinem Ensemble auszusteigen und als freier Schauspieler zu leben. Er hat es keinen Tag bereut. Grundsätzlich tritt er nur noch an Orten auf, bei denen es den Menschen leicht fällt, sich den Worten hinzugeben. Er liebt es, eine Art Magier zu sein. Wenn im Kuppelsaal das Licht ausgeht, die Zuhörer ihn nicht mehr sehen, sondern nur noch seine Stimme hören können. Er weiß, dass der ein oder andere in dieser Stimmung in einen Kurzschlaf fällt. Er lacht, das macht ihm gar nichts aus: Das ist Entspannung pur.

Diese besinnliche Stunde ist nur noch zu toppen durch die Nächte unter freiem Himmel: In der Rhön und in Bayern sind sie längst Kult. Man trifft sich bei Sonnenuntergang. Jeder bringt sich etwas zu essen, zu trinken und einen Schlafsack mit, und dann erzählt Herget droben auf einer Bergkuppe Liebeslyrik oder „Worte wie Sterne – Weisheiten der Ureinwohner“ oder „Der kleine Prinz“ oder… „Ich spreche fast ununterbrochen bis zum Sonnenaufgang“, sagt Herget. Nur manchmal unterbricht er seinen Vortrag für eine Viertelstunde der Stille. Schade, in Hamburg waren die Erzählnächte bislang noch nicht so magisch. „Es ist wie verhext. Immer hat es geregnet.“

Zehn Programme beherrscht er auswendig. Er arbeitet auch mit Musik und Multimedia-Effekten. „Poetisches Erzähltheater“ nennt er seine One-man-Shows. Auf rund 80 Schallplatten und CDs sind viele seiner Werke verewigt: Old Shatterhand, der kleine Prinz, Ben Hur sind darunter. Aber keine einzige seiner Planetarium-Shows. „Das ist ein Erlebnis, das man live erleben muss“, sagt Herget.

Manchmal lässt er seine Texte – wie ein Getriebener – in einem Affenzahn vor sich abspulen. So schnell geht das, dass man manchmal gar nicht merkt, dass er gerade nicht erzählt, sondern wieder zitiert: Die Erde ist unsere Mutter./Der Mensch schuf nicht das Gewebe,/er ist nur eine Faser. Dabei hält er ein kleines, weinrotes Ringbuch in der Hand, wie eine Art Talisman. Talisman deshalb, weil die Texte dort quasi in Spickzettelgröße eingeschrieben sind. So winzig, dass sie ihm nicht ernsthaft über einen Hänger hinweghelfen können.

Obwohl – stecken bleibt er eigentlich nie. Das liegt vermutlich daran, dass er sich jedes Mal schon lange vor seinem Auftritt intensiv auf seine Texte einstimmt. Ruhe braucht er dann, Besinnlichkeit. Damit nicht nur die Worte wieder das Licht der Welt erblicken. „Es ist wichtig, dass der, der einen Text spricht, auch das verkörpert, was zwischen den Zeilen steht“, sagt Rudolf Herget. „Denn jeder Gedanke, der geäußert wird, wird in diesem Moment neu geboren.“

Birgit Müller

„Wie eine kleine Puppe“

Wenn Minderjährige Kinder bekommen

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Verhütet? Nein, das haben sie nicht, sagt Jennifer Jordan. Keine Ahnung warum, ehrlich gesagt. Wahrscheinlich keine Zeit gehabt, sagt die 19-Jährige und lacht. Sie waren halt total verknallt, sie und ihr Maxim Ladner. Damals. Sie war gerade 15, er 16 Jahre alt. Beide durchlebten eine „null Bock auf gar nichts“-Phase. Hauptsache Fun haben, Schule abbrechen, kiffen, Partys… Tja. Und dann ist es passiert. Jenny wurde schwanger.

Angst hatte ich, sagt Jenny. Vor der Zukunft. Aber eine Abtreibung kam für sie nicht in Frage. Also verdrängte sie das „Problem“ und erzählte zu Hause nichts von der Schwangerschaft. Fünf Monate lang. Dabei wusste sie, dass die Eltern ihr nicht den Kopf abreißen. Und, weißt du noch?, fragt Jennys Mutter, Siegrid Jordan, wie wir beiden uns in den Armen gelegen und geheult haben, als es endlich raus war? Die heute 44-Jährige ahnte ohnehin, was mit ihrer Tochter los war. Für sie stand sofort fest: Die Familie meistert zusammen, was zu meistern ist.

Während Jenny ihren Eltern von der Schwangerschaft erzählte, lag Maxim auf dem Jordanschen Sofa und zog sich eine Decke über den Kopf. Zu viel Gefühl. Er hatte seiner Freundin von Anfang an nicht in die Entscheidung reingeredet. Klar, sagt er, auch er musste erst mal lange nachdenken über sein Leben. Schließlich hatten weder er noch Jenny einen Schulabschluss. Aber jetzt freute er sich richtig darauf, Vater zu werden. Maxim zog bei Familie Jordan ein. Jenny konnte endlich aufatmen.

„Mein Vater hat viel Alkohol getrunken und meine Mutter und uns geschlagen – mit Händen, Füßen und Kabeln. Ich wollte nur weg, heiraten und eine eigene Familie haben. Als ich schwanger war, war ich unbeschreiblich glücklich.“ Svea (Name geändert) ist 17 Jahre alt. Mit 15 brachte sie einen Jungen zur Welt. Seit eineinhalb Jahren leben die beiden in einem Wohnhaus der Alida Schmidt-Stiftung. Die Betreuerinnen dort sind ihr Familienersatz.

Viele minderjährige Mütter stammen aus zerrütteten Familien, sagt Einrichtungsleiterin Martina Feistritzer. Etliche hatten Kontakt zur Jugendhilfe, da sie Missbrauchs- und Gewalterfahrungen haben, ihre Eltern nicht mehr leben oder unter psychischen oder Suchterkrankungen leiden. Der Wunsch nach einem eigenen Kind entspringt der Hoffnung auf Geborgenheit. „Liebe geben können wird verwechselt mit Liebe bekommen“, so Feistritzer. Auch fehlende Zukunftsperspektiven nennt die Diplompädagogin als Grund für eine frühe Schwangerschaft. Vor allem für schlecht Ausgebildete sinken die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Feistritzer: „Wenn die Mädchen ein Kind bekommen, haben sie plötzlich eine Perspektive: das Muttersein.“

Von 1995 bis 2002 brachten 1115 Hamburgerinnen unter 18 Jahren ein Kind zur Welt. Doch das Familienglück bleibt häufig aus. Svea: „Als ich meinem Freund erzählte, dass ich ein Baby bekomme, wurde er wütend und hat mich geschlagen. Ich sollte das Kind abtreiben.“ Das hat sie nicht gemacht. „Das Kind bleibt immer bei mir. Es ist doch ein Teil von mir. Aber ich wünsche mir so, nicht die ganze Verantwortung alleine tragen zu müssen.“

Sie sei Jenny und Maxim fürchterlich auf die Nerven gegangen, meint Siegrid Jordan. Die jungen Eltern lachen. Es stimmt. Schon während der Schwangerschaft wollte Mutter Jordan partout, dass das junge Paar zur Geburtsvorbereitung geht. Beide hatten keine Lust darauf. Albern fand Jenny das „Geatme“ dort. Und als Minderjährige unter all den älteren Paaren – die Vorstellung war gruselig. Sie sollten wissen, was auf sie zukommt, fand Siegrid Jordan. Heute geben Maxim und Jenny zu, dass der Kurs sehr hilfreich war. Aber Siegrid Jordan, die als Tagesmutter auch beruflich etliche Kinder betreut, nervt die Tochter auch heute noch: Hast du die Schnullis ordentlich gesäubert? Hast du deine Tochter eingecremt? Du willst doch so nicht mit Maya raus – es ist doch viel zu kalt! Jenny sagt: Jaaa, Mama…

Siegrid Jordan fühlte sich verantwortlich, den jungen Leuten das Elternsein beizubringen. Aber auch sie musste lernen. Lernen, Maxim und Jenny nicht alles vorzuschreiben, die jungen Eltern einfach mal machen zu lassen. Jenny und Maxim wissen heute freilich genau, dass Siegrid Jordan meistens Recht hatte. Maxim erinnert sich, wie er erst mal einsehen musste, dass er sich körperlich ruinierte. Morgens früh raus zum Arbeiten, abends auf Piste und nachts weint das Baby – das hält keiner aus. Und auch Jenny kann sich noch an eine Situation erinnern, in der sie sich völlig überfordert fühlte. Die kleine Maya hatte starke Bronchitis, und Mutter und Vater Jordan waren nicht da. Ich hab tierische Angst gehabt, sagt Jenny, ich wusste überhaupt nicht, was ich machen soll. In solchen Momenten war ihr mehr denn je bewusst, wie wichtig der familiäre Rückhalt war. Jenny sagt: Verantwortung zu haben muss man eben auch erst lernen.

