Hilft viel, braucht wenig Platz: Eine Box zum Überwintern

Das Diakonische Werk sucht Kirchengemeinden, die in der kalten Jahreszeit Wohncontainer für Obdachlose bereitstellen.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Heiß begehrt: Die 87 Schlafplätze in Wohncontainern, die es im vergangenen Winter im Hamburger Notprogramm für Obdachlose gab, waren ruck, zuck besetzt. Kein Wunder: Sie bieten nicht nur eine trockene und warme Bleibe in den kältesten sechs Monaten des Jahres, sondern auch eine Chance, sich ein wenig zu erholen und neue Kraft zu sammeln.

Film, Fön und Fantasie

Gleb Lenz betreibt einen kleinen Frisiersalon in Altona. Daneben beschäftigen ihn menschliche Schicksale, Einsamkeit, Liebe, Träume. So kommt es, dass der Friseur, während er Haare schneidet und Dauerwellen legt, seinen Kunden Geschichten erzählt. Eine davon will er sogar verfilmen. Wie das geht, weiß er: Mit seiner blühenden Fantasie hat es Gleb Lenz schließlich geschafft, Pro­tagonist eines Dokumentarfilms zu werden, der auf der Berlinale zu sehen war.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Neulich ging Gleb Lenz über einen roten Teppich. Gab Interviews, genoss den Applaus. In Berlin war das, bei der Berlinale. Gleb Lenz war dort als Hauptperson in dem Dokumentarfilm „Glebs Film“ zu sehen. Gezeigt wird darin, wie er in seinem Frisiersalon Haare schneidet, Locken legt, Augenbrauen färbt und dabei mit seinen Kunden über seine Filmidee spricht: einen Spielfilm über einen nicht mehr ganz jungen Mann, der stundenlang in zerrissenen Hosen auf der Straße steht; der arbeitslos und obdachlos ist und dem Herr Lenz eines Tages die wirren Haare schneidet. „Für mich heißt dieser Mann – Florian“, sagt Herr Lenz.
Lenz„Der Film, kann man schon sagen, war ein kleiner Erfolg“, erzählt er weiter. „Aber viele haben mich hinterher gefragt: Und? Machen Sie diesen Film über diesen Florian jetzt wirklich?“ Ja, das hat er vor. So, wie er auch weiter mit seinen Kunden über seine Filmidee plaudert.
„Ach, die Geschichte schon wieder; ich kann die nicht mehr hören“, stöhnt denn auch Frau Niemann. Frau Niemann sitzt im Frisierstuhl, ihre Haare verschwinden unter einer Trockenhaube. Frau Niemann kommt wie viele aus der Nachbarschaft. Sie erhält heute eine Dauerwelle. Das dauert.
„Sind Sie manchmal depressiv?“, fragt er sie. „Kommt drauf an“, antwortet Frau Niemann. Herr Lenz nickt: „Hat ja jeder mal. Man will auf das Dach steigen und …“
Gerade hat er in der Zeitung gelesen, dass sich jeden Tag drei Menschen vor einen Zug werfen, im Durchschnitt.
„Drei!“, sagt Herr Lenz. „Aber warum machen die das?“
„Weil sie es satt haben. Da hat man seine Ruhe …“, erklärt Frau Niemann.
Das will Herr Lenz nicht gelten lassen: „Es gibt aber auch schöne Sachen im Leben. Wenn man verliebt ist …“
„Ja, aber das dicke Ende kommt auch“, lacht Frau Niemann.
„Ahhhh“, macht Herr Lenz, wie er es immer macht, wenn ihn etwas sehr erstaunt. Dann fragt er: „Was meinen Sie mit ‚das dicke Ende‘?“
„Na, bleiben Sie ewig verliebt? Der Alltag …“
„Ich weiß, aber diese Droge für kurze Zeit ist ja da, dieses Verliebtsein …“ – Herr Lenz schaut beseelt an die Decke.
„Das Verliebtsein dauert vielleicht ein halbes Jahr. Aber eine Ehe dauert vielleicht 50 Jahre!“, sagt Frau Niemann. Sie hebt den Zeigefinger: „Unter guten Voraussetzungen!“
Herr Lenz nickt versonnen.
„Ach, man muss abwägen, generell“, spricht Frau Niemann weiter: „Ist das Leben gut – dann kann ich ja leben, ist es nur Mist – dann kann ich mich aufhängen.“
Herr Lenz schweigt. Er bestreicht ihr Haar mit einer weißen Tinktur, stellt den Wecker. Zehn Minuten muss die Tinktur jetzt einziehen.
Jedenfalls der Film: Es gibt in dem Film nicht nur Florian in seiner zerrissenen Hose. Es gibt auch Claudia. Claudia hat lange bei ihrer Mutter gelebt, ist einsam und arbeitslos wie Florian. Und Claudia ist ein wenig dicker: „So 140 Kilo“, sagt Herr Lenz: „90, das wäre zu wenig, das ist ja fast normal. 200 wäre wieder zu viel.“ Und wie nun Florian, in der zerrissenen Hose, wie er auf der Straße steht, und die einsame, arbeitslose Claudia zueinanderfinden, davon soll sein Film handeln.
„Ein bisschen Action, aber auch Liebe, dazu Nahaufnahmen: Aus all diesen Zutaten soll mein Film bestehen – wie ein Gericht“, sagt Herr Lenz. „Es soll nicht ganz oberflächlich werden, eine philosophische Note soll auch sein. Eine Szene wird auch in Afghanistan spielen“, sagt Herr Lenz. Weil doch Florian als Polizist in Afghanistan war. Und da hat er einiges erleben müssen, weshalb er heute stundenlang auf der Straße steht, in zerrissenen Hosen.
