Walter Giller und Nadja Tiller: Gegen die sehen wir alt aus

Alt werden ist nichts für Feiglinge, miteinander alt werden schon gar nicht. Das wird im Gespräch mit Schauspieler Walter Giller deutlich. Aber er und seine Frau Nadja Tiller nehmen’ s mit viel Humor. In der Filmkomödie „Dinosaurier“ zeigt das Paar, dass die Schwächen des Alters auch Stärken sein können.

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

Solo-Percussionistin Evelyn Glennie

Als Kind wurde Evelyn Glennie fast taub, und keiner traute ihr eine Karriere als Musikerin zu. Trotzdem beschloss sie, Solo-Percussionistin zu werden. Mit Erfolg: Glennie ist heute eine weltweit gefeierte Schlagwerkerin. Jetzt tritt die Britin in Hamburg auf.

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

Obdachlose im Winter

Es ist kalt: Mindestens 14 obdachlose Männer sind in diesem Winter in Deutschland schon erfroren, einer davon in Hamburg. Denn auch hier schlafen etliche bei Minusgraden draußen – wie die Hinz&Künztler Klaus und Klaus.

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

Die tiefschwarze Nacht weicht einem Dunkel- und dann einem Himmelblau, der unberührte Schnee glitzert. Am frühen Morgen ist es wunderschön an der Alster – und bitterkalt. Atemberaubend.

„Wer nicht kämpft, hat schon verloren“

Seit drei Monaten Hinz&Künztler: Kay Blutbacher

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

„Sind wir schon geräumt worden?“ Kay Blutbacher kriecht ziemlich verpennt aus seinem Schlafsack. Seit Mitte Dezember kampiert der 27-Jährige im Altonaer Gählerpark – auf einem ziemlich hohen Baum. Er und die anderen Aktivisten der Umweltschutzorganisation Robin Wood wollen 397 Bäume im Stadtteil retten. Die sollen abgeholzt werden, damit Energiekonzern Vattenfall eine Fernwärmeleitung für das Kohlekraftwerk Moorburg baut.

„Alkohol und Schläge, das war normal“

Seit zehn Jahren bei Hinz&Kunzt: Armin S.

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Der Bruch fehlt in Armin Satzingers Leben. Er ist nicht abgestürzt, er war nie oben. Erinnerungen an seine Kindheit in Bayern sind vor allem Erinnerungen an Suff, Streit und Schläge. „Bei uns wurde ziemlich viel Alkohol getrunken, damit bin ich aufgewachsen“, sagt der 33-jährige Hinz&Künztler. „Das war ganz normal.“ Auch dass sein Vater ihn und seine drei Geschwister regelmäßig verprügelte.
Als er ein kleiner Junge war, machte das auch „das große Haus mit eigenem Swimmingpool“ nicht besser. In der Schule ließ Armin seinen Frust an Lehrern und Mitschülern aus. Die einen beschimpfte er, die Schwächeren schlug er. Wenn sein Vater davon erfuhr, setzte es die nächste Tracht Prügel – und Armin wurde noch wütender.
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Mit 16 Jahren fand er eine Möglichkeit, seine Wut zu betäuben. Es fing mit Alkohol an, ging mit Haschisch weiter, mit Tabletten und Koks. Bis er sich den ersten Schuss Heroin setzte. Da klappte erst recht nichts mehr: Er bekam den Ausbildungsplatz als Schlosser nicht und die Zulassung zur Führerscheinprüfung auch nicht. Armin weiß selbst, was sein größtes Problem ist: „Drogen.“ Mehrere Entgiftungen hat er schon hinter sich, aber nie lange ohne Betäubungs mittel durchgehalten.
Den ersten Rückfall hatte Armin, als vor zehn Jahren seine schwangere Freundin an einer Überdosis starb. Bis heute macht Armin sich Vorwürfe, dass er Heike nicht beschützt hat. Nach ihrem Tod verließ er seine bayerische Heimat und schlug sich nach Hamburg durch. Auch hier kam er nicht von den Drogen los, dafür zu Hinz&Kunzt. Das Magazin – „Ich verkaufe jeden Tag“ – ist die einzige Regelmäßigkeit in seinem Leben.