Manchmal denkt Jenny, sie sei eine schlechte Mutter. Heute zum Beispiel. Da hatte sie frei und ließ sich trotzdem den ganzen Tag nicht bei der Tochter blicken. Sie ging lieber shoppen. Balsam für die Seele muss auch mal sein, beruhigt Siegrid Jordan. Sie will, dass ihre Tochter sich nicht grämt, eine so junge Mutter zu sein. Deshalb nimmt sie Maya auch dann ab und zu, wenn Jenny mal ausgehen will. Jenny sagt: Meine Mutter ermöglicht es mir, trotz allem jung zu sein.

„Ich habe gedacht, ein Kind ist wie eine kleine Puppe – so einfach. Wenn man Lust hat, kann man schön damit spielen. Wenn man keine Lust hat, ist das Spiel eben zu Ende. Ich wusste nicht, dass es so schwer ist, für ein Kind da zu sein.“ Svea steckt in einem Konflikt: Oft ist sie eifersüchtig auf die Mädchen, die keine Verantwortung tragen. Sie müssen an nichts denken: Hat er genug gegessen? Muss er ins Bett? Ist die Frau, der sie ihr Kind anvertraut, gut zu ihm? Wenn Svea solche Gedanken beschleichen, fühlt sie sich sofort schlecht. Schließlich war es ihre Entscheidung, das Kind zu bekommen.

Minderjährige überblicken oft die Konsequenzen ihres Handelns nicht, sagt Anne Trumm, Leiterin des Bereichs stationäre Hilfen für Mütter und ihre Kinder im Abendroth-Haus. Sie leben eher für den Augenblick. Bekommen sie ein Baby, verpassen die jungen Mädchen die wichtige Entwicklungszeit der Pubertät, so die 50-Jährige.

„Die Mädchen wollen unbedingt gute Mütter sein und überfordern sich dabei maßlos“, so Anne Trumm. Da Kritik und gute Ratschläge ihnen suggerieren, ihrer Aufgabe nicht gerecht zu werden, lassen sie oft niemanden an sich heran. Eigene Entwicklungsverzögerungen bedingen aber, Entwicklungsverzögerungen beim Kind nicht zu erkennen. Besonders bei jungen Frauen, die die Schule abgebrochen haben, hat das zum Teil fatale Folgen: „Die Mädchen können die Anweisungen auf der Babynahrung nicht richtig lesen und pappen irgendeinen Brei zusammen“, erzählt Trumm. „Die Babys sind dann oft solche Wonneproppen, dass sie sich kaum bewegen können.“

Anne Trumm und Martina Feistritzer finden, dass jede Mutter die Chance haben sollte, mit ihrem Kind zu leben. Dazu wollen sie auch die Minderjährigen befähigen. Doch manchmal müssen sie eine schwere Entscheidung treffen und feststellen: Das Kind wäre besser woanders aufgehoben.

Svea liebt ihr Kind. Und sie managt ihre Mutterrolle. Aber wenn sie sich nochmal entscheiden dürfte, würde sie alles anders machen: „Erst Schule, dann eine Ausbildung, viel Geld sparen, ein Haus und ein Auto kaufen, heiraten und dann ein Kind bekommen. Ich habe ja noch nicht mal das Sorgerecht für meinen Kleinen. Ich habe die ganze Verantwortung, aber entscheiden kann ich nichts.“

Inzwischen ist Maya zweieinhalb Jahre alt. Jenny hat ihren Hauptschulabschluss nachgemacht und lernt Zahnarzthelferin. Maxim macht eine Ausbildung zum Zerspaner. Mit der Verantwortung für das Kind wuchs auch die Verantwortung für das eigene Leben. Die große Liebe von damals hat zwar nicht gehalten – trotzdem geht Vater Maxim selbstverständlich bei den Jordans ein und aus. Er ist schließlich eine wichtige Person für Maya, stellt Jenny klar.

Sie selbst wohnt in einer eigenen kleinen Wohnung. Eigentlich plante sie, dort mit ihrer Tochter ständig zusammenzuleben. Aber sie muss auch ihr eigenes Leben noch regeln. Eine Ausbildung schaffen und ein Kind erziehen – das war doch zu viel. Also lebt Maya nur am Wochenende bei Jenny, während der Woche passen Oma und Opa auf die Kleine auf. Jenny kommt nach der Arbeit und bringt ihr Kind ins Bett. Es herrschen klare Regeln. Für Jenny und ihr Kind. Maxim ist sich bewusst, dass Familie Jordan auch viel für ihn getan hat. Dafür, sagt er, bin ich sehr dankbar. So hat er keinen Grund zu bereuen, mit 17 Vater geworden zu sein.

Auf welche Schule Maya mal gehen soll – darüber macht er sich noch keine Gedanken. Bis dahin ist ja noch ein bisschen Zeit. Jenny sieht das anders. Eine Schule soll es sein, auf der die Talente der Kleinen gefördert werden. Denn die hat sie eindeutig, sagt die stolze Mutter. Und was, wenn auch Maya mal eine Null-Bock-Phase durchleben sollte? Jenny atmet tief durch. Dann sagt sie: Also wenn sie 13 ist, schlepp ich sie zum Frauenarzt. Das ist schon mal klar.

Annette Woywode

Bahnfliegen über Barmbek

Aufzeichnungen aus der U-Bahn-Linie 2

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

eon | hanse präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: eine Fahrt in der U2 nach Barmbek.

Wir fliegen drüber weg. Gleiten durch Zeit und Raum. Lassen alles unter uns. Hinter uns. Die Welt zu unseren Füßen. Die Zukunft vorne. Vor uns. Wir rasen drauf zu, schnurgerade, zielgenau. Die U2 fliegt über das Barmbeker-Markt-Viadukt. Auf 3,20 Metern über parkende Autos und Taubenkot. Für 100 Sekunden sind wir überirdisch, auf unserer Fahrt von Dehnhaide nach Barmbek. Drinnen bilden wir für den Bruchteil eines Menschenlebens ein Zwangskollektiv. Ob wir nun wollen oder nicht, wir nehmen an unseren Bahn-Mitfahrern teil. An der alten Frau, deren Augen traurig schimmern, weil sie gerade ihren Mann verloren hat. An dem kleinen Blondschopf, der voller Lebensfreude die vorbeiziehende Welt bestaunt. An Verzweiflung und Neugier, an Langeweile und Wut, bei jeder Fahrt aufs Neue.

Ian Slupek* ist auf dem Weg zur Arbeit. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt er auf der Bank. Seinen feingliedrigen Körper hat er gestylt bis in die schwarzen Haarspitzen. Ian ist ein Guter-Laune-Typ, ein Sonnenstrahl im Spätherbst. Ich mag das Bahnviadukt, grinst er vergnügt. Da kann ich rausgucken und viel sehen. Das ist doch schöner, als nur durch einen Tunnel zu fahren. Diese schöne Aussicht kann Ian jeden Tag genießen, bringt ihn die U2 doch täglich in die Hamburger City. Am Gänsemarkt jobbt der Styler in einem „Trendladen“. Natürlich für Bekleidung.

Annelie ist heute kein Sonnenschein. Scheiße, schnauzt sie ins Leere und donnert die Mopo von der ersten auf die letzte Seite. Gerade hat die Lautsprecherstimme verkündet, dass die U2 nicht bis Wandsbek-Gartenstadt weiterfährt. Das passt ihr wohl gar nicht. Beleidigt stiert sie auf die Mopo-Rückseite, rutscht auf ihrem Sitz tiefer und zieht die Schultern Richtung Ohrläppchen. Schlecht drauf ist auch Heiner, Annelies Mitfahrer. Der Mittsechziger sitzt in Fahrt-richtung und reißt energisch das kleine Klappfenster auf. Anschließend lässt er sich griesgrämig auf seine Sitzbank fallen und fixiert angestrengt die Landschaft. Der Blick hält die Bodenhaftung. Wer wird denn gleich in die Luft gehen?

Für den kleinen Blondschopf in Streifenshirt und Daunenjacke ist die Bahnfahrt eine riesige Attraktion. Mit großen, wachen Kulleraugen kommentiert er die vorbeifliegende Welt zu seinen Füßchen. Links hält er ein Reflektorbärchen in der Hand. Mit der Rechten zeigt er auf jeden Baum, jeden Laden, jedes Auto. Hhha, da!, ruft er begeistert. Zeigefinger nach vorne rechts. Und da! Zeigefinger nach vorne links. Und da! Zeigefinger zurück nach vorne rechts. Ist die Aufregung besonders groß, trippelt er im Schoß seines amüsierten Vaters.

Michael erregt eine Bahnfahrt nicht mehr. Denn Michael kommt regelmäßig selber zum Zug. Er ist Bahnfahrer beim Hamburger Verkehrsverbund. Während sich das Abteil kurz hinter Dehnhaide rechts in die Kurve neigt, steht er routiniert gelangweilt neben der Tür und kaut seinen Kaugummi. Denn noch ist Michael Bahn-Mitfahrer, auf dem Weg zu seiner Startposition. Als die U2 in Barmbek einfährt, drückt ein Junge eifrig und viel zu früh auf den Türöffner. Michael, der Fachmann, kann sich ein wissendes Lächeln nicht verkneifen. Dann steigt er aus der Tür mit der idealen Position zur Treppe und ist verschwunden.

