Nr.10: Schwitzen statt sitzen

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Darum geht es:

Unsere zehnte und letzte Geburtstagsforderung ist gerade erfüllt worden. Denn bald können Richter ihre Urteile noch weiter differenzieren als bislang. Statt eine Haftstrafe bis zu sechs Monaten auszusprechen oder eine Geldstrafe, können sie den Verurteilte – mit seinem Einverständnis – zu gemeinnütziger Arbeit verdonnern.

Der Hintergrund:

„Schwitzen statt sitzen“ – unter diesem Motto stand der Gesetzesentwurf, der jetzt das Kabinett in Berlin passiert hat. Und schwitzen statt sitzen war schon lange eine Forderung von uns. Denn viele sozial schwache Täter landen im Gefängnis, selbst wenn sie ausdrücklich nicht zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Der Grund: Sie können die Geldstrafe nicht bezahlen.

In Hamburg gibt es heute schon die Möglichkeit, eine Geldstrafe mit gemeinnütziger Arbeit abzuleisten. Immer mehr Menschen machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Im Jahr 2001 wurden in der Hansestadt so 20.540 Hafttage „abgearbeitet“, 2002 schon 22.358 und bis Mitte November 2003 sogar 24.665. Allerdings ist das Prozedere kompliziert: Erst wenn der Verurteilte seine Geldstrafe nicht fristgemäß bezahlt, bekommt er einen Brief, in dem ihm gemeinnützige Arbeit vorgeschlagen wird.

Das Problem war bisher: Viele Täter, die kleinere Delikte wie Schwarzfahren oder Diebstahl begangen haben und ihre Strafe nicht bezahlen können, haben sowieso große Schwierigkeiten, ihr Leben zu bewältigen. Viele sind arbeits- und perspektivlos. Oft sind sie hochverschuldet. Deswegen öffnen einige von ihnen ihre Post gar nicht mehr – aus Angst vor neuen Rechnungen. Diese Menschen landen dann, wenn sie sich nicht bei der Justizbehörde melden und einen Platz für gemeinnützige Arbeit annehmen, automatisch im Knast.

Deswegen war uns immer schon wichtig, dass gemeinnützige Arbeit direkt bei der Urteilsverkündung als Alternativ-Strafe verhängt werden kann. (Allerdings nur mit Einveständnis des Täters. Aufgrund der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus darf man in Deutschland niemanden gegen seinen Willen zur Arbeit verurteilen.)

Straftätern diese Alternative zu bieten, ist nicht nur nett, sondern auch für den Staat eine Entlastung: Erstens sind die Gefängnisse sowieso überbelegt; zweitens bringt der Täter dort nicht wie vom Richter vorgesehen Geld ins Staatssäckel, sondern kostet auch noch: mindestens 90 Euro pro Hafttag und Person. Selbst Justizsenator und Hardliner Roger Kusch (CDU) ist von dem Modell angetan. Immerhin spart die Hansestadt so zwei Millionen Euro pro Jahr.

Die gemeinnützige Arbeit kann allen dienen: dem Staat und dem Täter. Bisher konnte es nämlich passieren, dass ein Täter seine Ersatzfreiheitsstrafe antreten musste, auch wenn er einen Job hatte. Ergebnis: Er verlor womöglich auch noch die Arbeit. Die gemeinnützigen Strafstunden kann er dagegen im Urlaub oder am Wochenende abarbeiten. Und manchmal haben die Täter sogar Glück im Unglück: Die Arbeit gefällt ihnen so gut, dass sie ehrenamtlich bei der Organisation bleiben oder sogar wieder einen ganz normalen Job finden. Besser kann Resozialisierung nicht funktionieren.

Birgit Müller

Mit dieser – erfüllten – zehnten Forderung endet unsere Serie „Zehn Jahre Hinz & Kunzt – zehn Geburtstagsforderungen“.
Hier die Forderungen im Überblick:

Nr. 1: Mehr Betten für kranke Obdachlose.
Die Krankenstube für Obdachlose ist hoffnungslos überfüllt.

Nr. 2: Hausbesuch statt Räumung
Viele Räumungen könnten verhindert werden, wenn säumige Mieter rechtzeitig Hausbesuch und Hilfe bekämen.

Nr. 3: Sozialticket muss bleiben!
Die Sozialbehörde hat Ende 2003 das Sozialticket für rund 38.000 Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose abgeschafft.

Nr. 4: Kundenfreundliches Amt
Sozialhilfeempfänger müssen oft stundenlang warten, bis ihnen geholfen wird. Ihre Sachbearbeiter sind nicht erreichbar und überfordert.

Nr. 5: Konto für jedermann
Wer kein Bankkonto hat, ist in unserer Arbeitswelt nur ein halber Mensch. Außerdem: Bareinzahlungen sind teuer.

Nr. 6: Fördern statt überfordern
Soziale Job-Agenturen sollen Sozialhilfeempfängern Arbeit vermitteln. Die Stütze soll nur bei mangelnder Kooperation gestrichen werden.

Nr. 7: Mehr Sozialwohnungen
Die Zahl der Sozialwohnungen in Hamburg geht drastisch zurück. Verlierer sind Menschen mit geringem Einkommen.

Nr. 8: Innenstadt für alle!
Der öffentliche Raum wird zunehmend privatisiert. Immer öfter werden Bettler und Obdachlose aus den Innenstädten vertrieben.

Nr. 9: Kleinere Unterkünfte
Statt Massenunterkünften fordert H&K kleine Unterkünfte für maximal 20 Menschen. Das erhöht ihre Chance auf Integration, vermindert Konflikte – und spart langfristig Geld.

Die Baumkämpferin

In der Bellealliancestraße verteidigen Anwohner ihr Eimsbüttler Idyll

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

E.on | Hanse präsentiert Die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Bellealliancestraße in Eimsbüttel.

„Klopfen Sie! Ist das hart?“, sagt Monika Bender und hält das Holzstück mit beiden Händen vor sich. Feines Sägemehl rieselt von dem Block auf den Wohnzimmerboden in der Bellealliancestraße. Als ich zögere, den vielleicht drei Kilo schweren Stammabschnitt anzufassen, wird die Rentnerin laut: „Na los, klopfen Sie schon! Ich will, dass Sie sich wehtun und spüren, dass dieses Holz hart ist.“ Auf den Fingern hinterlässt das Sägemehl einen Staubfilm – ein Hinweis darauf, das der Baum vor nicht allzu langer Zeit gefällt wurde. Die Kastanie, aus der der Block in Monika Benders Händen stammt, stand bis vor wenigen Wochen an der Grenze zu ihrem Hinterhof.

Zwei hellgrüne Plakate auf einem Fahrradhäuschen vor Haus Nummer 51 zeugen noch vom Gefecht um den Baum, für das Monika Bender und einige andere Anwohner eigens eine Bürgerinitiative „PRO Kastanie“ ins Leben gerufen hatten. Die Eigentümer der inzwischen gefällten Kas-tanie hatten einen Gutachter beauftragt, den Gesundheitszustand des Baumes zu bewerten. Seine Diagnose: Umsturzgefahr – zu viel Weichholz im Stamm.

An dem Fahrradhäuschen hat Monika Bender Auszüge eines von „PRO Kastanie“ in Auftrag gegebenen Gegengutachtens angeschlagen. Es bezeugt die Standfestigkeit des Baumes, wenn die Krone durch Schutzleinen gesichert würde. „Die hätten wir sogar bezahlt“, sagt sie. Auf dem Plakat prangt in fetten schwarzen Lettern: „Beweise!!!“ Das Wort hat sie doppelt unterstrichen. Heute erinnern nur noch zwei Dinge an den einstmals 24 Meter hohen Baum: der Rest des Stammes, den die Rentnerin auf ihrem Garderobenschrank im Flur deponiert, und der Baumstumpf im Hinterhof.

Wenn Monika Bender die Tür zum Hof öffnet, bleibt sie an der Schwelle stehen. Hinaus geht sie nicht. „Das letzte Mal, als ich den Stumpf besucht habe, standen die Nachbarn am Fenster und haben mich verhöhnt“, sagt sie und ballt die rechte Hand zur Faust. „Das – will – ich – nicht – mehr.“ Sie presst jedes Wort einzeln heraus. Die Faust hämmert in der Luft. Monika Bender ist eine Baumkämpferin. Und sie ist wütend. Wenn sie über das Erlebnis im Hinterhof spricht, sammeln sich Tränen in ihren Augen.

Vor dem Haus dagegen – von dort kann man den Baumstumpf nicht sehen – wirkt die Bellealliancestraße wie eine heile Welt: Verschnörkelte Fassaden reihen sich aneinander. Blau, rosa, altgelb, ein bunter Mix. Ein paar Designer klicken hinter den riesigen Schaufenstern ihres Büros auf ihren Maustasten herum. Ein Laden im Souterrain bietet Secondhand-Hosen an, ein anderer Haarpflegemittel aus Afrika. Eine Videofirma verleiht kostenlos Filme über den Wassermangel in Entwicklungsländern. In der Eckbar schlürft ein Mann mit Hut seinen Nachmittags-Kaffee. Ein kleiner Junge auf dem Gehsteig presst sich plärrend an die Hauswand. Die Mutter, vielleicht Mitte zwanzig, wartet in einiger Entfernung auf den Trotzigen. Die meisten Passanten lächeln ihr wissend zu.