Noch etwas ist ihm wichtig: „Es soll in dem Film auch etwas über heutige Mode erzählt werden. Es geht darum, die Mode ist nicht nur für dünne Frauen gedacht, sondern auch für etwas korpulentere Frauen. Es wäre ja auch diskriminierend, wenn es nur Mode für ganz dünne Frauen gäbe.“ Wie bestellt, klingelt der Wecker. Herr Lenz löst die Lockenwickler, einen nach dem anderen.
Herr Lenz kommt ursprünglich aus Minsk, Weißrussland. 1991 verschlägt es ihn nach Hamburg. Die Stadt gefällt ihm sofort. Er lernt hier auch seine Frau kennen, die ihrerseits aus Kasachstan kommt, eine Deutschstämmige. Deshalb heißt er auch Lenz: „Ich hab den Führungsnamen meiner Frau angenommen“, erzählt er: „Was sollen sich unsere Kinder auch hier in Deutschland mit einem russischen Nachnamen rumplagen.“ Integration mal ganz praktisch.
Herr Lenz liebt das Theater. Er möchte Maskenbildner werden. Dazu muss man vorher eine Friseurlehre machen. Er macht auch noch die Meisterschule, übernimmt dann vor gut zehn Jahren einen Friseursalon in Altona. „Ich bin sehr zufrieden mit diesem Beruf“, sagt er, „aber man möchte im Leben noch eine zweite Karriere haben.“
Der letzte Lockenwickler ist entfernt. Er wäscht Frau Niemann das Haar. „Die Claudia“, beginnt er wieder, „die Claudia in meinem Film, die macht auf Natur; die will naturbelassen bleiben.“ Er spült das Haar aus, trocknet vorsichtig Frau Niemanns Haar ab. „Das Einzige was wir chemisch bei Ihnen machen, ist die Dauerwelle. Alles andere ist Natur.“
Dann – wieder so ein Einfall! Er schließt kurz die Augen, legt los: „Ich habe eine Kundin, die ist so alt wie Sie, Frau Niemann. Die ist noch dicker. Die ist ein bisschen unglücklich in ihrem Leben. Lebt allein, Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie hat vor Kurzem noch gearbeitet, weil die Rente doch nicht so ausreichend war.“
Herr Lenz ist fertig mit dem Abtrocknen. „Auf jeden Fall hat sie ein Bein gebrochen – und dadurch war sie noch unglücklicher, die Stimme war nicht mehr so fröhlich. Aber sie hatte noch diesen Job – Telefonsex war das praktisch. Ja, sie hat in ihrem Alter das noch gemacht. Warum? Weil von zu Hause aus kann man das machen; man muss nicht wohin gehen. Aber dadurch, dass ihre Stimme so unglücklich wurde, hat man sie dann gekündigt. Und sie war dann dadurch noch mehr unglücklicher.“
Herr Lenz betrachtet Frau Niemanns Haare. „Aber nun kommt’s: Sie hat so ähnliches Haar wie Sie. Aber sie wollte anders sein. Und sie hat sich Perücken gekauft; verschiedene: lange und kurze – und das ist eben der Punkt, das wollte ich Ihnen sagen: Haben Sie schon mal eine Perücke besessen? Nein? – Weil Sie ein Naturmensch sind!“
Und die beiden prusten laut los. „Doch, doch, das ist wahr“, sagt er, als sie fertig gelacht haben. „Ach, Herr Lenz, sie tüdeln doch“, sagt Frau Niemann und schaut vergnügt in den Spiegel.
Hat er schon eine Idee, welcher Schauspieler den Florian spielen soll? „Ich“, sagt Herr Lenz. Denn er stellt sich Folgendes vor: „Der Florian, mit seiner zerrissenen Hose, durch seinen Knick im Kopf sozusagen, sieht er alle Männer, mit denen er spricht, er sieht sein Gesicht bei denen. Er erkennt die Gesichter von denen nicht, das ist das Sonderbare bei ihm. Er sieht sich selbst in jedem, verstehen Sie?“
Von daher ist es ganz praktisch, wenn Herr Lenz den Florian spielt – und alle anderen Männer gleich mit. „Bei der Claudia geht das natürlich nicht; da muss ich mal schauen“, sagt Herr Lenz. „Auch Florians Mutter und Claudias Mutter – obwohl, ich will das meiste durch Florians Träume zeigen; wenn er sich so erinnert: damals Picknick mit der Mutter am Elbstrand; da ist ja auch Sand – wie in Afghanistan.“
Herr Lenz schneidet noch ein wenig nach. „Das kann man ruhig sehen, dass die Szene in Afghanistan nicht in Afghanistan gedreht ist“, erzählt er, „sondern an der Elbe.“ Er sagt ernst: „Am Ende wird mein Film auf dem Mars spielen.“ Auf dem Mars? „Ja, weil man doch sagt“, sagt Herr Lenz: „,Ich könnte diese ganzen Arbeitslosen auf den Mond, also auf den Mars schießen!‘“ Und er schlägt sich auf die Schenkel, lacht sein herzhaftes Lachen, die Schere in der Hand.
Es wird bestimmt ein toller Film werden. „Ja“, sagt Herr Lenz, „das glaube ich auch.“ Das Drehbuch ist fast fertig, er braucht nur noch eine Kamera, Ton, Licht. „Es soll eine Low-Budget-Produktion werden, aber ein bisschen Geld und Unterstützung bräuchte ich schon; dass es jemand gibt, der mir hilft, weil …“ Herr Lenz stoppt. Herr Lenz hat eine Idee! Herr Lenz sagt: „Vielleicht können Sie das in Ihrer Zeitung ja so schreiben, ja?“