Zum Lastenträger wird die Bahn bei Irina. Mit zwei riesigen Plastiktragetaschen links und rechts balanciert sie elegant auf ihren Sieben-Zentimeter-Absätzen zum freien Sitzvierer. Irina wuchtet ihre Tüten vor und neben sich auf die Polster, nimmt Platz und hält die Riemen ihrer Handtasche mit der linken Hand fest umklammert. Anmutig streckt sie Wirbelsäule und Kopf kerzengerade. Eine weiße Kunstpelzmütze schmückt das grazile Haupt, die rote Wolljacke passt perfekt zu den roten hohen Schuhen. Irina fährt rückwärts. So kann sie die Familie neben sich besser genießen. Liebevoll schaut sie die Kinder an, auf dem Viadukt geht der Blick dann nach draußen.

Mohammed ist nicht nach Familienidylle zumute. Er isst jetzt. Mit großem Appetit zerreißt er seinen riesigen Döner. Das Tsatsiki umrandet seine Lippen, die Chili-Soße treibt ihm noch mehr Farbe ins Gesicht. Die machen das gut, schwärmt Mohammed Flo vor. Der isst auch Döner, hat ihn aber nicht im Gesicht. Selbst wenn ich sage Mini, gibt er mir so einen großen, schmatzt Mohammed weiter und versucht, die Soße mit der Serviette loszuwerden. Die Bahn als Döner-Bude. Es ist 12.30 Uhr, Zeit fürs Mittagessen.

Heiß her geht’s zwischen Sabrina und Simon. Sie führt ihrem Liebsten schwierige Fingerkunststücke vor, die er nachmachen soll. Doch trotz großer Anstrengung kann Simon seine Glieder nicht so kunstvoll in-, über- und untereinander falten wie seine Freundin. Da beschließt Simon, die Liebste hochzunehmen. Er fordert Sabrina auf, sein triviales Stillleben zu kopieren: Alle Finger zur Faust, alle Finger gleichzeitig öffnen. Schnell durchschaut Sabrina das Spielchen und zeigt den Stinke-Finger. Was sich liebt, das neckt sich. Die Bahn als Turtelplatz.

Polizist Gerhardts steht breitbeinig mit dem Rücken gegen die Trennwand. Seine Hände hat er hinten verschränkt, aus dem weichen Gesicht geht der Blick fachmännisch nach vorn. Es scheint, als beobachte er die beiden zotteligen Biertrinker, in Fahrtrichtung drei Vierersitze weiter. Die grüne Polizeiwetterjacke leuchtet intensiv durch den Waggon. Die Khakihose sitzt adrett, die Körpersprache verrät Selbstbewusstsein. Gerhardts ist ein junger Freund und Helfer, in der U-Bahn auf Streifenfahrt.

Als wir im Zielbahnhof einfliegen, löst sich unser Zwangskollektiv auf, und ein jeder geht seiner Wege. Vielleicht für einige Zeit mit einem Stück Leben des anderen im Herzen.

Jannika Schulz

* Alle Namen, bis auf Ian Slupek, sind erfunden.

Die Pfandfrauen

Wie Zeitarbeiterinnen sich durchschlagen

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

„Pfandfrauen? – 25-Cent-Weiber wär’ besser“, sagt Gabi Heinrich (Name geändert) und lacht das erste Mal. Ein halbes Dutzend weiß bekittelter Frauen lungert in einem schmalen Flur. Sie warten. Auf Arbeit. Für 5,20 Euro pro Stunde sortieren sie Pfandgut am Fließband. Zeitarbeiterinnen.

Die einfache Halle in einem Hamburger Industriegebiet ist kalt und kameraüberwacht. Keine Dose verlässt unbemerkt das Gelände. Diebstahl wird mit sofortiger Entlassung geahndet. Und nicht nur der eigene Arbeitsplatz ist dann futsch, auch die der anderen hätte die Übeltäterin auf dem Gewissen. So zumindest stellt es der Schichtleiter dar, zeigt auf die Kameras. Alle Köpfe folgen seinem Finger wie dem Tennisball beim spannenden Match.

„Der Ton war nicht okay“, sagt Gabi Heinrich. Sie hat das Angebot der Zeitarbeitsfirma, bei der sie angestellt ist, angenommen – aus Angst davor, entlassen zu werden und in der Folge wegen „selbstverschuldeter Kündigung“ vom Arbeitsamt kein Geld zu bekommen. Nur einmal hat sie sich geweigert: als sie bei einer Firma arbeiten sollte, bei der die Arbeiter gerade streikten. „Das mache ich nicht, ich bin keine Streikbrecherin“, sagt sie. Begeistert war sie vom neuen Job von Anfang an nicht – auch wegen der Arbeitszeiten: Sechs-Tage-Woche, Früh- und Spätschicht im Wechsel. Doch neben der Angst vor der Armut weiß die 42-Jährige, dass Arbeit für sie wichtig ist, ihr Halt gibt. „Ich arbeite gerne, so krank sich das anhört“, sagt sie.

Ein Dutzend Frauen stehen an dem Fließband in der Mitte der Halle. Die Männer entladen und füllen das Pfandgut in Kisten, laden diese auf Rollbänder, die zu den Frauen und dem Fließband führen. Die Maschinen dröhnen, Metall und Glas scheppern. Die Frauen scannen und sortieren die Einweggetränkeverpackungen – in der Mehrzahl leere Bierdosen. Piep. Zerbeult, gepresst, gequetscht. Piep. Wut, Langeweile oder vielleicht nur überschüssige Kraft haben ihren Abdruck hinterlassen. Piep. Glas nach oben, Dosen und Plastikflaschen nach unten. Piep. Der Geruch erinnert an Fußgängerunterführungen und den Morgen nach der Party.

„Ich habe mich ausgeschaltet im Kopf, so richtig wie mit einem Hebel, klick, alles abgeschaltet, nur noch das Piepen gehört“, sagt Gabi Heinrich. Die Arbeit selbst sei okay, nur „definitiv zu anspruchslos“. Dabei sind ihre Ansprüche an einen Job bescheiden. Im Lager hat sie gerne gearbeitet: kommissionieren, Waren zusammenstellen und versandfertig machen. Auch den Umgang mit Computern lernte sie nach anfänglichen Berührungsängsten. Heute bereut sie, dass sie keine Ausbildung hat. Nach dem Hauptschulabschluss begann sie eine Friseurlehre. Doch sie fühlte sich unwohl bei dem alten Lehrmeister, kam in der Berufsschule nicht mit und hatte obendrein familiäre Probleme. Sie brach die Lehre ab und floh aus dem Elternhaus. „Ich hab’s da nicht mehr ausgehalten, wegen meinem Vater – das typische Klischee, aber es ist halt so. Der hat mich verprügelt und so. Irgendwann stand ich mal mit einem Messer vor ihm, und da habe ich gemerkt, das geht nicht mehr. Entweder ist er bald tot oder ich“, sagt sie.

Sie lebte auf der Straße, bis sie mit 20 schwanger wurde. Erst lebte sie im Mutter-Kind-Heim, später bekam sie eine Wohnung. Über die Hamburger Arbeit (HAB) fand sie einen Job und schließlich einen festen Arbeitsplatz für sechs Jahre. Das war Mitte der neunziger Jahre. Dann wurde sie entlassen – wegen betrieblicher Einsparungen. Seitdem schlägt sie sich mit Zeitarbeit durch.

Eine Familie könnte sie von den rund 900 Euro monatlich, die sie am Sortierband verdient, nicht ernähren. Gabi Heinrich hat Glück: Ihre Tochter ist erwachsen und verdient ihr eigenes Geld; sie selbst lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Freund hat einen besser bezahlten Job – zu zweit kommen sie über die Runden. Der neue Arbeitsplatz liegt am Ende der Welt. Industriegebiet.

Schrottberge türmen sich, und Lastwagen bringen immer mehr davon. Hier wirkt die Recyclingbranche. Das Geschäft mit dem Pfand steht noch am Anfang und läuft etwas schleppend an. Viele Stunden verbringen die Pfandfrauen mit Warten. Die Rauchschwaden sind zum Zerschneiden dick. Karten spielen, reden, Zeitschriften blättern. Nichts ist schlimmer als Langeweile.

„Ich muss immer was tun“, sagt Stephanie Helms, reißt blitzschnell die Zuckertütchen auf, schüttet reichlich in ihren Kaffee und rührt kräftig. Wichtig für sie sei vor allem, dass die Zeit schnell vergeht bei der Arbeit. Den Job findet sie ganz gut. Nur der Gestank stört sie. „Ich bin keine Biertrinkerin“, erklärt sie knapp. Die 24-Jährige hat sich den Job selbst gesucht. Bei ihrem alten Arbeitsplatz im Lager und Versand hat sie gekündigt. Sie fühlte sich wohl, Arbeit und Bezahlung waren gut. Aber es gab ein privates Problem mit ihrer Schwester, die auch dort arbeitete. In der verbliebenen Woche Urlaub, die sie noch hatte, hat sie sich über die Zeitarbeit den Dosenjob besorgt.