In der Bellealliancestraße gibt es auffällig viele junge Mütter mit Kinderwägen. Und viele Bäume. Ein paar Kastanien, meistens aber Pappeln. An eine hat jemand einen Zettel gepinnt, auf dem er kalt geschleuderten Bienenhonig aus der Umgebung zum Verkauf anpreist. „Honig aus der Region ist wichtig zur Pollenimmunisierung (Heuschnupfen)“, steht da. Darüber ein Bild von Biene Maja. Drei der Telefonzettelchen sind schon weg. Die Bellealliancestraße, eine Idylle.

Aber eben nicht nur. Hinter den Fassaden brodelt es. „Als sie den Baum abgeholzt haben, dachte ich, ich bekomme einen Herzschlag“, sagt Monika Bender. Nachdem die Motorsägen zu kreischen aufgehört, die Holzfäller ihre Helme eingepackt und die 46 Jahre alte Kastanie fortgeschafft hatten, verordnete sich die Baumkämpferin für einige Wochen Ruhe. Kraft tanken, die Enttäuschung verarbeiten. Doch daraus wurde nicht viel. Vielleicht auch, weil die Wut ins Unerträgliche steigt, wenn man nur herumsitzt.

Die Bellealliancestraße ist eine Zwischenwelt. Durch sie schwappen politische Konflikte aus der benachbarten Sternschanze ins ansonsten eher ruhige Eimsbüttel. Der Blumenladen wirbt mit dem Spruch: „Zur schönen Verbindung“. Belle Alliance. Die Mitglieder von „PRO Kastanie“ nehmen den Straßennamen wörtlich. Sie haben sich zusammengetan, die Idylle zu erhalten. Statt lange um die Kastanie zu trauern, haben sie sich in einen neuen Kampf gestürzt – diesmal um die Linden rund um den Wasserturm im Schanzenpark. Die Mövenpick-Kette will den Turm als Hotel nutzen und einen Glasanbau errichten. „Wenn das Bezirksamt den Bauarbeitern keine zwingenden Auflagen macht, können die Bäume ganz leicht umgeholzt werden“, sagt Monika Bender. Sie befürchtet, dass sich ein Fall wiederholen könnte, der sie für die Bäume mobilisiert hat. Da ließ ein Autohaus in der Nähe der Bellealliancestraße rund 40 Bäume fällen – die Bauarbeiter wussten nicht, dass die Bäume geschützt waren. Seitdem sieht Monika Bender dreimal hin, wenn es um Anbauten geht.

Um das Bezirksamt zu strengen Schutzauflagen für die Linden im Park zu bewegen, haben Monika Bender und ihre Mitstreiter ein Bürgerbegehren gestartet. Bis Mai verteilen sie Unterschriftenlisten in Cafés, Bars und Geschäften. Die ausgefüllten Listen sammelt der Getränkehändler Claus Ebeloe, der seinen Laden ebenfalls in der Belle-alliancestraße betreibt. Gerade ist eine neue Bierlieferung angekommen. Claus Ebeloe verfrachtet die Kisten mit einer Sackkarre vom Bürgersteig in sein Geschäft, stapelt sie zu mannshohen Türmen. Er arbeitet allein. Für das Bürgerbegehren kann der Kleinunternehmer nur wenig Zeit aufbringen. „Aber als Frau Bender mich gefragt hat, ob sie die Adresse vom Laden auf den Zetteln angeben darf, habe ich zugesagt. Das ist doch das Mindeste als Nachbar“, sagt er. Schon hat er den nächsten Kasten gepackt, hält dann aber ein, stellt ihn wieder zurück.

Er richtet sich auf und krempelt seine Ärmel hoch. „Ich weiß nicht, warum Frau Bender sich so verschleißt. Die Lobby können wir doch ohnehin nicht überzeugen“, sagt er. Genau das will Monika Bender: „Ich mache das, weil die Leute die Einsicht brauchen, dass Bäume für uns Menschen unersetzlich ist. Unersetzlich!“ Wieder hämmert die Faust im Rhythmus der Worte. Für Monika Bender gibt es da keine Diskussion.

Die Initiatoren des Bürgerbegehrens müssen rund 6000 Einwohner des Bezirks Eimsbüttel von dieser Einsicht überzeugen – und zur Unterschrift bewegen. Dann kommt es zur Volksabstimmung über den Erhalt der Linden im Schanzenpark. „Das Gute ist: Schon wenn wir ein Drittel dieser Unterschriften zusammen haben, darf bis zur Abstimmung kein Baum gefällt werden“, sagt Bender, die sich inzwischen im Behördendschungel auskennt. Seitdem die Kastanie in ihrem Hinterhof gefällt wurde, weiß sie auch: Hat das Amt erst einmal eine Genehmigung erteilt, kann es die nur schwer zurücknehmen. Ob Monika Bender den Beamten mit dem nötigen Drittel der Unterschriften rechtzeitig zuvorkommt, weiß sie nicht. Sie kann nur hoffen. Und Zettel verteilen. Und derweil auf Holz klopfen.

Steffen Kraft

Häftlinge sahen schwarz

Spezialisten-Team sucht Drogen im Knast – Protest von Santa-Fu-Insassen

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Was geschah an einem Novemberabend in Zelle 334 in Santa Fu? Ein Gefangener hat Mitarbeiter der „Schwarzen Gang“ angezeigt, die in den Hafträumen nach Drogen suchen: Sie hätten ihn misshandelt. Das Strafvollzugsamt schließt solche Vorfälle aus.

26. November, kurz nach 22 Uhr. Lärm auf der Station C III in Santa Fu, dem Gefängnis für schwere Straftäter im Stadtteil Fuhlsbüttel. Die Revisionsgruppe des Strafvollzugsamtes, die auf die Drogensuche im Knast spezialisiert ist, hat sich die Zelle 334 vorgenommen. In den Hafträumen gegenüber gelingt es zwei Gefangenen, die Gucklöcher in ihren Türen zu öffnen. Der Häftling aus Zelle 334, so berichten die beiden später, habe auf dem Boden gelegen, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Ein Beamter der Revisionsgruppe habe auf ihm gekniet, ein anderer habe mindestens zwei Mal zugeschlagen. Als die Beamten außerdem die fixierten Arme hochgerissen hätten, habe der wehrlose Mann vor Schmerz geschrien.

Diese Beobachtungen sind in Eidesstattlichen Versicherungen niedergelegt. Decken sie ein schweres Vergehen von Vollzugsmitarbeitern auf? Oder wollen Gefangene die Revisionsgruppe in Verruf bringen, die erfolgreich gegen den Drogenhandel im Gefängnis vorgeht? Die Staatsanwaltschaft bestätigt, dass gegen zwei Beamte eine Anzeige wegen Körperverletzung eingegangen sei. Sprecher Rüdiger Bagger: „Die Ermittlungen laufen.“ Häftlinge in Santa Fu sammeln seit dem Vorfall Unterschriften, um „gegen die menschenverachtende und provozierende Vorgehensweise der Revisionsgruppe“ zu protestieren und sich „gegen jegliche Form von weiteren Übergriffen“ zu wehren. Bis Mitte Dezember hatten rund 50 Insassen unterschrieben.

Die Revisionsgruppe ist seit 1995 tätig. „Sie wird anstaltsübergreifend eingesetzt“, erklärt der stellvertretende Leiter des Strafvollzugsamtes, Hans-Jürgen Kamp. Jeder der zwölf Beamten führt einen Rauschgiftspürhund mit sich und ist geschult im Erkennen von Drogen. „Das Gesetz schreibt vor, Hafträume und Gefangene in Abständen zu durchsuchen“, sagt Kamp. In der Regel würden das die Beamten auf den Stationen übernehmen. Zusätzlich könnten die Anstalten die Spezialisten der Revisionsgruppe anfordern. „Sie sind rund um die Uhr tätig, also auch mal früh morgens oder nachts“, sagt Kamp. Die Gruppe habe keine Sonderrechte im Vergleich zu den Gefängnis-Mitarbeitern vor Ort.

Im vorvergangenen Jahr fanden die Spezialisten 1,5 Kilo Hasch, 50 Gramm Heroin und 36 Gramm Kokain – nach Einschätzung der Justizbehörde nur ein Bruchteil der Drogen, die in den Hamburger Gefängnissen gehandelt werden. Außerdem stellt die Revisionsgruppe immer wieder Messer, Schlagwerkzeuge und andere Gegenstände sicher, die als Waffe genutzt werden können, zum Beispiel spitz gefeilte Schraubenzieher.