HINZ&KUNZT: Was hast du diese Woche Besonderes erlebt?
ARMIN: Auf dem Weihnachtsmarkt habe ich eine Frau kennengelernt. Sie war hübsch und wir haben uns gut unterhalten. Sie hat sogar nach meiner Telefonnummer gefragt, aber ich habe ja kein Telefon.

H&K: Wo wohnst du derzeit und wie ist es da?
ARMIN: Ich mache Platte in der Stadt, ist mir lieber als Winternotprogramm. Da ist mir zu viel los.

H&K: Wie hat dir die Dezember-Ausgabe gefallen?
ARMIN: Den Regisseur auf dem Titelblatt fand ich gut, ich hab ihn sofort erkannt. Die neue Gestaltung sieht auch gut aus, die Zeitung kenne ich seit Jahren, und ich finde, die wird immer besser.

H&K: Wie möchtest du in fünf Jahren leben?
ARMIN: In eigener Wohnung, mit einer Freundin und einem Hund.

H&K: Hast du eine schöne Kindheitserinnerung?
ARMIN: Wir haben früher öfter Urlaub in Spanien gemacht. Sonne, Meer, und die ganze Familie war gut drauf. Das war schön.

Text: Beatrice Blank

Foto: Mauricio Bustamante

„Scheiße ist das, wenn du hier landest“

Auch in diesem Winter haben viele Obdachlose trotz klirrender Kälte draußen geschlafen, anstatt die städtischen Notunterkünfte zu nutzen. Warum? Fabian Zühlsdorff und Hanning Voigts haben getarnt als Obdachlose eine Nacht im Notasyl Pik As verbracht – und Antworten gefunden.

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Seit mehr als einer Stunde liege ich wach. Es ist halb drei Uhr nachts, und obwohl ich zum Umfallen müde bin, kann ich nicht einschlafen. Im Bett unter mir liegt ein Mann, der sich ununterbrochen kratzt. Durch das Kratzen wackelt und quietscht das metallene Doppelstockbett, außerdem quält mich die Frage, ob mein Bettnachbar eine ansteckende Hautkrankheit hat. Aber auch sonst finde ich im Zimmer 412 der Notunterkunft Pik As keine Ruhe. In einem Raum sind hier 13 Männer untergebracht, nur eines der 14 Betten ist leer. Es riecht nach Schweiß und ungewaschenen Körpern. Nur zwei der Männer scheinen zu schlafen, zumindest schnarchen sie laut. Wie soll ich hier erholsamen Schlaf finden?

Dabei ist mein Aufenthalt im Pik As bisher besser verlaufen als erwartet. Nachdem Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas im Dezember 1999 eine Nacht hier verbracht hatte, berichtete er von überforderten Mitarbeitern, exzessivem Alkoholkonsum der Bewohner und skandalösen hygienischen Zuständen. Mittlerweile hat sich einiges geändert: Betrunkene sind heute kaum zu sehen, die Toiletten sind sauber, das Haus ist einigermaßen ruhig.
Vier Stunden zuvor: Unser Aufenthalt im Pik As beginnt gegen 22 Uhr mit einem überraschend freundlichen Empfang. „Wie, ihr habt keine Ausweise dabei?“, fragt uns ein Mitarbeiter erstaunt. Wir schütteln den Kopf. „Na, dann müsst ihr beide uns einfach eure Namen und  Geburtstage aufschreiben“, meint er versöhnlich. „Trinkt erst mal einen Kaffee, meine Kollegin kümmert sich gleich um euch.“