Zum Arbeits- oder Sozialamt will sie nicht. „Weil mich der ganze Scheiß ankotzt, Formulare ausfüllen und so, da findest du schneller Arbeit, als dass du dein Arbeitslosengeld kriegst. Ist so. Das habe ich oft genug gehabt“, sagt sie und lässt keine Zweifel zu. Sie würde alles machen, um nicht von der Sozialhilfe zu leben, sagt sie. „Ich würd’ sogar Toiletten putzen.“

Gelernt hat sie im Einzelhandel, Bereich Feinkost. Das war Zufall. Sie war eingesprungen. „Weil meine Cousine unter einer Fleischallergie leidet, habe ich nach der Hauptschule einen Ausbildungsplatz bekommen.“ Der Start ins Arbeitsleben war ein Flop. Sie habe nichts gelernt, sondern – tatsächlich – Toiletten putzen müssen. Sie wechselte den Betrieb und beendete die Ausbildung fast. Nur die Prüfung hat sie nicht. Durch die erste ist sie durchgefallen, bei der zweiten war sie krank. Jetzt will sie dahin nicht mehr zurück. Das Thema ist für sie abgehakt. Ihre beste Freundin Jessica schaltet sich ein: „Aber mir hast du in den Arsch getreten, als ich abbrechen wollte.“ Stephanie antwortet: „Ja, das war ja auch gut so.“

Am vierten Tag spricht einer der Schichtleiter eine scharfe Verwarnung aus an alle, vor allem an die Männer. „Jeder ist hier ersetzbar“, ruft er in Erinnerung. Die Angst um den Arbeitsplatz macht sich breit. Ein kleiner, zarter Anfang-20-Jähriger rutscht während der Predigt nervös auf dem Stuhl hin und her und murmelt Entschuldigungen vor sich hin. Kaum hat der Schichtleiter den Raum verlassen, raunzt er den einzigen farbigen Kollegen neben sich herausfordernd an: „Hast Du schon ein Lob bekommen? He? Ich hab schon drei gekriegt.“ Drei Minuten später hat er einen handfesten Streit vom Zaun gebrochen, der sein vorläufiges Ende nur durch das beherzte Schlichten der Kollegen findet.

Stephanie Helms will bleiben; sie ist noch in der Recyclingbranche tätig. Gabi Heinrich wird am Ende der ersten Woche zum Schichtleiter gerufen. Eine gute Nachricht: Sie brauche nächste Woche nicht wiederzukommen. Ein anderer Kunde der Zeitarbeitsfirma, bei dem sie lieber gearbeitet hatte, habe sie angefordert. Gabi Heinrich freut sich, wenn auch nur kurz. Zwei Tage später erfährt sie, dass sie belogen wurde. Das Recyclingunternehmen hatte sie gekündigt.

Annette Scheld

Ab 1. Januar 2004 gilt erstmalig ein Mantel- und Entgelttarifvertrag zwischen den Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes und den Arbeitgeberverbänden der Zeitarbeitsunternehmen. In der niedrigsten Gruppe, zu der auch die Pfandfrauen gehören, werden dann 6,85 Euro pro Stunde gezahlt.

Der DJ und der Dirigent

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Beide machen Musik für Hinz & Kunzt: DJ Rabauke legt bei der „Haus und Hof“-Nacht im Phonodrome am 20. November auf, Michael Hartenberg dirigiert den Chor des Musikseminars beim Benefizkonzert in der Hauptkirche St. Jacobi (9. November). Normalerweise sind das getrennte Welten. Doch im Gespräch über Musik und wie sie Menschen bewegt, entdecken der DJ und der Dirigent überraschende Gemeinsamkeiten.

H&K: Michael, wir haben uns hier an Thomas’ Arbeitsplatz getroffen. Hast du als klassischer Musiker überhaupt Bezug zu so einem Ort?

Michael Hartenberg: Ich habe in meiner Schulzeit natürlich Phasen gehabt, in denen ich in Diskos rumhing, und ich war begeisterter Stones-Fan. Ich habe da weder Berührungsängste noch Scheuklappen. Aber als DJ zu arbeiten, das ist eine andere Welt. Denn alles, was wir tun, entsteht live und ist immer mit dem Risiko des Scheiterns verbunden. Mit diesem Risiko voll zu rechnen, finde ich spannend.

Thomas Jensen: Das ist für mich exakt dasselbe. Die Vorbereitung, die es für einen DJ gibt, ist: Tasche packen, Platten reinstecken und sortieren, Titelauswahl treffen, Menge berechnen – und überlegen: „Was gehen da für Leute hin und warum?“ Mit dieser Tasche stehst du abends da – und es kann vorkommen, dass du alles falsch gemacht hast! Exakt die falschen Platten dabei – und du merkst, genau von der Kombination, an der alle Spaß haben, habe ich nur fünf Stück mit! Da ist das Scheitern auch sehr nah. Und wir sind ja auch immer von den technischen Gegebenheiten abhängig. Ich kenne wirklich Stromausfälle… oder ganz banal: Die Platte springt, während man gerade auf Toilette ist…

Michael Hartenberg: Das gehört bei uns mit zum Vorbereitungsritual, vorher noch mal aufs Klo zu gehen… Aber wenn man Livemusik macht, kommuniziert man auch immer direkt mit dem Raum. In Kirchen ist der Klang ein ganz anderer als in einem kleinen Raum, das Tempo muss in so einer halligen Akustik ganz anders sein – und ich muss mich als Musiker auch anders verhalten. Aber das finde ich spannend, und das ist für mich ein großer Unterschied zu elektrisch erzeugten Klängen, die sind eigentlich in jeder Situation gleich.

Thomas Jensen: Gerade damit haben wir oft zu kämpfen. Die Leute wollen das Stück immer so hören, wie sie es von der CD kennen, und wir müssen uns dann mit den Eigenarten des jeweiligen Raumes abplagen und können eben nicht einfach langsamer spielen.

H&K:Thomas, hast du ein Instrument gelernt?

Thomas Jensen: Nein, ich bedaure das zutiefst, dass mir das auch von zu Hause aus nie nahe gelegt worden ist. Wenn ich am Rechner sitze und mir was ausdenken möchte, merke ich manchmal, wie ich an meine Schaffensgrenze komme, weil ich kein Instrument gelernt habe. Man muss es ja gar nicht perfekt beherrschen, aber für gewisse theoretische Zusammenhänge von Harmonie und Komposition ist das schon hilfreich. Ich frage dann immer Freunde und Kollegen.

Michael Hartenberg: Man kann immer anfangen, es zu lernen. Aber was mir dazu einfällt ist, dass wir heute eine wirklich absurde Situation haben: Noch nie in der Geschichte hat man so viel Musik gehört wie heute, und gleichzeitig hat es noch nie so wenig Musikunterricht gegeben! Das ist so ein Missverhältnis.

H&K: Woher kommt das?

Michael Hartenberg: Die Nazis haben Musik und Tanz sehr stark instrumentalisiert. Dann hat man nach dem Krieg gesehen: Mensch, während wir hier gesungen und getanzt haben, sind nebenan im KZ sechs Millionen Juden gestorben. Adorno, der große Schriftsteller, der viel mit dem musikalischen Denken der Nachkriegszeit zu tun hat, hat mal gesagt: „Nach Auschwitz ist Singen ein Verbrechen.“ Und dieser Satz hat einer ganzen Generation den musikalischen Nerv sozusagen gekillt. Denn man hat dann in der Schule nicht mehr gesungen und Musik gemacht, sondern hat über Musik gesprochen und versucht zu verstehen, wie es passieren kann, dass man durch Musik verführt wird. Und diese Generation, die damals nicht gesungen hat, das sind die heutigen Musiklehrer.

Ich bin überzeugt, wenn wir es schaffen könnten, wieder ein aktives Musikleben auf breiter Basis zu fördern, dass wir dann eine ganz andere Gesellschaft hätten. Wo man auch wieder Lust hätte, etwas gemeinsam zu tun, sich zu begegnen, initiativ zu sein. Denn ich finde, dass Singen und Sprechen zusammengehören wie Tag und Nacht, Wachen und Träumen. Wer beides kann, hat die Möglichkeit, Dinge auszudrücken, die man durch Worte nicht mehr fassen kann. Erst dann ist die menschliche Äußerungsfähigkeit komplett. Aber dazu muss eine andere Art von Musikunterricht her! Man kann improvisieren, Klänge ausprobieren, da gibt es lustige und spannende musikalische Spiele. Also deine Frage, Thomas, „Wie kann man was komponieren?“, müsste in der Schule ein wichtiges Thema sein.

Thomas Jensen: Interessant, darüber habe ich so noch nie nachgedacht. Letztlich hat mein Zugang zur Musik und dass mein Vater den so gar nicht verstehen kann, wahrscheinlich auch genau damit etwas zu tun. Mein Vater ist im Krieg geboren und versteht überhaupt nicht, dass sein Sohn mit so was, so larifari, wie er es nennt, seine Familie ernähren kann… Trotzdem bin ich froh, dass es mir auch so gelungen ist, alleine durch meine Begeisterung, zur Musik zu finden.