Aktenkundig ist derzeit ein weiterer Vorwurf gegen die Revisoren, die wegen ihrer dunklen Schutzkleidung „Schwarze Gang“ genannt werden (wie die Drogenfahnder beim Zoll). Ein Santa-Fu-Häftling behauptet, zwei Beamte hätten ihm Rauschgift unterschieben wollen. Nach der Durchsuchung seiner Zelle hätten sie ihm einen durchsichtigen Beutel mit weißem Pulver vorgehalten. Der Gefangene bestritt den Besitz des Päckchens und sagte, er habe nie Drogen konsumiert. Einer der Beamten habe daraufhin geäußert: „Wir können das auch wieder verschwinden lassen, erzählen Sie uns, wo wir heute Abend noch Drogen finden können.“ Nach einer weiteren Drohung („Denken Sie genau nach, sonst finden wir hier öfter was“) sei die Durchsuchung beendet gewesen. Der Häftling erhob Dienstaufsichtsbeschwerde; von dem angeblichen Drogenfund hörte er nichts mehr.

Das Strafvollzugsamt weist die Vorwürfe entschieden zurück. „Ich schließe definitiv aus, dass Mitglieder der Revisionsgruppe Gefangene schlagen oder ihnen Rauschgift unterschieben könnten“, sagt Hans-Jürgen Kamp, der früher selbst Anstaltsleiter in Fuhlsbüttel war. „Für die persönliche Integrität der Mitarbeiter lege ich meine Hand ins Feuer.“ Kamp räumt ein, dass die Revisionsgruppe bei Gefangenen nicht unbedingt gut angesehen sei – aber gerade deswegen, weil sie bei den Durchsuchungen so erfolgreich sei. „Jeder Beschwerde gehen wir nach“, sagte er. „Sobald Vorwürfe strafrechtlich relevant sind, schalten wir auch von uns aus die Staatsanwaltschaft ein.“ Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die Revisionsgruppe gebe es im Schnitt einmal im Monat, Strafanzeigen weit seltener. Kamp: „Mir ist aber kein Ermittlungsverfahren bekannt, das überhaupt zur Anklage geführt hätte.“

Die GAL-Abgeordnete Heike Opitz hat eine parlamentarische Anfrage gestellt, um Details zur Revisionsgruppe zu erfahren. Die Antwort lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.

Detlev Brockes

KZ-Häftling 3105

Der Sinto Walter Winter überlebte Auschwitz

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Fast alle 1000 Hamburger Sinti und Roma wurden im Nationalsozialismus deportiert. Daran erinnert eine Ausstellung in der Finanzbehörde. Einer der Überlebenden, dessen Lebensgeschichte in der Ausstellung zu sehen ist, ist der Schausteller Walter Winter.

Manchmal schreckt Walter Winter nachts aus dem Schlaf. Dann lebt er wieder in den Jahren 1943, 1944, 1945, als er in Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert war. „Ich habe das alles nur geträumt“, versucht sich der 85-jährige Sinto dann selbst zu beruhigen. „Das kann gar nicht wahr sein.“ Aber morgens, wenn er richtig wach ist, weiß er es wieder. Alle Schikanen, Demütigungen, Schläge und Morde sind passiert.

Je älter er wird, desto mehr bedrängen ihn die Bilder und Erlebnisse. Auch Erlebnisse, die andere vielleicht vergleichsweise harmlos finden. Die Entlausung etwa. Erst die kahlgeschorenen Frauen, dann die Männer. Aber wenn keine Zeit war, wurden die Männer schon mal in die Baracken getrieben, wenn die Frauen noch drin waren. „Alte Frauen, junge – alle standen sie da, nackt. Einige kannte ich sogar“, sagt Walter Winter. „Es war so entwürdigend.“

Den letzten Rest Würde bewahren – das versuchten die Häftlinge, auch wenn es meist ein aussichtsloser Kampf war. Winter, der Blockschreiber, notierte akribisch, wer in der Nacht wieder gestorben war. 15, 20 Menschen waren das manchmal. „Ich wollte, dass man wenigstens erfährt, wo wir geblieben sind, wenn alles vorbei ist.“ Und er wollte „seine“ Leute beschützen. Wenn beispielsweise wieder „Läufer“ kamen, so hießen Gefangene im Dienste der Nazis, die für die SS-Männer Frauen suchen sollten. Er schaffte es, aus seinem Block keine auszuliefern. „Nie habe ich deshalb Ärger bekommen“, sagt er. Und wenn doch? Winter zuckt mit den Schultern. „Ich habe sowieso nicht gedacht, dass ich diese Zeit überleben würde“, sagt er.

Mehrfach hatte er mit dem Leben abgeschlossen. Zum Beispiel, als er erschossen werden sollte. Zwei Männer waren in die Baracke der Sinti gelaufen und hatten sich dort versteckt, ein Aufseher hinterher. Der Aufseher fragte, wer die Männer gewesen seien. „Ich hatte wirklich niemanden gesehen“, sagt Winter. Da griff sich der Mann wahllos zehn Sinti. „Wenn derjenige nicht sofort vortritt…“ Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ein Jude stellte sich. Der zweite war abgehauen oder untergetaucht. Als „Ersatzmann“ nahm der Aufseher Winter mit. Draußen knallte er den Juden ab. „Das war’s, dachte ich“, sagt Winter. „Vor meinem geistigen Auge lief mein Leben wie ein Film ab.“ Aber dann nahm der Mann seine Pistole runter und sagte nur: „Hau ab.“

Später wurde Winter zum Dienst im Krematorium eingeteilt. Er wusste, die Menschen, die dort arbeiten, werden spätestens nach drei Monaten selbst vergast. Winter hatte schon Furchtbares vom Krematorium gehört: So viele Menschen wurden nach der Vergasung dort verbrannt, dass die Schornsteine barsten und Eisenringe sie stützen mussten. Trotzdem war er nicht darauf gefasst, was ihn erwartete. „Es lagen Berge von Toten dort, starr und ineinander verkrampft. Wir mussten sie auseinander zerren und wegschaffen.“ Aber die Leichen ließen sich nicht trennen. „Plötzlich fiel mir auf, dass in der Ecke eine Axt stand“, sagt Winter. Er fragte noch, was denn die Axt hier zu suchen habe – und wusste es noch im selben Moment. An diesem Abend beschloss er, nie wieder ins Krematorium zurückzukehren, komme, was da wolle. Und wie durch ein Wunder wurde er dort auch nicht vermisst.

Eine seiner schmerzlichsten Erinnerungen ist der Tod seiner Freundin. Vor Winters Baracke standen SS-Männer, er hörte, dass sie gleich kommen wollten. Da sprang seine hochschwangere Freundin durchs Fenster herein – was eigentlich streng verboten war. Walter Winter war verzweifelt. Wenn sie die Frau hier fänden, müssten bestimmt mehrere dran glauben. Er versuchte, seine Freundin von sich wegzureißen. „Aber sie weinte und klammerte sich an mich.“

Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, sie – fast grob – aus dem Fenster zu bugsieren. „Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe“, sagt Walter Winter leise. Ein paar Tage später wurde ihr Kind geboren und starb, wieder ein paar Tage später verblutete seine Freundin.

Winter und sein Bruder Erich schworen sich, dass sie – falls es sie erwischen würde – wenigstens versuchen würden, „einige von diesen Mördern mitzunehmen“. So wie jene französische Schauspielerin, die bei ihnen im Lager war. Sie sollte sich vor den Schergen nackt ausziehen – es war klar, was die Männer vor ihrer Vergasung mit ihr vorhatten. Da riss sie einem Bewacher die Pistole aus dem Halfter und schoß.

Der Albtraum ist für Winter auch jetzt, Jahrzehnte später, nicht vorbei. Der Nationalsozialismus und die Verfolgung waren unfass-bar grausam, aber Außenseiter waren die Sinti schon vor den Nazis – und danach auch. In den zwanziger Jahren fuhr seine Familie – fünf Brüder, fünf Schwestern und die Eltern – in Norddeutschland zwischen Leer und Oldenburg als Pferdehändler und Artisten umher. Wenn die Winters wieder mal von einem Markt zum anderen zogen, gab’s Begleitung. Gendarmen ritten neben dem Pferdewagen her. „Damit uns auch ja nichts passieren konnte“, sagt Walter Winter ironisch. In Wirklichkeit natürlich, um die Sintis zu observieren. Und um sicherzugehen, dass sie auch nach dem Markt schnell wieder verschwanden und sich nicht in dem Ort „festsetzten“.

Alle paar Tage gingen die Kinder in eine andere Schule, dann ging’s wieder weiter. Die Mitschüler waren teils neugierig auf die „Zigeunerkinder“, teils misstrauisch. Oft endete der kurze Kontakt mit einer Schlägerei auf dem Schulhof. Trotzdem gab es Annäherungen. In Oldenburg und Cloppenburg, wo die Familie länger lebte, waren Walter und sein Bruder Mitglied im Fußballverein. Doch nach dem Krieg stellte sich heraus, dass die Namen der Winters im Fußballverein gelöscht worden waren, ebenso der Name eines jüdischen Sportfreundes.