Glebs Film, ein Dokumentarfilm von Christian Hornung, 2009. Weitere Informationen unter: www.glebsfilm.de Friseursalon Lenz, Windhukstraße 15, Telefon 880 05 01
Text: Frank Keil
Foto: Daniel Cramer

„Ich möchte nicht, dass Günter denkt: du Arschloch.“

Vor 20 Jahren brach Ex-Hinz&Künztler Uwe Wichmann im Drogenwahn in der Agentur „Panfoto“ von Günter Zint ein. Er ließ so viel mitgehen, dass die Fotoagentur fast ruiniert war. Der finanzielle Schaden und der Vertrauensbruch wogen schwer, eine Versöhnung schien ausgeschlossen. Doch ein Artikel in Hinz&Kunzt über Uwes Leben und seine Firma brachte die Männer dazu, nach all den Jahren wieder miteinander zu reden. Nun will Uwe alles dafür tun, den Schaden wiedergutzumachen. Die Geschichte einer Annäherung.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

„Wenn ich an damals denke, zittere ich immer noch“, sagt Günter Zint. „Uwe hat uns im Sommer 1990 bei ‚Panfoto‘ den Laden ausgeräumt; Kameras, Computer, Projektoren, Vergrößerungsgeräte – alles war weg. Selbst die Disketten waren verschwunden; unsere Büros sahen aus wie eine Möbelausstellung. Wir hätten das beinahe nicht überlebt.“ Er schaut geradeaus: „Ich bin wochenlang wie in Trance durch die Gegend gelaufen; ich habe kaum etwas mitbekommen.“ Uwe Wichmann nickt wortlos.

Der einstige Hinz&Kunzt-Verkäufer und der Fotograf sitzen nebeneinander im Sankt Pauli Museum, das Zint ­aufgebaut hat. Seit fast 20 Jahren haben sie nicht mehr miteinander geredet. Jetzt wollen sie ihre Geschichte erzählen.