Michael Hartenberg: Das ist sowieso das, was Leute bei Musik suchen: Begeisterung! Egal ob das stilles konzentriertes Zuhören ist, lautes Jubeln, Tanzen oder die Freude am Zusammenspiel einer Band ist. Und da zeigt sich – wie bei jeder Kunst – was so in der Gesellschaft vielleicht nicht ist, aber sein könnte. Und wenn man davon mal einen Zipfel erhascht, dann setzt das ungeheure Energien frei.

H&K: Was bekommt ihr bei eurer Arbeit vom Publikum mit?

Michael Hartenberg: Obwohl ich beim Dirigieren die Leute im Rücken habe, spüre ich ganz genau, wie ein Publikum mitgeht, mit welcher Intensität die Menschen zuhören, ob sie interessiert sind oder ablehnen, was sie hören. Da kommt so viel Energie entgegen! Das merkt man zum Beispiel daran, ob das Publikum gemeinsam atmet, oder in Momenten, in denen man das Gefühl hat, die Zeit bleibt stehen, oder ein ganzer riesiger Raum hält die Luft an. Ein Gefühl wie in der Achterbahn in dem Moment, bevor es runtergeht…

Thomas Jensen: Schön! Bei mir ist es schon ein Unterschied, ob ich nur als Plattenunterhalter gebucht bin oder, wie mit Eins-Zwo oder Fettes Brot, in einer Konzertsituation. Da merkt man meist nach ein, zwei Titeln, ob das läuft oder ob man es schwer haben wird. Es kommt aber auch vor, dass einem die Leute erzählen, dass es ein super Konzert war – obwohl man auf der Bühne eher das Gefühl hatte, die interessiert das nicht. Dagegen, wenn ich im Club Platten auflege, ist es einfach: Wenn keiner tanzt, ist es Scheiße. Direkter geht’s nicht.

H&K: Was, außer der Unterhaltung, ist euer Anspruch mit der Musik?

Michael Hartenberg: Den Leuten nur einen schönen Abend zu bereiten, wäre mir ein biss-chen wenig. Da könnte ich auch Würstchen verkaufen. Mir geht es darum, die Menschen wenigstens einen Augenblick zu berühren, zu bewegen. Das gehört für mich zum Schönsten, was man überhaupt erreichen kann in seinem Leben. Musik ist für mich die Möglichkeit, einen Menschen in seinem Innersten zu treffen. Wenn es eintritt, ist es wie eine Gnade. Dieses Erlebnis brauche ich auch selbst immer wieder, deshalb werde ich unruhig, wenn ich lange kein Konzert hatte.

Thomas Jensen:Stimmt. Ich will ich das Publikum auch nicht nur unterhalten mit dem, was es schon kennt, sondern ich will auch überraschen und will auch meinen Geschmack, meine Sicht transportieren. Das ist immer eine Gratwanderung, weil ich ja auch nicht weiß, wer die Leute sind. Wenn die Leute dann weitertanzen, das ist toll!

H&K: Gibt es etwas an der Arbeit des anderen, das euch reizt, um das ihr euch gegenseitig beneidet?

Michael Hartenberg: Was mich bei dir wirklich fasziniert, ist dass du einfach guckst: Was braucht der Raum, was brauchen die Leute jetzt, in diesem Moment? Das ist ja auch so eine Art von sensiblem Sensorium, das man dafür ausbilden muss. Ich stelle mein Programm schon Monate vorher zusammen, ob ich mich dann später in der Situation danach fühle oder nicht. Du kannst da viel spontaner entscheiden, und das finde ich toll, weil das auch so ein lebendiger Prozess ist, wo man mit den Menschen zusammen etwas kreiert.

Thomas Jensen: Also ganz besonders beeindruckt hat mich deine Beschreibung von der Spannung, die du spürst, wenn du mit dem Rücken zum Publikum arbeitest. Da beneide ich dich darum, so etwas erlebe ich ja nie, ich drehe denen höchstens den Rücken zu, wenn ich in meiner Kiste wühle – und dann bin ich meistens gerade etwas ratlos.

Moderation: Sigrun Matthiesen

DJ Rabauke heißt eigentlich Thomas Jensen, ist 31 Jahre alt und Vater eines zweijährigen Kindes. Schon mit 17 war er DJ, ging dann mit „Fettes Brot“ auf Tournee, woraus das Hip-Hop-Projekt „Eins, Zwo“ entstand. Seit einem Jahr arbeitet er an seinem eigenen Album mit Elektro- und Dance-Musik, für das er noch eine Plattenfirma sucht.

Die Mutmacher: Helmut

Wie Hinz&Künztler heute leben

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Rund 3400 Verkäufer haben seit 1993 bei Hinz & Kunzt angefangen. Vielen von ihnen ist der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit gelungen. Wie Helmut Feldtmann. Vor sieben Jahren war er ganz tief unten. Heute hat er eine Wohnung und einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma. Und er hilft anderen Alkoholikern beim Ausstieg aus der Sucht.

Eine Sekunde entschied mein Leben. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit, komme über den Hauptbahnhof und sehe einen Obdachlosen. Er kauert da am Boden, ist betrunken und hat seine Mütze aufgestellt. Er sieht niemandem ins Gesicht. Ich werfe ihm nichts in die Mütze, obwohl er mein ganzes Mitgefühl hat. Ich sehe nämlich mich selbst in ihm.

Es war 1996. Alle meine Säulen brachen bei mir weg, die ein Leben so ausmachen: Ich verlor meinen Job als Lagerarbeiter, meine Frau trennte sich von mir, und ich musste aus der Wohnung raus. Da stand ich dann mit meinen paar Sachen auf der Straße und wusste nicht weiter. Der Alkohol hatte alles zerstört. Ich hatte alles zerstört. Und natürlich war das nicht alles auf einmal passiert, sondern schleichend.

Aufgewachsen bin ich im Alten Land, ich komme aus einem alten Bauerngeschlecht. Da macht man alles mit sich selbst aus, gerade wenn man ein Junge ist. Okay, alle trinken auf dem Land. Es gab Leute, die sogar viel mehr getrunken haben als ich, aber die waren nicht unbedingt Alkoholiker. Ich wurde einer. Ich brauchte den Alkohol.

Bei so einer Großveranstaltung beispielsweise. Da sollte ich die Eröffnungsrede halten. Ich hatte Angst, kein Wort rauszukriegen. Also kippte ich mir kurz einen hinter die Binde. Es klappte. Ich war total locker, die Rede war gut, ich bekam Applaus. Oder in der Disko. Ohne dass ich etwas getrunken hatte, war ich viel zu schüchtern. Alkoholsucht kommt ja nicht von heute auf morgen, sondern dauert unter Umständen Jahre, bis sie richtig „ausbricht“. Man sagt sogar: Sie braucht zehn Jahre, bis sie entsteht, und zehn Jahre, bis man sie erkennt.

Ich wollte immer aussteigen. Ich dachte, ich könnte meinen Alkoholkonsum irgendwann kontrollieren. Das war natürlich eine Illusion. Man steigt nur aus, wenn man den Tiefpunkt erreicht hat. Und diesen Tiefpunkt musste ich erst mal erreichen. Der war grausam … Ich wohnte also auf der Straße, machte irgendwo Platte oder fuhr mit der S-Bahn oder U-Bahn, um mich aufzuwärmen. Manchmal verbrachte ich ein paar Nächte auf dem Wohnschiff. Zehn Tage wohnte ich im „Pik As“, hielt es da aber nicht mehr aus. Es war, als gucke man seinem eigenen Elend ins Gesicht. Nebenbei verkaufte ich Hinz & Kunzt.

Da gibt es Stephan, den Sozialarbeiter. Das wusste ich, aber ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. Ich war jetzt schon mehr als ein Jahr auf der Straße, und der Winter stand vor der Tür. Eines Tages traf ich K. wieder, einen anderen Obdachlosen, einen Junkie, der in meinen Augen total fertig war. Der guckte mich von oben bis unten an und sagte: „Damals auf dem Wohnschiff sahst du aber noch besser aus.“

Das saß. Ich blickte ins Schaufenster, sah mein Spiegelbild und erschrak. So sehr, dass ich mich auf dem Absatz umdrehte und weglief. Einfach nur weg. Dabei konnte ich kaum laufen, mein ganzer Körper war krank, meine Beine waren total kaputt. Schlagartig wurde mir klar, dass ich jetzt nur eine Wahl hatte: Leben oder Tod. Und wenn ich sage Tod, dann meine ich nicht normal sterben, sondern elendiglich verrecken.

Am nächsten Tag stand ich pünktlich bei Hinz & Kunzt auf der Matte – und ging sofort zu Stephan. „Ich will hier raus“, sagte ich. Stephan lächelte mich an: „Ich habe schon lange auf dich gewartet“, sagte er. „Du siehst mich doch jeden Tag“, fragte ich erstaunt, „warum hast du mich nicht angesprochen?“ „Es hätte keinen Sinn gehabt, oder?“, sagte Stephan. Und leider muss ich zugeben: Das stimmt.