1933 verschärfte sich die Situation. Walter Winters Vater beschloss, Schausteller zu werden: „Wir müssen uns unters Volk mischen“, sagte er zu seiner Familie. Es war zu gefährlich geworden, allein oder mit anderen aus der Sippe über Land zu fahren. Die Familie kaufte eine Schießbude für den Jahrmarkt. Aber auch hier waren die Winters nicht sicher. „Auf einmal tauchten so auffällig unauffällige Männer auf“, sagt Winter. Gestapo. Die gingen zwischen den Buden längs und guckten, wer „fremdländisch“ aussieht.

Das Netz zog sich dichter zusammen. 1935/36 – die Familie war gerade in Oldenburg – kamen wieder Beamte und nahmen Vater und Mutter mit. Danach die Kinder. Von allen Seiten wurden sie für die Kartei fotografiert und registriert. „Wie Schwerverbrecher“, sagt Winter. „Obwohl wir nichts getan hatten.“ Trotzdem erhielt er seinen Gestellungsbefehl und kam im Januar 1940 zur Wehrmacht. Zwei Jahre diente Walter. Dann wurde er entlassen, eben weil er „Zigeuner“ war.

1943 wurden er, sein älterer Bruder Erich, der auch ehemaliger Wehrmachtssoldat war, und seine Schwester Marie nach Auschwitz deportiert. Alle drei überlebten und kehrten zu ihrer Familie zurück. In Vechta, wo die Winters die Erlaubnis holen mussten, ein Varieté zu gründen, saß nach dem Krieg noch derselbe Bürgermeister, der für die Deportationen der Familie mitverantwortlich war. Er verweigerte den Winters die Genehmigung. Sie sollten sich erst mal entnazifizieren lassen, sagte er. Walter Winter, der auf dem Arm die KZ-Häftlingsnummer 3105 trägt, war fassungslos.

Auch heute noch spürt Walter Winter, der seit 1952 mit seiner Frau und seinen Kindern in Hamburg und seit 27 Jahren in St. Pauli lebt, oft die Zurückhaltung gegenüber seiner Herkunft. „Wenn ich sage, dass ich Sinto bin, rücken viele, die mich vorher unbefangen behandelt haben, von mir ab.“

Der Hass ist milder geworden, aber die Wut ist noch da. Dann setzt er sich vehement gegen die Leute zur Wehr, die heute noch abwertend von „Zigeunern“ reden oder mit anderen Worten das Gleiche meinen – und vor allem: gegen die, die glauben, dass man die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Aber Walter Winter ist keiner, der verletzen will, er will nur nicht vergessen – und vergessen werden. Und er will nicht, dass die Roma und Sinti Außenseiter in dieser Gesellschaft bleiben. Einer Gesellschaft, in der er sich gerne heimisch gefühlt hätte

Birgit Müller

Ohne Arbeit geht es nicht

Kinder in Bolivien zwischen Schule und Broterwerb

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Ein Kinderalltag in Bolivien beginnt häufig mit Arbeit und hört mit Arbeit auf. Die Schule kommt dabei meist zu kurz. Nur wenige haben das Glück, beides miteinander vereinbaren zu können. Ein Projekt in der Großstadt Santa Cruz gibt Kindern und Jugendlichen eine Chance, Bildung und Broterwerb miteinander zu vereinbaren.

Auf dem Busbahnhof von Santa Cruz herrscht mittags Hochbetrieb. Lange Reihen von kleinen Stadtbussen schieben sich stockend durch die Gassen. Schulkinder drängeln auf Gehsteigen, Erwachsene eilen vorbei. Im Schatten blauer Plastikplanen warten Straßenverkäufer auf Kundschaft. Radiogedudel, Motorenlärm, Dieselgestank. Dazwischen der Duft von Gebratenem.

Jasmani wartet geduldig vor Bus 105. Er streicht seine rötlich gefärbten Haare aus der Stirn. Ein silberner Ring und ein Freundschaftsband zieren die schlanke Hand. Nachdem der letzte Fahrgast eingestiegen ist, schwingt sich Jasmani hinter den Busfahrer. „Meine sehr verehrten Fahrgäste“, erklingt seine helle Stimme. Das Tuscheln und Kichern lässt nach. Alle lauschen dem freundlichen Jungen, der aufrecht im Gang steht. Er macht einen guten Eindruck mit seinem hellen Jeanshemd und der sauberen Hose. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag und entschuldige mich, dass ich störe.“

Jasmani verkauft Gedichte. Kleine Heftchen über die Liebe oder über Jesus Christus. Verdient pro Stück 1,25 Boliviano. Bei rund 25 Heftchen am Tag macht das – umgerechnet – knapp fünf Euro. Das meiste Geld liefert er bei seiner Mutter ab, die vor ihrem Häuschen in einem Außenbezirk selbst gemachte Hamburger verkauft. Den Vater kennt Jasmani nur vom Foto: „Er wollte mich als Kind mit einem Lappen ersticken. Da ist meine Mutter mit mir abgehauen.“ Früher schwänzte Jasmani oft den Unterricht, um sich und seine Mutter zu ernähren. Seit sechs Jahren geht er vor der Arbeit zur Schule. Nächstes Jahr beendet der 16-Jährige seine Grundschule. „Ich hatte Glück, dass mich ein Freund zu Mi Tai gebracht hat“, sagt er zwischen zwei Busauftritten. „Die Leute kümmern sich um uns und passen auf, dass wir nicht unter die Räder kommen.“

Mi Tai ist ein Projekt für arbeitende Kinder und Jugendliche. „Wir wollen diesen Kindern ein würdevolles Leben ermöglichen“, sagt Martha Estensoro. Die ehrenamtliche Leiterin betreut mit drei Erziehern und einer Praktikantin 320 Kinder zwischen sechs und 17 Jahren. Viele von ihnen finden in dem Projekt, was der Name in der Indianersprache Guarani bedeutet: „Unser Haus“. In dem Gebäude hinter den hohen Mauern fühlen sie sich geborgen. Hier bekommen sie ein preiswertes Essen, hier können sie spielen, ruhen, Probleme besprechen, Freundschaften schließen. Und hier gehen sie zur Schule.

Santa Cruz de la Sierra ist das Wirtschaftszentrum Boliviens. Gut eine Million Menschen – ein Achtel der Gesamtbevölkerung – leben in der Tieflandmetropole. Tendenz: rasant steigend. Santa Cruz zieht vor allem Arme an. Davon hat der Andenstaatgenug. Zwei Drittel der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, in ländlichen Regionen sind es bis zu 95 Prozent. Tausende von ihnen hoffen vergeblich auf ihr großes Glück in Santa Cruz. Die meisten halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, putzen Schuhe oder verkaufen alles Mögliche auf den Straßen. Rund 20.000 von ihnen sind Kinder. Kinderarbeit ist in Bolivien gesetzlich verboten. Schulpflicht besteht für die Dauer von fünf Jahren auf dem Land und von sechs Jahren in der Stadt. Dennoch brechen viele die Schule ab. „Die Mitarbeit der Kinder ist für breite Teile der Bevölkerung lebensnotwendig“, wettert Martha Estensoro. „Das Verbot der Kinderarbeit geht an der Realität völlig vorbei!“

Aus diesem Grund entstand 1996 Mi Tai. „Wir wollen arbeitende Kinder in ihren Rechten stärken, ihre Arbeitsbedingungen verbessern, Berufsperspektiven bieten und gleichzeitig Prävention betreiben“, erklärt Erzieherin Dolly Rivas. Die Ausbildung spielt dabei eine zentrale Rolle. Auch bei Mi Tai besteht Schulpflicht. Wer dreimal fehlt, fliegt raus. Drogenkonsum, Diebstahl oder der Besuch von Spielhöllen sind weitere Gründe.

Dolly Rivas zwängt sich durch das Gewusel der Markthalle Abasto. Hier betreut sie die „carreteros“: Jungen, die für wenig Geld die Einkäufe auf Schubkarren transportieren: Fleisch, Gemüse, Stoffe, Küchenartikel, Eisenwaren. Der Abasto ist ein riesiger Markt mit 3.776 offiziellen Ständen. Dazwischen hocken Indianerfrauen auf Planen und bieten Orangen, Melonen oder Kartoffeln an.