Wir ziehen uns am Automaten einen kostenlosen, dünnen Kaffee. In der Ecke der neonbeleuchteten Eingangshalle kriechen gerade drei junge Männer auf dem nackten Fußboden in ihre Schlafsäcke. Sie reden laut auf Spanisch miteinander. Und im Gegensatz zu uns scheint ihnen die triste Atmosphäre hier nicht die Laune zu verderben. Das seien arme Teufel ohne deutschen Pass, die hier kein Recht auf ein Bett hätten, erklärt uns der Mitarbeiter: „So haben sie bei der Kälte wenigstens ein Dach über dem Kopf.“
Kurz darauf nimmt eine Mitarbeiterin unsere Daten auf. „Wir haben für euch nur noch Platz in einem der Notaufnahmezimmer“, sagt sie entschuldigend, „da schlafen schon mehrere, und besonders hygienisch ist es auch nicht.“ Während sie uns jeweils ein belegtes Brötchen, Decken und frische Bettwäsche in die Hand drückt, schärft sie uns ein: „Ihr müsst auf eure Wertsachen aufpassen.“ Diese Warnung haben wir schon oft gehört. Hinz&Künztler berichten immer wieder von nächtlichen Diebstählen im Pik As.

In Zimmer 412 wird mir schnell klar, dass ich hier kein Auge zumachen werde. Die Luft ist zu unangenehm, die Atmosphäre zu unruhig. Wieder auf dem Flur treffen wir Rolf *, der sich gerade umständlich eine Zigarette dreht. Er trägt einen geflochtenen Bart und hat bis vorgestern auf der Straße geschlafen. „Alle paar Minuten fuhr ein Auto an mir vorbei“, sagt er, „da kriegst du kein Auge zu.“ Ich frage ihn, wie es ihm im Pik As gefällt. „Es ist ruhiger“, sagt Rolf langsam, „aber die Luft ist so schlecht und trocken.“

Im Treppenhaus kommt uns ein alter Mann in zerschlissenen Jeans entgegen. Er trägt keine Schuhe, seine schorfigen Hände und Füße stecken in schmutzigen Verbänden. Lallend fragt er mich nach einer Zigarette. „Danke Mann, du bist der Boss“, sagt er, als ich ihm eine gebe. Sein Anblick ist deprimierend. Der Alte tut mir leid. Im Aufenthaltsraum ist die Stimmung besser. Im Fernsehen läuft der Hollywood-Western „Der mit dem Wolf tanzt“. Die Film-Idylle mit Indianern und weiter Prärie will nicht so recht zu dem spartanisch eingerichteten Zimmer passen, aber immerhin ist der Raum sauber und dient nicht mehr vorrangig zum Trinken wie noch vor zehn Jahren. Neben Fabian und mir sitzt Arne, ein junger Punker mit roten Haaren. „Mit 18 bin ich zu Hause abgehauen, hab meine Lehre geschmissen, mal hier und mal da gepennt“, erzählt er. Nach Hamburg ist er wegen seiner Freundin gekommen, die hat ihn im September 2009 aus der Wohnung geworfen. „Seitdem schlag ich mich so durch“, sagt Arne. Das Pik As stört ihn nicht, er ist froh über die Unterkunft: „Ich stelle kaum Ansprüche.“

Als der Aufenthaltsraum gegen ein Uhr früh geschlossen wird, gehe ich kurz an die frische Luft. Im Innenhof stehen zwei junge Männer mit Bierdosen in der Hand. Der eine guckt mich plötzlich an. „Und du musst hier pennen?“, fragt er. Ich nicke. „Scheiße ist das, wenn du hier landest“, meint er, „hast du wenigstens ein Einzelzimmer?“ Ich verneine. „Ach du Scheiße“, sagt er und sieht mich mitleidig an. Ich schäme mich ein bisschen, ihm etwas vorzuspielen.
Um halb zwei Uhr gehe ich ins Zimmer 412 und lege mich ins Bett. Ich fühle mich unwohl, an Schlaf ist nicht zu denken. Fabian nickt immerhin für zwei Stunden ein. Gegen fünf Uhr halte ich es einfach nicht mehr aus. Als wir zum Ausgang gehen, schlafen in der Eingangshalle sieben Menschen, einige einfach gegen die Wand gelehnt.