Von da an ging es bergauf. Langsam zuerst. Stephan vermittelte mir einen Schlafplatz im Bodelschwinghhaus. Die nächste Hürde war die Entgiftung. Ich wollte zwar eine machen, aber mich trotzdem nicht vom Alkohol trennen. Bevor ich in die Vorsorge nach Alsterdorf ging, um mich auf die Therapie vorzubereiten, habe ich mit Kumpels ordentlich Abschied gefeiert. So doll, dass die mich in Alsterdorf gleich wieder weggeschickt haben. Siehste, klappt nicht, sagte ich mir und kaufte mir sofort wieder einen Flachmann.

Aber irgendwas stimmte nicht. Irgendwie konnte ich den nicht mehr in Ruhe trinken. Die andere Stimme in mir, Mensch, hör auf, war zu laut. Da saß ich also und wusste nicht mehr weiter. Die wussten ja auch, dass ich eigentlich weg wollte vom Alkohol. Einer von der Heilsarmee – der sprach auch noch Platt, meine Muttersprache – sagte dann: „Ick foer di no Alsterdoerp hen.“ Okay, dachte ich, irgendwann. Und er: „Der Bus steht vor der Tür. Jetzt.“ Ich zögerte. „Du kannst in den Bus einsteigen oder auch nicht. Es ist ganz allein deine Entscheidung“, sagte der Mann von der Heilsarmee. Und ich stieg ein. Diese eine Sekunde hat mein Leben entscheidend verändert. Seitdem habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Ich brauche mir noch nicht mal zu sagen: „Alkohol tut dir nicht gut, du darfst keinen Alkohol trinken.“ Nein, Ich brauche ihn einfach nicht mehr.

Inzwischen habe ich auch wieder eine Wohnung und sogar einen Job. Ich arbeite bei einer Zeitarbeit und werde mal hier, mal dort eingesetzt. Aber der Schlüssel zu allem war die Entscheidung, dass ich selbst verantwortlich bin für mein Leben. Dass es egal ist, was Eltern oder sonst wer getan haben, dass du alleine es bist, der etwas verändern kann. Das sind natürlich nur Worte, aber sie stimmen. Ich bin bei den Anonymen Alkoholikern, habe dort viel Halt bekommen, aber auch meine eigene innere Kraft entdeckt. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Diese innere Kraft macht mich richtig zufrieden. Ich berate ehrenamtlich andere Alkoholiker – einfach, weil ich denen Hilfestellung geben will, die noch so leiden, wie ich damals gelitten habe.

Birgit Müller

Die Mutmacher: Jojo

Wie ehemalige Hinz&Künztler heute leben

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Rund 3400 Verkäufer haben seit 1993 bei Hinz & Kunzt angefangen. Vielen von ihnen ist der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit gelungen. Wie Joachim Donath. Sein Spitzname Jojo passt zum Auf und Ab seines Lebens. Seit vergangenem Jahr steuert er 40-Tonnen-Tankwagen über Europas Straßen.

Das Kissen, ohne das Joachim Donath nicht losfährt, hat einen Fellüberzug, der einmal weiß war. Damit klettert der 50-Jährige auf den Fahrersitz der 470-PS-Zugmaschine. Mit dem Kissen verstärkt er die Rücklehne, sodass er weiter vorne sitzen kann. Sein Bauch berührt fast das Lenkrad. Ja, er hat zugenommen, seit er mit dem Rauchen aufhörte. Umso heftiger kaut er nun auf Kaugummis herum. Seine schwarze Kappe trägt er mit dem Schirm nach hinten. Ein lässiger Trucker.

Joachim Donath ist 1,37 Meter groß. Und wer als Erwachsener 1,37 Meter misst, muss mehr als andere dafür sorgen, nicht übersehen zu werden. Entsprechend energisch gibt Donath Ende der siebziger Jahre seinen Einstand in Hamburg. In einer Kneipe auf St. Pauli gerät er mit zwei Gästen aneinander. Wahrscheinlich unterschätzen die beiden seine Kraft und sein Geschick. Das ist ihr Pech. Jojo, damals Mitte 20, taucht plötzlich mit dem Kopf zwischen die Beine des Ersten, richtet sich auf, hebt den Widersacher hoch und befördert ihn durch die Scheibe nach draußen. Der zweite Gast folgt auf gleichem Wege.

Donath, der in Krefeld aufwuchs, teilte auch früher schon aus. Er verhaut Mitschüler, deren Eltern nicht glauben wollten, dass „der Kleine da“ das geschafft haben soll. Einmal würgt er einen größeren Kameraden im Schwitzkasten so sehr, dass es lebensgefährlich wird. Ein „streitsüchtiger und jähzorniger Gnom“ sei er gewesen, sagt Donath. Die Zeiten sind vorbei, der Mann ist 50 und kann einen Streit auslassen. Aber Jojo hat nicht nur Kraft, sondern auch einen schlauen Kopf. Er ist um Worte nie verlegen, mit seiner angenehmen, volltönenden Stimme kann er reden und reden. „Ich hätte beruflich etwas mit Sprachen machen sollen“, sinniert er. Ein „Sprach-Chamäleon“ sei er, und zum Beweis wechselt er für ein paar Sätze ins Englische, streut italienische, türkische und französische Brocken ein, gibt Wortspiele auf Platt zum Besten und klärt über die Sprache der Roma auf.

Aber damals, nach der Schule, war für diese Begabung kein Platz: Jojo beginnt eine Lehre als Kfz-Schlosser, die er nicht zu Ende bringt. Er arbeitet in Kanada als Taucher, möchte in Kiel sogar eine Tauch-Ausbildung beginnen, aber die Berufsgenossenschaft findet: Donath ist zu klein. 1977 kommt er nach Hamburg, schleppt im Hafen 75-Kilo-Säcke, wird Staplerfahrer und Kranführer. Die großen Maschinen, die Bagger, Kräne und die Lkws seien „wie Prothesen“. Eine kontrollierte Möglichkeit, die eigene Kraft nach außen zu übersetzen.

„Na, hast du dich kurzgelaufen?“, haben Kollegen in seinen zahlreichen Jobs gefragt. Aber das seien imme freundliche Sprüche gewesen, Verletzendes habe er von Kollegen nie gehört, sagt Donath. Eher Anerkennung, dass er anpackt wie jeder andere und sich nicht auf einen möglichen Status als Schwerbehinderter zurückzieht. Anders manche Arbeitgeber. „Wir beschäftigen keine Zirkusleute“, beschied ihm ein Bauunternehmen. Etwas feiner formulierte es eine Reederei: „Sie passen nicht in das repräsentative Gefüge unserer Firma.“

Ende der achtziger Jahre will Jojo finanziell größer werden, als er ist. Er lebt mit einer Frau und deren drei Kindern zusammen. Das Geld, das der Familie fehlt, möchte er erspielen, bei Roulette und Black Jack. Joachim Donath wird abhängig vom Glücksspiel. Einige Jahre später, die Beziehung ist längst beendet, bringt ihn die Sucht um seine Wohnung, anderthalb Jahre schlägt er sich auf der Straße durch. Voreiliges Mitleid durchkreuzt er sofort. Eine „gute Zeit“ sei das gewesen, „es entsprach meinem Unabhängigkeitssinn.“

Der Februar 1997 wird kalt. In der Innenstadt, auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, stellt Hinz & Kunzt ein beheiztes Zelt für Obdachlose auf. Joachim Donath kommt sozusagen als Nachbar dazu, denn er macht Platte vor Karstadt in der Mönckebergstraße. Im Zelt hilft er bei der Organisation und übernimmt Nachtschichten. So entsteht der Kontakt zum Straßenmagazin. In den folgenden Monaten verkauft Donath die Zeitung und verfasst selbst Beiträge, von kecken Beobachtungen beim Betteln bis zu einem beklemmenden Bericht über seine Erfahrungen in der Psychiatrie.

Dann der Absprung aus Hamburg. Ein Kurierfahrer, der in einer Kiez-Kneipe kräftig getankt hat, sucht lallend einen Ersatzmann, der ihm den Transporter nach Schweden weiterfährt. Jojo sagt zu. Bald darauf folgt er dem Auftraggeber an den Bodensee, wo er Jobs bei Baufirmen annimmt. Donath wird „trocken“: Er spielt nicht mehr. „Die Arbeit hat mich gefordert, das Spielen wurde uninteressant.“

Inzwischen lebt Donath wieder in Krefeld, bei seiner 81-jährigen Mutter. 2001 macht er den Lkw-Führerschein. Jahrelang hatte es beim TÜV geheißen: Da müssen wir erst mal die Pedal- und Lenkkräfte messen, und dann sind da einige Auflagen nötig, und der Lkw muss umgerüstet werden. „Das hätte sich nicht gelohnt“, sagt Donath. Erst als sich ein aufgeschlossener TÜV-Mitarbeiter ansieht, wie Donath tatsächlich einen 40-Tonner lenkt, wie er schaltet und bremst, ist der Weg frei. Einzige Auflage: das Kissen vor der Rückenlehne, um die Sitzfläche zu verkürzen.