Günter Zint und Uwe Wichmann
Günter Zint und Uwe Wichmann

Kennengelernt haben sich die beiden Mitte der 70er-Jahre, sie waren gut befreundet, und Uwe Wichmann arbeitete zeitweise in Zints Agentur Panfoto. „Wir haben auch eine Zeit lang zusammengewohnt, es war wie eine Familie. Das war ein Wahnsinnsvertrauensbruch, den ich da …“, sagt Uwe. Er schluckt, senkt den Kopf, versucht sachlich weiterzureden. Zu erklären. „Ich hab damals in der Freiheit Tür gemacht, da hab ich das Saufen wieder angefangen. Dabei war ich über zehn Jahre trocken. Ich bin bald mit so Halblitertulpen voll Baileys rumgerannt.“
Zint unterbricht: „Aber das war doch nicht nur der Alkohol?“ – „Nee“, sagt Uwe: „Bei den Chefs ging öfters mal eine Nase Koks rum und das war mein Untergang. Dann kam noch das Heroin dazu – Koks mit Heroin, es geht rasant, dass du dich total veränderst. Wenn du keinen Stoff mehr hast, hast du Todesangst.“
Zint hat Uwe damals gleich im Verdacht: „Wegen seiner Drogen und weil er wusste, wie man die Alarmanlage ausschaltet. Und ich hatte ihn schon vorher zweimal aus dem Knast geholt.“ Er sieht Uwe von der Seite an. „Uwe hat unglaublich viele Begabungen, aus denen er alles hätte machen können, wenn er nicht so abgestürzt wäre.“
Uwe rückt mit dem Stuhl näher an den Tisch heran: „Ich wollte – und das ist jetzt kein Spruch – ich wollte von Günter drei Kameras ausleihen, ins Pfandhaus bringen, später wieder auslösen. Ich hatte noch einen Schlüssel zu den Räumen …“ – weshalb später auch keine Versicherung für den Schaden aufkam. „Was ich nicht wusste“, unterbricht ihn Zint erneut. „Ich nehme an, du und deine Freundin …“ Uwe nickt: „Meine damalige Freundin war mit, die war genauso auf Turkey wie ich. Plötzlich hat sie gesagt: ‚Wenn du nicht die Computer mitnimmst und das noch und das alles noch, dann fang ich an zu schreien.‘ Es war der Wahnsinn!“ Uwe Wichmann fährt sich übers Gesicht, schweigt. „Beim Prozess dann bekamst du ein Jahr“, sagt Günter Zint und sieht Uwe an. „Auf Bewährung.“
Uwe Wichmann lebt anschließend lange auf der Straße, wird Hinz&Kunzt-Verkäufer, kommt nicht von den Drogen los. Erst als er niedergestochen wird, nur knapp überlebt, macht er einen Entzug – und hält durch. Heute hat er eine Firma, die bei Dreharbeiten für Film und Fernsehen für die Absperrungen verantwortlich ist. „Panfoto hat ja nicht nur fotografiert, sondern schon immer auch Filme produziert“, erklärt Zint. „Und Uwe hat da Requisite und Aufnahmeassistenz gemacht. Er hat bei uns gelernt, was er heute kann.“
Es bleibt nicht aus, dass Günter Zint Uwe Wichmann ab und zu auf St. Pauli trifft: „Immer, wenn ich ihn mit den Zeitungen gesehen hab, hab ich sofort die Straßenseite gewechselt. Automatisch.“
Uwe seinerseits traut sich lange nicht, auf Zint zuzugehen: „Ich hab das immer wieder versucht, ehrlich, aber ich hatte doch nichts in der Hand.“ Dann fasst er sich doch ein Herz, spricht ihn an: „Da hast du nur zu mir gesagt: ‚Geh mir aus den Augen, du Ratte.‘ Das war der zweite Messerstich für mich“, sagt er. Zint schüttelt den Kopf. „Ich hab gesagt: ‚Dir kann ich nur noch in’ Arsch treten‘; da war ich noch so was von sauer und fertig.“ Beide schweigen.