Die Jungs von Mi Tai sind mit ihren grünen Kitteln schon von weitem erkennbar. Dolly grüßt ihre Schubkarrenfahrer, knufft ihnen liebevoll in die Seite. Vor allem den Halbstarken schaut sie eindringlich in die Augen: „Hallo Roberto, kommst du am Sonnabend zur Gesprächsrunde?“ Die Stippvisiten am Arbeitsplatz dienen der Kontrolle, aber auch der Konfliktlösung: „Es gibt immer wieder Probleme mit anderen carreteros, die unsere Jungen erpressen oder bedrohen“, weiß die 30-jährige Erzieherin. „Manchmal bedrohen sie die Jungen sogar mit dem Messer.“

Der 12-jährige Diogenes arbeitet mit seiner Schubkarre seit einem halben Jahr auf dem Markt. Seine Eltern haben ihn an eine Tante abgeschoben. Für sie buckelt er nun zwölf Stunden am Tag, um am Abend 20 Boliviano abzuliefern. Kleinlaut pirscht er sich an Dolly ran. Er kennt die Jungen von Mi Tai und möchte gerne dazugehören. Dolly hört ihm aufmerksam zu, fragt nach und beschließt: „Okay, ich werde sehen, dass ich mit deiner Tante spreche.“ Im Gegensatz zu Straßenkindern haben die Mitglieder von Mi Tai Familienanschluss und schlafen zu Hause. Auch wenn die häusliche Situation schwierig ist.

Viele von ihnen kommen aus kinderreichen Familien. Die Väter haben sich meistens aus dem Staub gemacht. Oder sie trinken und arbeiten selbst als Handlanger für einen Hungerlohn. „Unser Kinder arbeiten auf der Straße“, betont Leiterin Martha Estensoro. „Es sind keine Kinder von der Straße.“ Die Stadt zahlt 12.000 Boliviano im Monat. Das sind theoretisch vier Boliviano Essensgeld täglich für 100 Kinder – umgerechnet rund 65 Cent pro Nase für zwei Mahlzeiten. Doch über Spenden aus der Nachbarschaft und einen geringen Eigenanteil der Kinder verpflegt Mi Tai tatsächlich dreimal so viele Kinder und finanziert außerdem noch einen Zahnarzt. Ein Arzt kommt regelmäßig vorbei, ohne Geld zu verlangen.

Wasser, Strom sowie die Gehälter für Erzieher und Lehrer zahlt die Stadt extra. Für das Gelände hat Mi Tai ein 30-jähriges Wohnrecht. „Zum Glück“, so die Leiterin. „Sonst wären wir schon eingegangen wie viele andere Projekte.“ Die Schulglocke läutet zur Pause. Die Großen stürzen auf den betonierten Innenhof zum Fußballspielen. Viele sind barfuß, einer trägt unterschiedliche Schuhe. Die sengende Mittagshitze macht ihnen nichts aus. Sie rennen, lachen, schnaufen und fluchen. Im Schatten der Backsteinmauern lungern die Erstklässler herum. Kleine Mädchen kämmen sich die Haare. Ihr Kichern hallt unter dem Vorbau der Waschräume wider.

Jasmani schlendert zum Speisesaal. Gleich gibt es Suppe mit Reis und Tee. Danach geht er wieder zum Busbahnhof, Geld verdienen und ein bisschen sparen. Denn Jasmani hofft wie alle Kinder von Mi Tai, dass er eine weiterführende Schule besuchen kann und einen richtigen Beruf ergreifen wird. „Ich möchte gerne wie Dolly als Erzieher arbeiten“, sagt er und geht verträumt zum Essen.

Constanze Bandowski

Vertauschte Köpfe

Ein begehbares Hörspiel nach einer Novelle von Thomas Mann

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Was für ein Stoff – dachten die Künstlerin und Literatin Alexandra Filipp und die Illustratorin und Filmemacherin Simone Henneken. Gerade hatten sie die Novelle „Die vertauschten Köpfe“ von Thomas Mann gelesen. Die Geschichte spielt im mythischen Indien. Erzählt wird darin von dem Kaufmann Schridaman und dem Schmied und Hirten Nanda; zwei unzertrennliche Freunde, die alles miteinander teilen. Bis sie eines Tages die schönhüftige Sita beim Baden beobachten. Gesehen, verliebt. Nur dass Sita bei Nanda dessen muskulösen Körper schätzt und bei Schridaman dessen scharfen Verstand. Das bringt alle Beteiligten heftig durcheinander. Woraufhin die Göttin Kali der unglücklichen Sita erlaubt, durch das Austauschen der Köpfe der beiden Männer sich den idealen Liebhaber zu erschaffen. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.

Die Künstlerinnen waren verblüfft über die humorvolle und auch blutrünstige Weise, mit der dieser sonst so gedankenschwere und bedächtige Großdichter den Stoff bearbeitet hat. Ein Stoff, der im Zeitalter von Beautyfarmen, Schönheitsoperationen und gentechnischen Schöpfungen aktueller denn je ist. Und da die beiden Frauen seit längerem planten, mal mit dem Musiker und Produzenten Frederik Nedelmann ein künstlerisches Projekt auf die Beine zu stellen, stürzten sie sich zu dritt in die Arbeit. Gegeben wird nun „Die vertauschten Köpfe“ auf Kampnagel als ein begehbares Hörspiel. Ein begehbares Hörspiel?

Die drei sitzen in einer Licht durchfluteten Ottensener Hinterhofwohnung um einen hellen Holztisch herum, greifen zu den bereitgestellten Keksen und haben die Laptops aufgeklappt. Zu sehen sind der Trailer und erste Filmausschnitte, während dazu flotte, quirlige Popmusik aus dem heutigen Indien ertönt. Im Hintergrund reihen sich Bücherregale aneinander, und dennoch ist viel Platz, den es braucht, wenn man Gedanken ihren Raum geben und Kreativität sich entfalten lassen will.

„Begehbares Hörspiel bedeutet erst mal“, erklärt Alexandra Filipp, „dass es drei Bühnen gibt, zwischen denen sich das Publikum bewegt. Der Text dazu erklingt aus Lautsprechern; zusätzlich werden Filme und Zeichnungen an die jeweiligen Bühnenwände projiziert.“ Man geht aber nicht als Gruppe von Bühne zu Bühne. Sondern muss sich entscheiden, zu welcher der beiden Gruppen man gehören will, die sich am Anfang bilden: zu der des schmerbäuchigen, aber intelligenten Schridaman? Oder doch lieber zu der des feschen Nanda mit Knackarsch und breiten Schultern, auch wenn der ein bisschen einfältig durchs Leben stolpert?

Keine Sorge: Es wird kein Mitmachtheater werden, wo man plötzlich auf die Bühne gezerrt wird und etwas vorsingen muss. Vielmehr geht es dem Trio darum, dass sich das Publikum nicht einfach berieseln lässt, sondern selbst mit eintaucht in das Thema mit all seinen Verstrickungen und Sehnsüchten. „Die Leute haben es über, den ganzen Abend still zu sitzen, während ihnen etwas dargeboten wird“, sagt Frederik Nedelmann, der jetzt selbst aufgestanden ist und im Raum auf- und abgeht. „Die Leute wollen mal wieder etwas Fantasievolles und Märchenhaftes erleben und sich nicht immer nur mit den Problemen ihres Alltags herumplagen“, ergänzt Alexandra Filipp.

Von daher passe auch die Form des Märchens. Märchen seien nicht zu konkret, und doch erzählten sie immer von Dingen, mit denen ein jeder etwas anfangen kann – so fremd die Szenerie erst einmal wirken mag. „Man sitzt ja auch recht selten in so einer kleinen Knusperbude mitten im Wald und muss mit der Hexe um sein Leben kämpfen“, gibt Frederik Nedelmann zu bedenken. Für ihn geht es in dem Stück auch nicht nur um Liebesglück und -unglück zwischen zwei Menschen. Jeder einzelne kennt doch, wie das ist, wenn man an ihm herumzerrt: „Ständig wird in den Medien und in der Werbung getrommelt: Werde jemand anders! Werde dünner! Werde muskulöser! Trage deine optimale Frisur! Denn du kannst eine Idealgestalt werden.“ Er lächelt hintersinnig: „Na, dann machen wir das eben mal: Hauen die Köpfe ab, tauschen sie aus und schauen, was passiert.“

Alexandra Filipp sieht Parallelen zu den Versprechungen der Gentechnik, sich seinen eigenen Körper zu gestalten – oder wenigstens den seiner zukünftigen Kinder. Und Simone Henneken fallen diese Zeitungsmeldungen über Neurochirurgen ein, wenn die mal wieder ankündigen, dass schon bald das Transplantieren von Gehirnen oder ganzen Köpfen medizinisch machbar ist und der Körper so etwas wie ein Fahrgestell wird, das man bei Bedarf auswechseln kann.

Ein Stoff also, der ewig menschlich und zugleich hochaktuell ist. Entsprechend intensiv und spannend war die Arbeit an dem Stück. Erstaunlich einmütig hätten sie sich auf diese Mischung aus Ton, Bild und Musik geeinigt. Sie schauen sich für einen Moment verwundert an. Doch – richtig konfliktarm haben sie zusammengearbeitet. Was mit daran liegt, dass sie sich seit Jahren kennen und zu zweit schon manches gestemmt haben: Simone Henneken und Alexandra Filipp machen eine gemeinsame Radiosendung auf FSK, in der sie Literatur und Musik vorstellen, die nicht gerade in den Charts und auf den Bestsellerlisten steht. Und in Frederik Nedelmanns Musikverlag „edition stora“ wurde gerade der neueste Animationsfilm von Simone Henneken verlegt.