Heute arbeitet er bei der Tankwagen-Spedition Rohrbach in Krefeld. „Er hat sich ganz normal beworben“, sagt Chef Günter Rohrbach. Fuhrparkleiter Ewald Keller fügt an: „Eine gewisse Skepsis hat man schon. Aber er hatte sein selbst geschnitztes Kissen dabei, wir haben eine Probefahrt gemacht – das war völlig unproblematisch.“ Donath wird eingeplant wie jeder andere Fahrer auch, er hat keinen speziellen Lkw, keine spezielle Strecke. Von Sonntagabend bis Freitagabend ist er unterwegs – ein Job für Junggesellen. Er schläft im Lkw, wie es das Gerüst von Fahr-, Arbeits- und Ruhezeiten gerade vorsieht. An Bord hat Jojo einen Laptop mit Routenplaner, auf dem er sich gelegentlich einen Film auf DVD ansieht. Das war’s dann auch mit Freizeitvergnügen.

In den wenigen Nächten zu Hause wacht Donath manchmal auf: „Habe ich eine Kurve verpasst?“ Die Konzentration am Steuer wirkt nach. Bald geht’s wieder los. Gegen 22 Uhr wird er auf dem Hof der Spedition einen leeren Lkw in Empfang nehmen. Am Montag um 6 Uhr soll er im französischen Saint Avolt Acryl laden. Für den Fernfahrer Joachim Donath beginnt eine weitere Woche auf der Straße.

Detlev Brockes

Die Turnschuh-Connection

Hamburger setzen sich für Arbeiterinnen in der indonesischen Turnschuhindustrie ein

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

„Ich bin Indonesierin, aber so etwas habe ich noch nie gesehen“, sagt Kartini Mumme. Die 51-Jährige, die seit Jahren in Hamburg lebt, zeigt Fotos aus ihrem Heimatland, aufgenommen in der Hauptstadt Jakarta.

Zu sehen sind wackelige Bretterbuden ohne Möbel, ohne Bad oder Küche, der Boden mit rohem Zement bedeckt. Direkt daneben: Müllberge und ein Rinnsal schmutzigen Wassers, das im offenen Gelände versi-ckert. In den Buden „wohnen“ Frauen, Fabrik-Arbeiterinnen, oft zu viert in einem Raum. Tagsüber nähen sie Turnschuhe, für Adidas, Nike und Konsor-ten. Später landet diese Ware auch in deutschen Läden, wo sie für viel Geld den Besitzer wechselt.

„Die Frauen können sich nichts kaufen, nur das, was sie fürs nackte Überleben brauchen“, sagt Waltraud Waidelich vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt. Eine Delegationsreise von Brot für die Welt führte die 47-Jährige gemeinsam mit Kartini Mumme in die Wohnquartiere der indonesischen Arbeiterinnen, die Ware für den europäischen und US-amerikanischen Markt fertigen. Das Problem: Obwohl der deutsche Verbraucher für einen guten Markenturnschuh rund 100 Euro hinblättert, erhalten die Frauen, die den Turnschuh nähen, nur 0,4 Prozent davon als Lohn. 30 Prozent dagegen werden für Werbung ausgegeben, also für die „Erschaffung eines Lebensgefühls“, das nichts mit dem Leben der indonesischen Arbeiterinnen gemein hat: Die Näherinnen verdienen umgerechnet rund 55 Euro monatlich, dabei beträgt ihre wöchentliche Arbeitszeit 48 bis 60 Stunden. Von dem Geld ernähren die Frauen oft ganze Familien. Dabei liegen die durchschnittlichen Monatsmieten in Jakarta bei 150 Euro, gesunde Ernährung schlägt mit rund 30 Euro monatlich zu Buche. Bezahlbar ist da nur die Schlafstelle in der Bretterbude, die für fünf Euro zu haben ist. Dennoch klagt kaum jemand: In Jakarta leben 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Da ist man froh, überhaupt einen Job zu haben. Wer den miserablen Lohn kritisiert, fürchtet die Kündigung, und die Gewerkschaften sind entweder regierungsnah oder zerstritten.

„Wir müssen die Frauen unterstützen“, ist Waltraud Waidelich überzeugt. „Aus eigener Kraft schaffen sie es nicht.“ Nach der Rückkehr nach Deutschland reifte deshalb bei ihr ein Plan: Schon heute setzt sich die Urban Community Mission (UCM), eine Partnerorganisation von Brot für die Welt, in Jakarta für die Arbeiterinnen ein. Sie schult sie in ihren Rechten und hilft ihnen, sich zu organisieren. Parallel dazu sollen jetzt in Hamburg Bezugsgruppen gegründet werden. Die können sich aus Mitarbeitern hiesiger Unternehmen bilden, die die in den Weltmarktfabriken gefertigten Turnschuhe verkaufen, aber auch in Sportvereinen, Verbrauchergruppen oder Freundeskreisen. Bei Missständen in den indonesischen Betrieben werden die Bezugsgruppen durch UCM informiert, die die Beschwerden wiederum an die hiesigen Firmenzentralen weiterleiten.

Angelehnt ist die Idee Waidelichs an die Kampagne für Saubere Kleidung (CC-Campaign). Mit ihr kämpfen vor allem kirchliche Gruppen und Dritte-Welt-Initiativen seit rund zehn Jahren in ganz Europa für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie weltweit. Kampagnenziel ist es, negative Auswirkungen der Globalisierung aufzuzeigen und hiesige Unternehmen dazu zu bewegen, die Verantwortung für den gesamten Herstellungsprozess ihrer Waren zu übernehmen – auch wenn sie diese von Zulieferfirmen in fernen Ländern fertigen lassen.

Während die CC-Campaign die Öffentlichkeit dazu mobilisiert, Firmen mit Protestbriefen zu überhäufen, um so das Unternehmen über den befürchteten Imageschaden zum Eingreifen zu bewegen, ist der Plan Waidelichs obendrein auf Kooperation ausgerichtet: Hier zählt der direkte Draht zwischen den Menschen an den Nähmaschinen in Indonesien, den Sportbegeis-terten in Hamburg und zu den Menschen am Schreibtisch, zum Beispiel in der Puma- oder Adidas-Zentrale in Herzogenaurach.

„Hätte ich das alles bloß früher gewusst“, sagt Brita Warner. Das Leben der 60-Jährigen ist seit ihrer Jugend am Sport orientiert. Sie ist Vorsitzende im Hamburger Ruderinnenclub, war lange für den Hamburger Sportbund engagiert und hat rund 15 Marathons bewältigt. „Zeitweise hatten wir 25 Paar Turnschuhe im Schrank“, sagt sie, alle um 120 Euro teuer. Auf einer Podiumsdiskussion zum Thema „Fair Laufen“ im Mai dieses Jahres hörte sie zum ersten Mal davon, dass von diesem Geld nur 48 Cent als Lohn an die Arbeiterinnen fließen. „Ich wäre durchaus bereit, 52 Cent draufzupacken“, fügt sie sarkastisch hinzu. Seither ärgert Brita Warner sich, dass es nirgends einen fairen Sportschuh zu kaufen gibt. Deshalb will sie sich auch an dem Bezugsgruppen-Plan beteiligen. „Wenn ein Missstand angezeigt wird und ich mitbekomme, das Unternehmen kümmert sich, dann finde ich das sympathisch“, so Warner – und das beeinflusst die Kaufentscheidung.

„Eine kleine Bezugsgruppe würde sich bei uns bestimmt bilden“, sagt Verena Johannsen. Die 35-Jährige ist Gründungsmitglied des Hamburger Sportgeschäftes Laufwerk. Zwar weiß Johannsen seit langem von den Bedingungen, unter denen ihre Ware produziert wird. Doch sie glaubte bisher, was sie und ihre Kollegen dagegen tun können, sei „nicht viel“. Die Idee, über die Bezugsgruppe in direkten Kontakt zu den Menschen in Indonesien zu treten, ändert die Lage: „Da fühlt man sich viel mehr zuständig“, sagt sie. Ein kleines Flugblatt, im Laden ausgelegt, könnte für weitere Solidarität von Hamburger Sporttreibenden mit Sportschuh-Näherinnen sorgen.