Im Januar dieses Jahres erscheint die Geschichte von Uwes Firma bei Hinz&Kunzt – der Einbruch wird nicht erwähnt. Zint ruft in der Redaktion an, berichtet entsprechend aufgebracht, was vor knapp 20 Jahren passiert ist: „Ich hätte ihm ja den Gerichtsvollzieher auf den Hals schicken können, aber ich wollte ihm nun auch nicht seine Firma kaputt machen.“
Uwe versucht, mit Zint Kontakt aufzunehmen, ruft ihn an, aber Zint legt immer wieder auf. „Nicht auflegen, nicht auflegen, nicht auflegen!“, flehte er zuletzt. Bei der Feier für den verstorbenen Kiez-Maler Erwin Ross Ende März sitzen die beiden unter den vielen Trauergästen zum ersten Mal länger an einem Tisch. Und halten es aus.
Uwe hat dann eine Idee: Er könnte Fördermitglied beim Verein des Sankt Pauli Museums werden. Könnte wenigstens versuchen, symbolisch den angerichteten Schaden wieder gutzumachen. Zint zögert – und willigt schließlich ein.
Dass Panfoto den Einbruch damals überhaupt überstanden hat, ist der Unterstützung zu verdanken, die Zint erfährt: Keiner seiner Mitarbeiter kündigt. Zugleich erscheint ein Spendenaufruf in der Taz und dem medizinkritischen Magazin Dr. Mabuse: „In der ersten Woche kamen allein 12.000 Mark zusammen; insgesamt wurden es mehr als 35.000 Mark. Wir konnten uns davon neue Computer kaufen und neue Kameras; eben alles, was wir brauchten“, erzählt Zint. „Ich weiß nicht, ob es diesen Zusammenhalt heute noch gibt.“
Und – hat er Uwe verziehen? Günter Zint atmet einmal heftig aus: „Diese Frage habe ich befürchtet.“ Er macht eine lange Pause. „Ehrlich – ich weiß es nicht“, sagt er schließlich: „Ich bitte da noch um eine Frist.“ Uwe Wichmann meint: „Ich kann den finanziellen Schaden nicht ungeschehen machen; aber ich kann versuchen, den emotionalen Schaden wieder gutzumachen.“ Und: „Ich möchte nicht, dass Günter, wenn er Fotos von früher sieht, immer wieder denkt: das Arschloch.“ Zint muss kurz schmunzeln: „Normalerweise gibt es bei uns Menschen einen wunderbaren Mechanismus im Gehirn, der unangenehme Dinge so langsam verschwinden lässt. Wenn du aber Fotograf bist, wenn du dann im Archiv wühlst – dann macht es hin und wieder: Bäng!“
Er wird wieder ernst, atmet noch einmal tief aus, sagt dann: „Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient; bei Uwe dürfte es die vierte sein. Aber ich freue mich, dass er heute clean ist. Ich wünsch mir, dass er diese Chance nutzt und dass er es schafft.“
Draußen beim Fotografieren stehen sie wie selbstverständlich nebeneinander. Sie fachsimpeln über Kameras, es geht zurück ins Museum, sie schauen sich Fotos an. Auch Uwe hat Bilder mitgebracht: darunter ein Kinderfoto – ein kleines Mädchen mit einer Strickmütze und einem Ast in der Hand.
Uwe schiebt das Bild Zint zu. „Weißt du noch?“, fragt er. „Ist das Lena?“, fragt Zint zurück. „Ja“, sagt Wichmann, „das muss im Niendorfer Gehege sein.“ Weitere Namen purzeln; viele, über die sie kurz sprechen, sind nicht mehr am Leben. „Aber wir leben noch“, sagt Günter Zint.