Der Text also steht, die Bilder sind gezeichnet, die Filme liegen vor, an der Musik wird noch gearbeitet – aber insgesamt geprobt haben sie das Stück noch nicht. Erst in der Woche vor der Premiere können sie vor Ort die Bühnen aufbauen und dann genau ausmessen, wie sie stehen müssen, damit sich Ton und Bild nicht ins Gehege kommen. Drei Probentage müssen dafür reichen. Das ist nicht viel. Und für einen kurzen Moment kommt Unruhe auf, während die letzten Kekse verspeist werden. Ach – es wird schon klappen, so wie bei ihnen einzeln immer alles geklappt hat.

Bleibt noch das Publikum. Wird es mitgehen, so wie sie es sich denken? „Wir stellen uns immer auf das Schlimmste ein“, sagt Simone Henneken und lacht. Doch das ist nur vorbeugender Pessimismus. Warum soll es nicht einsteigen? Wo es einmal so grundsätzlich um Liebe und Verzweiflung geht; um die große Frage, warum man selbst und die Menschen um einen herum nicht so sind, wie man sie sich wünscht. Und warum das vielleicht auch ganz in Ordnung ist.

Frank Keil

Die Nonne von St. Pauli

Im Haus Bethlehem arbeitet Schwester Marie-Claire vom Mutter-Theresa-Orden

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Heiraten wollte sie eigentlich und Kinder haben. „Viele Kinder“, sagt Schwester Marie-Claire enthusiastisch. „Ich liebe Kinder.“ Aber alles kam anders. Heute lebt die 52-Jährige als Schwester im Mutter-Theresa-Orden und leitet bis Ende des Jahres die Übernachtungsstätte Haus Bethlehem auf St. Pauli.

Bahnfliegen über Barmbek

Aufzeichnungen aus der U-Bahn-Linie 2

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

eon | hanse präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: eine Fahrt in der U2 nach Barmbek.

Wir fliegen drüber weg. Gleiten durch Zeit und Raum. Lassen alles unter uns. Hinter uns. Die Welt zu unseren Füßen. Die Zukunft vorne. Vor uns. Wir rasen drauf zu, schnurgerade, zielgenau. Die U2 fliegt über das Barmbeker-Markt-Viadukt. Auf 3,20 Metern über parkende Autos und Taubenkot. Für 100 Sekunden sind wir überirdisch, auf unserer Fahrt von Dehnhaide nach Barmbek. Drinnen bilden wir für den Bruchteil eines Menschenlebens ein Zwangskollektiv. Ob wir nun wollen oder nicht, wir nehmen an unseren Bahn-Mitfahrern teil. An der alten Frau, deren Augen traurig schimmern, weil sie gerade ihren Mann verloren hat. An dem kleinen Blondschopf, der voller Lebensfreude die vorbeiziehende Welt bestaunt. An Verzweiflung und Neugier, an Langeweile und Wut, bei jeder Fahrt aufs Neue.

Ian Slupek* ist auf dem Weg zur Arbeit. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt er auf der Bank. Seinen feingliedrigen Körper hat er gestylt bis in die schwarzen Haarspitzen. Ian ist ein Guter-Laune-Typ, ein Sonnenstrahl im Spätherbst. Ich mag das Bahnviadukt, grinst er vergnügt. Da kann ich rausgucken und viel sehen. Das ist doch schöner, als nur durch einen Tunnel zu fahren. Diese schöne Aussicht kann Ian jeden Tag genießen, bringt ihn die U2 doch täglich in die Hamburger City. Am Gänsemarkt jobbt der Styler in einem „Trendladen“. Natürlich für Bekleidung.

Annelie ist heute kein Sonnenschein. Scheiße, schnauzt sie ins Leere und donnert die Mopo von der ersten auf die letzte Seite. Gerade hat die Lautsprecherstimme verkündet, dass die U2 nicht bis Wandsbek-Gartenstadt weiterfährt. Das passt ihr wohl gar nicht. Beleidigt stiert sie auf die Mopo-Rückseite, rutscht auf ihrem Sitz tiefer und zieht die Schultern Richtung Ohrläppchen. Schlecht drauf ist auch Heiner, Annelies Mitfahrer. Der Mittsechziger sitzt in Fahrt-richtung und reißt energisch das kleine Klappfenster auf. Anschließend lässt er sich griesgrämig auf seine Sitzbank fallen und fixiert angestrengt die Landschaft. Der Blick hält die Bodenhaftung. Wer wird denn gleich in die Luft gehen?

Für den kleinen Blondschopf in Streifenshirt und Daunenjacke ist die Bahnfahrt eine riesige Attraktion. Mit großen, wachen Kulleraugen kommentiert er die vorbeifliegende Welt zu seinen Füßchen. Links hält er ein Reflektorbärchen in der Hand. Mit der Rechten zeigt er auf jeden Baum, jeden Laden, jedes Auto. Hhha, da!, ruft er begeistert. Zeigefinger nach vorne rechts. Und da! Zeigefinger nach vorne links. Und da! Zeigefinger zurück nach vorne rechts. Ist die Aufregung besonders groß, trippelt er im Schoß seines amüsierten Vaters.

Michael erregt eine Bahnfahrt nicht mehr. Denn Michael kommt regelmäßig selber zum Zug. Er ist Bahnfahrer beim Hamburger Verkehrsverbund. Während sich das Abteil kurz hinter Dehnhaide rechts in die Kurve neigt, steht er routiniert gelangweilt neben der Tür und kaut seinen Kaugummi. Denn noch ist Michael Bahn-Mitfahrer, auf dem Weg zu seiner Startposition. Als die U2 in Barmbek einfährt, drückt ein Junge eifrig und viel zu früh auf den Türöffner. Michael, der Fachmann, kann sich ein wissendes Lächeln nicht verkneifen. Dann steigt er aus der Tür mit der idealen Position zur Treppe und ist verschwunden.

Zum Lastenträger wird die Bahn bei Irina. Mit zwei riesigen Plastiktragetaschen links und rechts balanciert sie elegant auf ihren Sieben-Zentimeter-Absätzen zum freien Sitzvierer. Irina wuchtet ihre Tüten vor und neben sich auf die Polster, nimmt Platz und hält die Riemen ihrer Handtasche mit der linken Hand fest umklammert. Anmutig streckt sie Wirbelsäule und Kopf kerzengerade. Eine weiße Kunstpelzmütze schmückt das grazile Haupt, die rote Wolljacke passt perfekt zu den roten hohen Schuhen. Irina fährt rückwärts. So kann sie die Familie neben sich besser genießen. Liebevoll schaut sie die Kinder an, auf dem Viadukt geht der Blick dann nach draußen.

Mohammed ist nicht nach Familienidylle zumute. Er isst jetzt. Mit großem Appetit zerreißt er seinen riesigen Döner. Das Tsatsiki umrandet seine Lippen, die Chili-Soße treibt ihm noch mehr Farbe ins Gesicht. Die machen das gut, schwärmt Mohammed Flo vor. Der isst auch Döner, hat ihn aber nicht im Gesicht. Selbst wenn ich sage Mini, gibt er mir so einen großen, schmatzt Mohammed weiter und versucht, die Soße mit der Serviette loszuwerden. Die Bahn als Döner-Bude. Es ist 12.30 Uhr, Zeit fürs Mittagessen.

Heiß her geht’s zwischen Sabrina und Simon. Sie führt ihrem Liebsten schwierige Fingerkunststücke vor, die er nachmachen soll. Doch trotz großer Anstrengung kann Simon seine Glieder nicht so kunstvoll in-, über- und untereinander falten wie seine Freundin. Da beschließt Simon, die Liebste hochzunehmen. Er fordert Sabrina auf, sein triviales Stillleben zu kopieren: Alle Finger zur Faust, alle Finger gleichzeitig öffnen. Schnell durchschaut Sabrina das Spielchen und zeigt den Stinke-Finger. Was sich liebt, das neckt sich. Die Bahn als Turtelplatz.

Polizist Gerhardts steht breitbeinig mit dem Rücken gegen die Trennwand. Seine Hände hat er hinten verschränkt, aus dem weichen Gesicht geht der Blick fachmännisch nach vorn. Es scheint, als beobachte er die beiden zotteligen Biertrinker, in Fahrtrichtung drei Vierersitze weiter. Die grüne Polizeiwetterjacke leuchtet intensiv durch den Waggon. Die Khakihose sitzt adrett, die Körpersprache verrät Selbstbewusstsein. Gerhardts ist ein junger Freund und Helfer, in der U-Bahn auf Streifenfahrt.