* alle Namen geändert

Die Kosten der Übernachtung in Höhe von 24 Euro pro Person haben wir an fördern und wohnen überwiesen.

Das Pik As in der Neustädter Straße 31a ist Hamburgs zentrale Notunterkunft für obdachlose und wohnungslose Männer. Getragen wird es vom städtischen Unternehmen fördern und wohnen. Das Haus hat derzeit 190 Betten, zumeist in Vier-Bett-Zimmern. Außerdem gibt es 24 Einzelzimmer, in denen die Bewohner auch Hunde halten können. Das Pik As ist verpflichtet, jederzeit allen
obdachlosen Männern einen Schlafplatz zur Verfügung zu stellen.
Von November 2009 bis Februar 2010, während des Winternotprogramms für Obdachlose, haben im Schnitt 167 Menschen pro Nacht in der Notunterkunft geschlafen.
Obwohl das Pik As nur eine vorübergehende Notlösung sein soll, leben einige Bewohner seit vielen Jahren dort, darunter auch einige Hinz&Künztler. Das Winternotprogramm wird nach Angaben von fördern und wohnen in diesem Jahr am 15. April enden.


„Wir sind doch kein Hotel!“: Wie es Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas vor zehn Jahren ging, als er eine Nacht im „Pik As“ verbrachte

Das Hartz-IV-Tagebuch

Kann man von 351 Euro im Monat mehr als überleben? Hinz&Kunzt-Volontärin Beatrice Blank hat es im Hartz-IV-Selbstversuch probiert

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Wahre Geschichten

Bruno Schrep erzählt von Schicksalen, die zu schlimm sind, um erfunden zu sein. Vier Bücher mit seinen Sozialreportagen sind bereits erschienen.

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

„Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, prophezeit munter der Zivildienstleistende, der Herrn Lipowschek  in den Krankenwagen hievt. „Davor habe ich Angst“, entgegnet der 86-Jährige. Er zieht heute ins Altersheim.
Autor Bruno Schrep begleitet Herrn Lipowschek. Er ist am Tag des Umzugs dabei, hat ihn vorher in seiner Wohnung besucht und wird ihn später im Heim treffen, wo der alte Mann es „viel schlimmer als befürchtet“ findet, obwohl es objektiv dort viel besser für ihn ist.

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(Foto: Benne Ochs)

Schreps Artikel „Die letzte Station“ erschien 2005 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel und bei Hinz&Kunzt. Herrn Lipowschecks Geschichte und 19 weitere seiner Spiegel-Reportagen hat Schrep 2009 im Sammelband „Nebenan“ veröffentlicht. Die Geschichte vom Umzug ins Altenheim ist die, die Schrep „am meisten beeindruckte“.
Dabei drehen sich andere Erzählungen dieses Bandes um durchaus drastischere Ereignisse: Da ist die 76-jährige Anna D., die ihre schwerst behinderte Tochter nach 52 Jahren Pflege erstickt. Da sind Martina und Elisabeth, die acht- und sechsjährig den Tod ihres Vaters mit ansehen müssen. Und da ist Arne Buckenauer, der – einst erfolgreicher Macher – durch alle sozialen Netze fällt und einsam in einem Zelt stirbt.
Alle Geschichten verbindet für Bruno Schrep, „dass sie vor unseren Augen passieren, eben nebenan“. Der Autor stellt anhand von Einzelschicksalen aktuelle soziale Themen dar und kann für jede seiner Geschichten ein Stichwort nennen: Alter, Sterbehilfe, Vernachlässigung von Kindern, sozialer Abstieg.
Jede Erzählung ist so besonders wie bezeichnend, „im persönlichen Schicksal einzigartig, dabei typisch für eine gesellschaftliche Entwicklung“, so Schrep. Seit 1980 schreibt der gelernte Bankkaufmann für den Spiegel. Für seine Bücher hat der 64-Jährige Artikel aktualisiert und weiter ausgeführt. Anstoß zu den Veröffentlichungen gaben stets Verlage. „Ich freue mich über die Anerkennung“, sagt Schrep. „Ich nehme das als Bestätigung und als Ansporn.“
Wie er selbst zu den Problematiken steht, die er aufzeigt,  lässt Schrep in den Büchern nur dezent durchblicken: „Der Leser soll eine Haltung entwickeln und nicht vorgekaut bekommen, was er für eine zu haben hat.“ Leichter gesagt als getan, denn nicht nur gehen die Schicksale dem Leser gehörig an die Nieren, auch dürfte den meisten ihre Einordnung schwer fallen. Denn Schrep ist kein Schwarz-Weiß-Maler. Hier Opfer, dort Täter, hier Problem, dort Lösung – das gibt es für ihn nicht. „Für mich liegt der Reiz einer Geschichte auch in der Möglichkeit, Vorurteile zu überprüfen und zu hinterfragen.“ Im Klappentext von „Nebenan“ heißt es über Schreps Schilderungen, sie seien karg, nie würde Sentiment ausgestellt. Da widerspricht der Autor: „Unsentimental ist es nicht. Aber es ist doch so: Die Realität ist erschütternder als jede Phrase darüber, wie schrecklich alles ist.“