„Es lohnt sich, bei den Firmen zu protestieren“, sagt Waltraud Waidelich. Und Evelyn Ulrich von der Abteilung Soziales und Umwelt bei Adidas in Herzogenaurach verspricht: „Wenn wir von Missständen erfahren, prüfen wir das sehr intensiv.“ Dass dieses Engagement mit der CC-Campaign zusammenhängt, will Ulrich zwar nicht bestätigen. Doch die zeitlichen Parallelen sind unübersehbar: Seit 1998 müssen Adidas-Zulieferer bei der Unterzeichnung der Verträge auch die Einhaltung so genannter Standards of Engagement garantieren. Darin sind Regeln zur Beschäftigung, zu Arbeitnehmerrechten, zu Umwelt, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz festgelegt. Diese Regeln dienen als Messlatte zur Auswahl der Geschäftspartner, so Frank Henkel, Global Director für Soziales und Umwelt bei Adidas. Allein in Indonesien kontrollieren drei Adidas-Mitarbeiter zumeist angemeldet die Einhaltung dieser Regeln. Regelmäßig besuchen die Adidas-Mitarbeiter die Fabriken auch, um sowohl das Management als auch die Arbeiterinnen zu schulen. Seit 1999 lässt Adidas nach eigenen Angaben über die Fair Labour Association jährlich in etwa 42 Unternehmen auch unangemeldete Kontrollen durchführen. Und Henkel gesteht: „Natürlich identifizieren wir Probleme.“

Menschenrechtler kritisieren aber, dass dieses Gremium nicht unabhängig sei. Und dass angemeldete Kontrollen nichts bringen. Auch die Hamburger Delegierten von Brot für die Welt besuchten angemeldet eine Weltmarktfabrik, in der 6000 Arbeiterinnen und Arbeiter 18.000 Schuhe täglich für Adidas produzieren. Wo Frauen Sohlen anklebten, trugen sie Mundschutz, Klebemittel waren auf wasserlöslicher Basis, die Standards of Engagement hingen deutlich sichtbar für alle Arbeiter in der Fabrikhalle aus. Aber: „Garantiert stand immer einer aus der Firmenleitung neben mir, wenn ich mit einer Arbeiterin sprechen wollte“, sagt Kartini Mumme. Der direkte Kontakt zu den Arbeiterinnen über die Partnerorganisation UCM bringt da gesichertere Informationen.

Doch es gab auch Dinge zu sehen, die sich nicht eigens für einen Besucher arrangieren lassen: die Krankenstation beispielsweise oder eine riesige Kantine mit Sitzbänken für die Mittagspause. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Vor einer Fabrik, in der für Nike produziert wird, sahen die Hamburger Tausende Arbeiterinnen ihr mitgebrachtes Essen auf dem Sandboden hockend einnehmen. Drei Tage Urlaub im Jahr hätten sie, sagten die Frauen dort. In der für Adidas produzierenden Firma sind es 18. Viele der Verbesserungen, so habe der Firmenchef zugegeben, seien erst vor zwei Jahren eingeführt worden. Künftig wolle man auch die Wohn- situation der Frauen verbessern.

Solche Sozialleistungen kosten natürlich Geld. Damit ein Unternehmen für seine Umsicht nicht bestraft wird und der Auftraggeber in Länder wie China oder Vietnam abwandert, müssten für jedes so genannte Drittweltland aufmerksame Verbraucher-Netzwerke und Bezugsgruppen enstehen. Brita Warner: „Den Firmen muss klar sein, dass es nicht nur im Sport fair zugehen soll. Wir wollen auch faire Turnschuhe kaufen.“

Annette Woywode

Brot für die Welt: www.bfdw-hamburg.de
Kampagne für saubere Kleidung: www.saubere-kleidung.de

Nr. 8: Innenstadt für alle!

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 127/November 2003)

Darum geht es:

Theoretisch darf sich jedermann auf Straßen und Plätzen aufhalten, so lange er will. Praktisch gilt das für Bettler, Drogenkranke, Obdachlose und Alkoholiker nicht immer. Sie würden die öffentliche Sicherheit und Ordnung stören und mit Anblick und Verhalten Bürger belästigen, argumentieren manche und fordern mehr oder weniger offen die Verbannung der Außenseiter aus den Innenstädten. Gleichzeitig wird der öffentliche Raum zunehmend privatisiert. Ob in Einkaufspassagen oder in Bahnhöfen, immer häufiger gilt: Die Stadt gehört nicht mehr allen.

Der Hintergrund:

Bereits 1996 startete der damalige Hamburger Innensenator Hartmut Wrocklage (SPD) mit Hilfe seines „Bettlerpapiers“ den Versuch, Sozialschwache aus der City – für ihn eine „Visitenkarte der Stadt“ – zu vertreiben. Hinz & Kunzt und andere soziale Organisationen hielten dagegen, die Innenstadt sei für alle da – und gewannen die Mehrheit der Bürger und Politiker für sich. Wrocklage musste seine „Maßnahmen gegen die drohende Unwirtlichkeit der Stadt“ zurück in die Schublade legen.

Regelmäßig starten seitdem konservative Politiker, Kaufleute und Medien Kampagnen gegen vermeintlich um sich greifende Phänomene wie „aggressives Betteln“, „exzessives Trinken“ und „Pöbelei“. Eine „Verwahrlosung“ des öffentlichen Raums dürfe nicht hingenommen werden, „zwielichtige Gestalten“ würden die Bürger stören und die Umsätze mindern, sagen die Befürworter einer „sauberen Innenstadt“. Was sie meist verschweigen: Längst bietet das Sicherheits- und Ordnungsgesetz (SOG) der Polizei ausreichend Mittel, um gegen „Störer“ vorzugehen: Ordnungsgeld, Platzverweis, Ingewahrsamnahme und Strafanzeige.

Während immer mehr Hüter von Sicherheit und Ordnung durch die Straßen patrouillieren (Städtischer Ordnungsdienst, Altonaer Präventionsdienst usw.), wird der öffentliche Raum immer kleiner, in Hamburg wie anderswo. Besonders sichtbar wurde das nach dem Streit um die Bahnhofsmissionen, den Bahnchef Hartmut Mehdorn vor zwei Jahren anzettelte. Zwar dürfen sich die Missionen weiterhin um die Gestrandeten der Gesellschaft kümmern. Doch drängt sie die Deutsche Bahn AG zunehmend an den Rand der Bahnhöfe. Ähnlich ergeht es Obdachlosen, Alkoholikern und Drogenkranken dort schon länger: Sicherheitsdienste jagen sie in Zusammenarbeit mit dem Bundesgrenzschutz (BGS) regelmäßig fort, eine entsprechend formulierte Hausordnung („Sitzen und Liegen, Betteln und Herumlungern verboten“) macht das möglich.

In der Hamburger City dagegen suchen Geschäftsleute, soziale Initiativen, Behörden und Polizei am Runden Tisch St. Jakobi den Interessenausgleich. Die Stadt komme ihrer sozialen Fürsorgepflicht nicht ausreichend nach, erklärte der Runde Tisch im November 2001 und forderte mehr Straßensozialarbeiter sowie zusätzliche Schlafplätze für Obdachlose. Die Sozialbehörde schickte daraufhin einige Monate lang Streetworker in die Innenstadt – um anschließend zu erklären, es gebe für deren Arbeit „keinen Bedarf“.

Immerhin: Im Rahmen der Spendenaktion „Ein Dach für Obdachlose“ sammelten Geschäftsleute 20.000 Euro und finanzierten so gemeinsam mit der Stadt, die die gleiche Summe zuschoss, die Einrichtung eines „Stützpunktes“ für Obdachlose auf dem Domplatz. Ein Sozialarbeiter der Caritas bietet dort seit Anfang des Jahres seine Hilfe an, Sanitäranlagen gibt es und Schließfächer. Doch das Hilfsangebot reicht nicht aus, sagt City-Manager Henning Albers stellvertretend für den Runden Tisch und fordert mehr Engagement von der Stadt: „Die Gespräche mit der Sozialsenatorin sind im Ergebnis bislang unbefriedigend.“

Derweil beobachten Streetworker die architektonische Vertreibung von Menschen aus der Innenstadt: So sind dem Mitternachtsbus, der Obdachlose an deren Schlafplätzen besucht und sie versorgt, kürzlich drei Männer „verloren gegangen“. Ihnen wurde im Zuge des Baus der Europa-Passage förmlich das Bett abgerissen; sie schliefen dort, wo heute eine Baustelle ist. Wenn die Passage eines Tages zum Flanieren einladen wird, werden sie wohl draußen bleiben müssen – so wie bei anderen privatisierten Einkaufsstraßen und -zentren heute schon.

Wie machen es andere:

Viele Kommunen haben zusätzlich zu den Sicherheits- und Ordnungsgesetzen der Länder „Innenstadtverordnungen“ erlassen, mit denen detailliert alles verboten wird, was etwa Obdachlose so machen: Übernachten im Freien, Zelten, Bier trinken, „Rumlungern“. In einigen Bundesländern schafft die Polizei unliebsame Menschen sogar aus den Städten raus und setzt sie auf dem Land aus, damit sie nicht wiederkommen („Verbringungsgewahrsam“). Städte und Gemeinden, die Sozialschwache als Bürger mit entsprechenden Rechten sehen, geraten zunehmend in die Minderheit.

So müsste es laufen:

– Einkaufszentren, Bahnhöfe und Flaniermeilen sollten allen zugänglich sein

– Mehr niedrigschwellige Aufenthalts- und Arbeitsangebote für Sozialschwache in der Innenstadt, mehr Straßensozialarbeiter

– Ende des Sozialabbaus

– Wer pöbelt, muss die vorgesehenen Strafen in Kauf nehmen

Ulrich Jonas