Als wir im Zielbahnhof einfliegen, löst sich unser Zwangskollektiv auf, und ein jeder geht seiner Wege. Vielleicht für einige Zeit mit einem Stück Leben des anderen im Herzen.

Jannika Schulz

* Alle Namen, bis auf Ian Slupek, sind erfunden.

Die Pfandfrauen

Wie Zeitarbeiterinnen sich durchschlagen

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

„Pfandfrauen? – 25-Cent-Weiber wär’ besser“, sagt Gabi Heinrich (Name geändert) und lacht das erste Mal. Ein halbes Dutzend weiß bekittelter Frauen lungert in einem schmalen Flur. Sie warten. Auf Arbeit. Für 5,20 Euro pro Stunde sortieren sie Pfandgut am Fließband. Zeitarbeiterinnen.

Die einfache Halle in einem Hamburger Industriegebiet ist kalt und kameraüberwacht. Keine Dose verlässt unbemerkt das Gelände. Diebstahl wird mit sofortiger Entlassung geahndet. Und nicht nur der eigene Arbeitsplatz ist dann futsch, auch die der anderen hätte die Übeltäterin auf dem Gewissen. So zumindest stellt es der Schichtleiter dar, zeigt auf die Kameras. Alle Köpfe folgen seinem Finger wie dem Tennisball beim spannenden Match.

„Der Ton war nicht okay“, sagt Gabi Heinrich. Sie hat das Angebot der Zeitarbeitsfirma, bei der sie angestellt ist, angenommen – aus Angst davor, entlassen zu werden und in der Folge wegen „selbstverschuldeter Kündigung“ vom Arbeitsamt kein Geld zu bekommen. Nur einmal hat sie sich geweigert: als sie bei einer Firma arbeiten sollte, bei der die Arbeiter gerade streikten. „Das mache ich nicht, ich bin keine Streikbrecherin“, sagt sie. Begeistert war sie vom neuen Job von Anfang an nicht – auch wegen der Arbeitszeiten: Sechs-Tage-Woche, Früh- und Spätschicht im Wechsel. Doch neben der Angst vor der Armut weiß die 42-Jährige, dass Arbeit für sie wichtig ist, ihr Halt gibt. „Ich arbeite gerne, so krank sich das anhört“, sagt sie.

Ein Dutzend Frauen stehen an dem Fließband in der Mitte der Halle. Die Männer entladen und füllen das Pfandgut in Kisten, laden diese auf Rollbänder, die zu den Frauen und dem Fließband führen. Die Maschinen dröhnen, Metall und Glas scheppern. Die Frauen scannen und sortieren die Einweggetränkeverpackungen – in der Mehrzahl leere Bierdosen. Piep. Zerbeult, gepresst, gequetscht. Piep. Wut, Langeweile oder vielleicht nur überschüssige Kraft haben ihren Abdruck hinterlassen. Piep. Glas nach oben, Dosen und Plastikflaschen nach unten. Piep. Der Geruch erinnert an Fußgängerunterführungen und den Morgen nach der Party.

„Ich habe mich ausgeschaltet im Kopf, so richtig wie mit einem Hebel, klick, alles abgeschaltet, nur noch das Piepen gehört“, sagt Gabi Heinrich. Die Arbeit selbst sei okay, nur „definitiv zu anspruchslos“. Dabei sind ihre Ansprüche an einen Job bescheiden. Im Lager hat sie gerne gearbeitet: kommissionieren, Waren zusammenstellen und versandfertig machen. Auch den Umgang mit Computern lernte sie nach anfänglichen Berührungsängsten. Heute bereut sie, dass sie keine Ausbildung hat. Nach dem Hauptschulabschluss begann sie eine Friseurlehre. Doch sie fühlte sich unwohl bei dem alten Lehrmeister, kam in der Berufsschule nicht mit und hatte obendrein familiäre Probleme. Sie brach die Lehre ab und floh aus dem Elternhaus. „Ich hab’s da nicht mehr ausgehalten, wegen meinem Vater – das typische Klischee, aber es ist halt so. Der hat mich verprügelt und so. Irgendwann stand ich mal mit einem Messer vor ihm, und da habe ich gemerkt, das geht nicht mehr. Entweder ist er bald tot oder ich“, sagt sie.

Sie lebte auf der Straße, bis sie mit 20 schwanger wurde. Erst lebte sie im Mutter-Kind-Heim, später bekam sie eine Wohnung. Über die Hamburger Arbeit (HAB) fand sie einen Job und schließlich einen festen Arbeitsplatz für sechs Jahre. Das war Mitte der neunziger Jahre. Dann wurde sie entlassen – wegen betrieblicher Einsparungen. Seitdem schlägt sie sich mit Zeitarbeit durch.

Eine Familie könnte sie von den rund 900 Euro monatlich, die sie am Sortierband verdient, nicht ernähren. Gabi Heinrich hat Glück: Ihre Tochter ist erwachsen und verdient ihr eigenes Geld; sie selbst lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Freund hat einen besser bezahlten Job – zu zweit kommen sie über die Runden. Der neue Arbeitsplatz liegt am Ende der Welt. Industriegebiet.

Schrottberge türmen sich, und Lastwagen bringen immer mehr davon. Hier wirkt die Recyclingbranche. Das Geschäft mit dem Pfand steht noch am Anfang und läuft etwas schleppend an. Viele Stunden verbringen die Pfandfrauen mit Warten. Die Rauchschwaden sind zum Zerschneiden dick. Karten spielen, reden, Zeitschriften blättern. Nichts ist schlimmer als Langeweile.

„Ich muss immer was tun“, sagt Stephanie Helms, reißt blitzschnell die Zuckertütchen auf, schüttet reichlich in ihren Kaffee und rührt kräftig. Wichtig für sie sei vor allem, dass die Zeit schnell vergeht bei der Arbeit. Den Job findet sie ganz gut. Nur der Gestank stört sie. „Ich bin keine Biertrinkerin“, erklärt sie knapp. Die 24-Jährige hat sich den Job selbst gesucht. Bei ihrem alten Arbeitsplatz im Lager und Versand hat sie gekündigt. Sie fühlte sich wohl, Arbeit und Bezahlung waren gut. Aber es gab ein privates Problem mit ihrer Schwester, die auch dort arbeitete. In der verbliebenen Woche Urlaub, die sie noch hatte, hat sie sich über die Zeitarbeit den Dosenjob besorgt.

Zum Arbeits- oder Sozialamt will sie nicht. „Weil mich der ganze Scheiß ankotzt, Formulare ausfüllen und so, da findest du schneller Arbeit, als dass du dein Arbeitslosengeld kriegst. Ist so. Das habe ich oft genug gehabt“, sagt sie und lässt keine Zweifel zu. Sie würde alles machen, um nicht von der Sozialhilfe zu leben, sagt sie. „Ich würd’ sogar Toiletten putzen.“

Gelernt hat sie im Einzelhandel, Bereich Feinkost. Das war Zufall. Sie war eingesprungen. „Weil meine Cousine unter einer Fleischallergie leidet, habe ich nach der Hauptschule einen Ausbildungsplatz bekommen.“ Der Start ins Arbeitsleben war ein Flop. Sie habe nichts gelernt, sondern – tatsächlich – Toiletten putzen müssen. Sie wechselte den Betrieb und beendete die Ausbildung fast. Nur die Prüfung hat sie nicht. Durch die erste ist sie durchgefallen, bei der zweiten war sie krank. Jetzt will sie dahin nicht mehr zurück. Das Thema ist für sie abgehakt. Ihre beste Freundin Jessica schaltet sich ein: „Aber mir hast du in den Arsch getreten, als ich abbrechen wollte.“ Stephanie antwortet: „Ja, das war ja auch gut so.“

Am vierten Tag spricht einer der Schichtleiter eine scharfe Verwarnung aus an alle, vor allem an die Männer. „Jeder ist hier ersetzbar“, ruft er in Erinnerung. Die Angst um den Arbeitsplatz macht sich breit. Ein kleiner, zarter Anfang-20-Jähriger rutscht während der Predigt nervös auf dem Stuhl hin und her und murmelt Entschuldigungen vor sich hin. Kaum hat der Schichtleiter den Raum verlassen, raunzt er den einzigen farbigen Kollegen neben sich herausfordernd an: „Hast Du schon ein Lob bekommen? He? Ich hab schon drei gekriegt.“ Drei Minuten später hat er einen handfesten Streit vom Zaun gebrochen, der sein vorläufiges Ende nur durch das beherzte Schlichten der Kollegen findet.

Stephanie Helms will bleiben; sie ist noch in der Recyclingbranche tätig. Gabi Heinrich wird am Ende der ersten Woche zum Schichtleiter gerufen. Eine gute Nachricht: Sie brauche nächste Woche nicht wiederzukommen. Ein anderer Kunde der Zeitarbeitsfirma, bei dem sie lieber gearbeitet hatte, habe sie angefordert. Gabi Heinrich freut sich, wenn auch nur kurz. Zwei Tage später erfährt sie, dass sie belogen wurde. Das Recyclingunternehmen hatte sie gekündigt.