Beatrice Blank

Lesen Sie weiter!

„Die letzte Station“– Schwerer Abschied: der Umzug vom eigenen Zuhause ins Altersheim. SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep und Fotograf Jörg Modrow begleiteten zwei Hamburger auf ihrem Weg (erschienen in Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)
und
Aufopfern als Lebensinhalt
– „Spiegel“-Reporter Bruno Schrep u ber eine 76-jährige Mutter, die 52 Jahre lang ihre schwerbehinderte Tochter pflegte – und sie dann tötete (erschienen in Hinz&Kunzt 194/April 2009)

„Ohne die Tafel würde ich es nicht schaffen“

Die Idee ist nach wie vor genial: Tafeln sammeln unverkäufliche Lebensmittel und verteilen sie an Bedürftige. Das System der Spenden lindert kurzfristig die Not. Doch es sorgt auch dafür, dass sich der Staat im Kampf gegen die Armut weiter aus der Verantwortung stehlen kann, kritisiert der Soziologe Stefan Selke. Das sieht man bei der Wilhelmsburger Tafel ähnlich – ohne die Tafeln wäre die Armut aber noch größer.
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Der erste Besuch war der schwerste, daran erinnert sich Ida Zepenick* genau. „Ich hab mein ganzes Leben gearbeitet“, sagt die 79-Jährige, „und plötzlich musste ich um Lebensmittel bitten. Das war erniedrigend für mich.“ Die Rentnerin steht zwischen den fünfzig anderen, die an diesem Dienstag geduldig an der Ausgabe der Wilhelmsburger Tafel anstehen. Wie die meisten hier möchte sie ihren Namen nicht in einer Zeitung lesen, auf keinen Fall fotografiert werden. Aus Scham. Der Gang zur Tafel kostet sie noch immer Überwindung. „Aber ich bekomme nur 700 Euro Rente, davon muss ich alles bezahlen“, sagt sie. Trotz ihrer Sparsamkeit sei das fast unmöglich: „Ohne die Tafel würde ich es nicht schaffen.“
Von solchen Sorgen hört Uwe Menzel täglich. Der gelernte Versicherungskaufmann ist seit Oktober 2009 Projektleiter der Wilhelmsburger Tafel, die im Alten Deichhaus am Stübenplatz und an drei Außenstellen Lebensmittel ausgibt. Woche für Woche werden so mehr als 500 Menschen mit dem Nötigsten zum Leben versorgt. Die Tafel wird seit 1994 von der Arbeitsloseninitiative Wilhelmsburg organisiert, die Arbeit vor Ort leisten Ein-Euro-Jobber und Ehrenamtliche. Der Ablauf ist wie bei den meisten Tafeln: Mit Lkws holen die Mitarbeiter Lebensmittel von Supermärkten oder Großhändlern ab, dann werden sie portioniert und verteilt.
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„Seit es Hartz IV gibt, hat sich unsere Kundschaft verändert“, sagt Menzel. „Anfangs hatten wir hier vor allem Migranten, heute kommen Menschen aus allen Schichten zu uns.“ Und die Kunden kommen nicht nur wegen der Lebensmittel: Die Tafel bietet ein günstiges Mittagessen an, zweimal die Woche gibt es eine Sozialberatung. Hier ist ein Treffpunkt, wo es Rat und Austausch gibt. Von dem herzlichen Miteinander profitieren auch die Mitarbeiter. „Unseren Ein-Euro-Jobbern tut es gut, wenn sie wieder eine Aufgabe haben“, weiß Menzel, „viele fühlen sich so wohl, dass sie nach Ablauf ihres Jobs als Ehrenamtliche weitermachen.“
Um 13 Uhr beginnt auf der Rückseite des Alten Deichhauses die Ausgabe. Im Keller liegen die Lebensmittel schon bereit: Brot und Kartoffelsalat, Brokkoli und Tomaten. Jessica Böttcher zieht sich ihre Plastikhandschuhe an. Die 28-jährige Harburgerin bezieht seit drei Jahren Hartz IV und kam auf eigene Initiative als Ein-Euro-Jobberin zur Tafel. Ihre Ausbildung musste sie wegen einer komplizierten Schwangerschaft abbrechen. „Ich arbeite gern hier“, sagt sie, „das Arbeitsklima ist super, wir sind ein tolles Team. Und ich habe eine sinnvolle Aufgabe, ich kann den Bedürftigen wirklich helfen, die haben oft noch weniger als ich.“