Text: Frank Keil
Foto: Mauricio Bustamante

Das Hartz-IV-Tagebuch

Kann man von 351 Euro im Monat mehr als überleben? Hinz&Kunzt-Volontärin Beatrice Blank hat es im Hartz-IV-Selbstversuch probiert

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

„Wir sind doch keine Affen im Zoo!“

Unter der Kersten-Miles-Brücke am Bismarck-Park wohnt seit Monaten eine Gruppe junger obdachloser Punks. Die Bild-Zeitung machte im März lautstark Stimmung gegen sie und warf ihnen vor, Touristen abzuschrecken und den Park zu vermüllen. Auch der Bezirk Mitte möchte die Punks möglichst schnell von der Straße kriegen. Wir haben die jungen Leute kennengelernt und uns selbst ein Bild gemacht.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

„Das war das Beste, was uns passieren konnte.“

Auch die „Holstenpunx“ waren obdachlos, bevor sie im Sommer 2008 in zwei leer stehende Häuser in Bahrenfeld einzogen. Seitdem schauen sie nach vorne, beginnen Ausbildungen und pflanzen Apfelbäume. Und sie wollen um ihr Zuhause kämpfen. Denn weil der ­Häuserkomplex von der Stadt verkauft wurde, steht das Projekt vor dem Aus.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

„Und ich dachte, ich könnte dich retten“

NDR-Moderatorin Tina Wolf schreibt nach dem Tod ihres alkoholkranken Vaters ein Buch über ihn, ihr gemeinsames Leid und ihre eigene Hilflosigkeit.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

„Ich war Zeugin eines Selbstmordes auf Raten. 17 Jahre lang musste ich mit ansehen, wie mein Vater sich krank- und schließlich tottrank.“ Der Tod steht am Anfang des Buches der Hamburger Journalistin Tina Wolf (36). Der Tod des Vaters, der – so makaber es klingt – zugleich ein Neuanfang für die Tochter war. Denn die Alkoholsucht des geliebten Vaters bestimmte jahrelang das Leben seiner Tochter. Zwang sie in ein Leben zwischen Verdrängen, Verschweigen, schamhaftem Leiden und dem verzweifelten Willen, den Vater zu retten. „Es war mein größter Wunsch, sein Leben zu verändern, ihn glücklich zu machen, zufrieden. Dass man in das Leben eines anderen Menschen nur eingreifen kann, wenn dieser es zulässt, habe ich erst Jahre später erkannt.“