Annette Scheld

Ab 1. Januar 2004 gilt erstmalig ein Mantel- und Entgelttarifvertrag zwischen den Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes und den Arbeitgeberverbänden der Zeitarbeitsunternehmen. In der niedrigsten Gruppe, zu der auch die Pfandfrauen gehören, werden dann 6,85 Euro pro Stunde gezahlt.

Höllisch laut

Über das Leben an einem lärmenden Ort mit dem himmlischen Namen Sternbrücke

Ruhe, vielleicht sogar Stille gibt es hier nie. Selbst in den scheinbar einsamsten Nächten, wenn ein paar wenige Stunden lang mal keine grollend-quietschenden S-Bahnen über die zum Greifen nahe Brücke poltern und die Stadt anderswo tief schläft, schlägt an diesem Ort das Herz der Metropole weiterhin spürbar, wenn auch langsamer als sonst.

Güterzüge krachen noch frühmorgens über die Schienen, und auch darunter queren jetzt Autos die Kreuzung, von irgendwoher kommen immer welche, sagt Paulo. „Dann noch die vielen Pistengänger“, junge Leute, die vor allem in warmen Sommernächten der stickigen Luft in den angesagten Clubs und Kneipen ringsum entfliehen und draußen weiterfeiern. Himmlisch und friedlich klingt nur der Name dieses Ortes – Sternbrückenkreuzung, weil anliegende Straßen und die diagonal querende Hochbahntrasse sternförmig ausstrahlen. Irdisch lärmend hingegen das tägliche Leben drumherum.

[BILD=#sternbruecke][/BILD]Paulo Fontes, der 31-jährige Portugiese, zeigt durch das Fenster der geschlossenen Balkontür. Von links die nächste S-Bahn, schon von weitem hörbar, und wenn sie jetzt donnernd ganz knapp an der Hausfront vorbeirauscht, erstirbt im Zimmer jegliches Geräusch, selbst das aus dem auf größte Lautstärke gestellten Fernseher. Im paarminütlichen Takt gleich danach die nächste Bahn, zwischendurch ein ICE und all die anderen Fern- oder Güterzüge. „Für mich“, sagt Fontes, „ist das Alltag.“ Seit 30 Jahren, also fast sein ganzes Leben lang, wohnt er in dem Haus an der Altonaer Max-Brauer-Allee 225, Ecke Stresemannstraße.

Die Sternbrücke – kaum ein anderer Ort in Hamburg, der deutlicher Symbol sein könnte für das Aufeinandertreffen von Mensch und Maschine, für Leben und Leiden in der Stadt. 48.000 Autos queren täglich die Kreuzung, darüber passieren 506 S-Bahnen sowie 310 Fern- oder Nahverkehrszüge und 30 Güterzüge die Brücke. Als im Sommer vor zwölf Jahren, nur ein paar hundert Meter entfernt, auf der Stresemannstraße ein neunjähriges Mädchen von einem Laster überrollt wurde und starb, erzwangen Anwohner die Einrichtung von Busspuren – und damit auch eine deutliche Verringerung des Verkehrs.

Inzwischen ist „die Strese“ wieder vierspurig, vier Spuren pausenloser Kriechverkehr von früh bis in die Nacht. Schon der Bau der Sternbrücke versinnbildlichte die aufkommenden Gegensätze einer industrialisierten Welt. Anfangs kreuzten sich dort die Wege von Bahnen, Kutschen und Menschen noch ebenerdig. Als 1893 mit dem Neubau des Altonaer Bahnhofs begonnen wurde – Gottlieb Daimler hatte sieben Jahre zuvor gerade das erste mit einem Benzinmotor betriebene Auto vorgestellt –, wurde sogleich auch die Höherlegung der gesamten Bahnlinie zwischen Altona und dem Hauptbahnhof beschlossen. 1894 wurden zunächst die Unterbauten der Sternbrücke fertig gestellt, seit 1925 wird der stählerne Überbau in seiner jetzigen Form genutzt, anfangs den Zeiten entsprechend noch mit nur mäßiger Frequenz.

Heute? „Der Lärm“, sagt der Portugiese Paulo, „macht mich manchmal ganz irre.“ Dann sitzt er in seiner Wohnung, und in den seltenen Minuten, in denen mal keine Züge an den Fenstern vorbeipoltern, versucht er, ein Gefühl der Ruhe aufkommen zu lassen. „Dabei stört mich dann schon allein, wenn andere Leute sich hier im Raum unterhalten.“ Und sofort darauf wieder das nächste donnernde Grollen einer Bahn, „auf der einen Seite fährt sie rein ins Ohr“, beschreibt Paulo, „dann dreht sich das Ding einmal im Hirn und kommt aus dem anderen Ohr wieder raus. So muss der Lärm in einem Bergwerk sein, wenn tausend Menschen Steine klopfen.“

Eine Frage liegt nahe, darf sie auch gestellt werden? Na klar, antwortet Paulo, „das war die Wohnung meiner Eltern. Auch jetzt, wo meine Mutter tot ist, hänge ich an diesem Zuhause.“ Und dann zeigt er auf den Riss in der Wand vom Wohnzimmer, entstanden, so sagt er, durch die ständigen Erschütterungen: „Vielleicht müssen wir, meine Schwester und ich, irgendwann doch hier ausziehen. Aber wo findet man schon eine ähnlich große Wohnung für eine vergleichbare Miete?“ Ganz günstig ist das hier, sagt der arbeitslose Kurierfahrer, jeden Monat 300 Euro kalt an die Sprinkenhof für knapp 80 Quadratmeter.

Die Brücke nimmt, die Brücke gibt. Während die Anwohner vor allem unter Lärm und Abgasen zu leiden haben, versucht Hasan Sarioglu sein Glück im Gemäuer direkt unter der Bahnlinie. Seit vier Jahren betreibt der 31-jährige Türke dort den Kiosk. Während er nun unter den Gleisen arbeitet, stand er früher einige Jahre lang auch oben drauf. Sarioglu war für die Bundesbahn im Einsatz, um Nahtstellen am Schienennetz glatt zu schleifen, „aber nicht hier, vor allem in Harburg“.

Jetzt hat er vor ein paar Wochen von der Bahn auch noch den Imbiss nebenan zusätzlich gepachtet. Dessen voriger Betreiber, ein Asiat, habe „immer nur Reis verkauft“, sagt Sarioglu, er selbst lässt dort jetzt Döner drehen. Die Sternbrücke – eine gute Ecke, um Geschäfte zu machen? Man müsse günstig anbieten, erklärt der türkische Geschäftsmann, „hier leben viele Menschen ohne Arbeit und mit wenig Geld.“

Mitten im Verkaufsraum hat er etliche Kisten Bier gestapelt, „Stände Pilsener“, die Flasche für 60 Cent. „Holsten kommt da nicht mit“, klagt Sarioglu, „da muss ich den halben Liter für 95 Cent verkaufen.“ Das billige Bier hingegen laufe recht ordentlich, und wie zum Beweis betritt ein polnischer Punk den Kiosk, mit 60 abgezählten Cent in der Hand. Zusammen mit seiner streng blond gefärbten Freundin putzt er unter der Brücke die Frontscheiben vor der Ampel wartender Autos. Ganz gut, sagt der Punk später draußen auf der Straße, prima Bier, aber sonst – keine Zeit zum Reden, „wir müssen leider arbeiten.“

Gearbeitet wird auch anderswo rings um die Sternbrücke, 20 Läden und Geschäfte gruppieren sich an der Kreuzung. Zumeist sind es Kneipen und Musikclubs, ein Tattoo-Laden und zwei Kioske, dazu ein paar Imbisse unterschiedlicher Küche. „Früher gab es hier mehr Fachgeschäfte“, sagt Henry Rappee, der seit 18 Jahren den Grill-Imbiss betreibt, „im jetzigen Döner war mal ein Friseur, daneben im Kiosk ein Fotogeschäft.“ Von der Vergangenheit zeugen noch ein Käseladen und ein Blumengeschäft, die Apotheke oder das Antiquitätengeschäft gegenüber.

Noch schnell ein letzter Besuch bei Paulo, also zurück über die Kreuzung. Er will uns seinen Garten zeigen, ein Stück Land zwischen Haus und Kreuzung direkt unter der Brücke. Vor allem portugiesischer Grünkohl wächst dort jetzt, und auch auf die drei kleinen Apfelbäume auf der kleinen Wiese ist er ganz stolz. Das Gemüse, erzählt Paulo, musst du fünfmal waschen, mindestens, das Wasser wird zunächst richtig schwarz. „Gesund ist das wohl nicht“, sagt Paulo, „aber was ist heute schon noch gesund?“

Peter Brandhorst