Obwohl die Tafeln für ihre Kunden unersetzlich sind, sind sie in den letzten Jahren in die Kritik geraten. Der Soziologe Stefan Selke befürchtet etwa, die Tafeln würden durch ihre Zuverlässigkeit dem Staat die Möglichkeit geben, seine Sozialleistungen weiter zu kürzen. Durch den Boom der Tafeln drohe in Vergessenheit zu geraten, dass ihre Notwendigkeit eigentlich ein Skandal sei (siehe Seite 9). Dieser Kritik stimmt Uwe Menzel im Grundsatz zu. „Der Staat verlässt sich ganz klar auf gemeinnützige Projekte wie die Tafeln“, sagt er. Immer wieder würden Hartz-IV-Empfänger von der Arge zur Wilhelmsburger Tafel geschickt mit dem Hinweis, dort werde man auch mit gekürzten Bezügen satt. „Letztlich können wir von den Tafeln die Armut nicht wirklich bekämpfen“, sagt Menzel. „Wenn diese Gesellschaft den Reichtum anständig verteilen würde, bräuchte es uns nicht zu geben.“
Während Jessica Böttcher und ihre Kolleginnen im Alten Deichhaus die ersten Lebensmittel ausgeben und jeden Kunden mit einem Lächeln begrüßen, steht hinten in der Schlange der Kunden Martin Siemers* und sieht sich nervös um. In seinem Wintermantel, Anzughose, Hemd und Schlips sieht er aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann. „Ich bin das erste Mal hier“, sagt er leise, „Mann, ist mir das unangenehm.“ Der 32-Jährige hat Informatik studiert und sich gerade als Finanzdienstleister selbstständig gemacht. „Die Ausbildung war teuer, die Gewerbeerlaubnis auch, ich muss die Miete für mein Büro bezahlen“, erzählt er. Er steckt jeden Euro in seine Firma, schränkt sich selbst ein. „Aber trotzdem komme ich nicht über die Runden“, sagt er, „darum stehe ich hier.“ Auch wenn es ihm unangenehm ist, schämt er sich nicht, die Lebensmittel anzunehmen: „In der HSH Nordbank wurden gerade Milliarden verpfeffert, die Manager da sollten sich schämen, nicht die armen Leute hier.“

* Name geändert

Was Tafeln leisten können – und was nicht

01HK206_Titel.inddTafelarbeit allein ist keine Armutsbekämpfung, kritisiert der Soziologe Stefan Selke. In Hinz&Kunzt erklärt er, warum die Tafeln aufpassen müssen, dass ihre Zuverlässigkeit nicht vom Staat ausgenutzt wird.