Melancholie-Therapie

Singer-Songwriter Gisbert zu Knyphausen zweifelt an Fanartikeln, flucht übers Traurigsein und ignoriert seine adelige Herkunft.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Das findet er komisch, dass es T-Shirts gibt mit seiner Silhouette und seinem Namen drauf. Und Buttons. Und Mario, sein Booker, verkauft die dann beim Konzert. Da gibt es einen Merchandising-Stand. Gisbert zu Knyphausen kichert über Gisbert-zu-Knyphausen-Merchandise-Artikel. Das war nicht seine Idee. „Am Anfang wollte ich das gar nicht.“ Aber es gab Fans, die es forderten. Zur jetzt anstehenden Tour des 31-Jährigen soll es sogar neue Motive geben. Doch der ist skeptisch. Kult um seine Person ist ihm unheimlich.

„Ich will leben!“

Rainer K. (47) verkauft seit zehn Jahren Hinz&Kunzt an seinem Stammplatz am „Marienhof“ in Wedel.

(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Reiner-8491Rainer will durchhalten. ­Gerade hat er eine 48-wöchige Therapie gegen Hepatitis C hinter sich, die Nebenwirkungen der Spritzen setzen ihm zu: Rainer ist ständig müde, seine Haut juckt, oft hat er zu nichts Lust. „Aber ich will die Krankheit besiegen“, sagt er. Weil es durchaus eine Heilungschance gibt, will er die harte Behandlung noch ein weiteres Jahr ertragen. „Da muss ich mich durchkämpfen. Ich will leben!“
Es gab Zeiten, da hing Rainer nicht so an seinem Leben. Geboren wurde er in Speyer. Im Alter von neun Jahren stirbt seine Mutter, Rainer wächst im Heim auf. Sein Vater kümmert sich nicht um ihn. Nach der Schule macht er eine Ausbildung zum Facharbeiter und arbeitet auf dem Bau, heiratet und bekommt eine Tochter. Aber Glück findet Rainer nicht: Er leidet an seiner Vergangenheit, trinkt zu viel, in der Ehe häufen sich die Konflikte. „Ich hab immer mehr getrunken“, sagt Rainer, „weil ich mir eingebildet habe, dann ginge es mir besser.“ Irgendwann wachsen ihm die Schwierigkeiten über den Kopf: Rainer haut ab, tingelt durch die Pfalz, 2000 kommt er nach Hamburg.
In Hamburg macht Rainer Platte oder schläft bei Bekannten in Wedel. Es ist eine traurige Zeit. „Ich hab immer ge­soffen. Alles Schöne um mich herum habe ich zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen“, sagt er. In betrunkenem Zustand muss er sich auch mit Hepatitis C infiziert haben, genau weiß er das nicht mehr. Oft ist Rainer in dieser Zeit alles egal, nur sein Hund Greif nicht. Ihn hat Rainer als Welpen von einer ­alten Witwe geschenkt bekommen. Für das Futter des Tieres schränkt Rainer sogar seinen Alkoholkonsum ein.
Schließlich kommt Rainer über einen Freund zu Hinz&Kunzt. „Meine Kunden haben mir zugehört, das hat gutgetan“, sagt Rainer. Viele schließen auch Greif ins Herz. „Wenn ich mal nicht an meinem Stammplatz stehe, dann fragen meine Kunden nicht nach Rainer, sondern nach Greif und seinem Herrchen“, grinst Rainer. Im Sommer 2008 rafft er sich endlich auf und geht in eine Entzugsklinik. „Das war an meinem Geburtstag, die Therapie hab ich mir zum Geschenk gemacht“, sagt er. Zu dem Zeitpunkt waren viele seiner Bekannten schon am Alkohol gestor­ben. Auch wenn Rainer jetzt wieder nach vor­ne schauen will, weiß er: Sicher vor einem Rückfall ist er nicht.

H&K: Wo wohnst du derzeit? Und wie ist es da?
Rainer K: Ich habe eine kleine Wohnung im Bunker in der Mistralstraße. Da können Obdachlose für drei Jahre unterkommen. Lieber wäre mir aber ­eine richtige Wohnung, die würde ich auch immer sauber halten!

H&K: Wie möchtest du in fünf Jahren leben?
Rainer: Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Wer weiß schon, was kommt? Zuerst möchte ich meine Krankheit in den Griff kriegen.

H&K: Wo ist dein Lieblingsplatz in Hamburg?
Rainer: Hamburg finde ich fast überall schön, besonders gern bummele ich durch die Mönckebergstraße. Aber am schönsten finde ich es unter Leuten, die mich als Mensch wahrnehmen, egal an welchem Ort.

Text: Hanning Voigts

Foto: Mauricio Bustamante

„Ich will nicht noch mehr Mist bauen“

Marco L., 38, verkauft seit April 2008 das Straßenmagazin
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

marcoWie es sich anfühlt, zu einer Familie zu gehören, weiß Marco. Aber nicht, wie es ist, sie zu behalten.
Seinen leiblichen Vater kennt er gar nicht. Seine Mutter arbeitete Tag und Nacht als Kellnerin. Der Stiefvater beachtete ihn nur, wenn er ihn prügelte.
In seiner Kindheit gab Marcos Oma ihm so etwas wie ein Zuhause. Als sie starb, haute der 13-jährige Marco ab. „Ich bin total durchgedreht und wollte nur noch weg.“ Auf dem Hamburger Kiez – nur ein paar Hundert Meter von der elterlichen Wohnung, aber Welten von einer behüteten Kindheit entfernt – schlug er sich alleine durch. „Mit Diebstahl und Prostitution und so“, sagt der 38-jährige Hinz&Künztler.
In mehrere Heime hätten sie ihn gebracht, aber da sei er immer wieder abgehauen. Noch als Teenager fing er mit Drogen an. Das erste Koks bekam er „von einem guten Freund, der jetzt tot ist“.
Mit Anfang zwanzig verliebte Marco sich. Er heiratete die Frau und zog mit ihr in eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Sie hatte schon drei Kleinkinder aus einer früheren Beziehung, gemeinsam bekamen die beiden noch einen Sohn. Seine Frau verdiente das Geld, Marco schmiss den Haushalt für die sechsköpfige Familie. Sieben Jahre lang blieb er clean.
„Dann der Rückfall“, sagt er. „Ich glaube, ich war überfordert: der Haushalt, die Kinder. Du musst immer nett sein, auch wenn sie rumschreien und zanken.“ Marco brach aus dem Leben als Hausmann aus. Er landete auf der Straße und geriet wieder in den Kreislauf der Sucht: Das Geld dafür beschaffte er auch auf illegalem Weg. Mehrmals stand Marco deswegen vor Gericht, zuletzt am 26. September 2009. Ein wichtiges Datum, denn damals beschloss er: „Ich will nicht noch mehr Mist bauen.“ Seitdem bekommt er Methadon, eine Ersatzdroge, die er nicht in der Szene kaufen muss, sondern beim Arzt abholt.
Seinen Alltag bestimmen mittlerweile nicht mehr die Drogen, sondern Hinz&Kunzt: Jeden Tag verkauft er das Straßenmagazin und kommt in den Vertrieb in der Altstädter Twiete, auf einen Kaffee und zum Klönen. „Hier werde ich anerkannt“, sagt Marco. „Hier ist jetzt meine Familie.“

H&K: Wo wohnst du derzeit? Und wie ist es da?
Marco: In einem Zimmer zur Untermiete bei einer Bekannten. Da wohnen auch noch ihr Freund und zwei Hunde.

H&K: Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Marco: Ich will unbedingt meine eigene Wohnung. Ich würde sie von dem Geld, das ich mit Hinz&Kunzt verdiene, einrichten. Dann kann mich auch mein Sohn besuchen und meine Mutter.

H&K: Wo ist dein Lieblingsplatz in Hamburg?
Marco: In der Sternschanze, da sind die Leute in Ordnung, da macht mich nie einer blöd an.
Text: Beatrice Blank
Foto: Mauricio Bustamante