In Zeiten steigender Armut und sinkender sozialstaatlicher Leistungen kommt der Verdacht auf, dass das „System Tafel“ nur ein Symptom sozialer Versäumnisse ist und das Engagement der Tafelhelfer die Einschnitte lediglich abfedert, ohne die Armut nachhaltig zu bekämpfen. Der eigentliche Skandal aber ist die Tatsache, dass durch die Verlässlichkeit der Tafeln immer weniger über Alternativen der Armutsbekämpfung nachgedacht wird. Wie kam es dazu?
Die ursprüngliche Idee der Umverteilung von Überfluss wandelte sich bei den Tafeln zur Prämisse, das Fehlende zu ersetzen. Jetzt etablieren sich Tafeln als Regelangebot in der Armutsversorgung. Sie erschaffen eigene Märkte und parallele gesellschaftliche Strukturen. Die Tafelbewegung ist Ausdruck privater Mildtätigkeit und ersetzt schleichend lang erkämpfte Bürgerrechte. Ihre Entwicklung zeigt beispielhaft, wie Leistungen der Existenzsicherung zunehmend durch Privatpersonen statt vom Staat übernommen werden.
Was Tafeln leisten können, ist erfolgreiche Armutsbewältigung, nicht aber nachhaltige Armutsbekämpfung. Tafeln sind ein Freiwilligensystem, das jederzeit wieder verschwinden kann. Das ist der Unterschied zwischen einem privaten Almosensystem und rechtsstaatlicher Absicherung. Dem Sozialstaatsgedanken liegt die Überzeugung und die Garantie zugrunde, dass jedem Bürger die Teilhabe an materiellen und geistigen Gütern ermöglicht werden soll, damit alle ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Selbstachtung führen können. Das kann von den Tafeln nicht garantiert werden.
Die Hilfe, die bei Tafeln geleistet wird, kann deshalb im engeren Sinne niemals solidarisch sein. Solidarität ist eine Haltung der gegenseitigen Verbundenheit und Unterstützung zwischen gleichgestellten oder gleichgesinnten Personen. Bei Tafeln begegnen sich aber meist Personen mit unterschiedlicher sozialer Stellung. Die Begegnungen sind nicht symmetrisch: Die unterschiedlichen Gesten des Gebens und des Nehmens sind verbunden mit Macht- und Demutserfahrungen. Als pragmatische Hilfseinrichtungen greifen Tafeln erkennbar vor Ort ein. Das ist wichtig und für viele Bedürftige unverzichtbar. Immer aber besteht die Gefahr, dass die Hilfe zum Selbstzweck für die Helfenden wird und die eigentlichen Adressaten aus dem Blick verliert. Die Hilfe bei Tafeln wird dann eine Art „Solidarität mit Pay-back-Funktion“ für die Helfenden.

Prof. Dr. Stefan Selke lehrt Soziologie an der Hochschule Furtwangen University und ist als Autor und Publizist tätig. Er hat das Onlineportal www.tafelforum.de initiiert.

Fette Beute

Wie die Stadt zweifelhaften Vermietern Steuergelder hinterherschmeißt

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Jahrelang hat der Senat tatenlos zugeschaut, wie preiswerter Wohnraum in Hamburg knapp und knapper wird. Die Rechnung zahlen wir alle, mit unseren Steuergeldern, Monat für Monat: Weil die Stadt keine Alternativen hat, überweist sie Mondpreise für Bruchbuden, die als „Wohnungen“ an Hartz-IV-Empfänger vermietet werden. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Nachts hört sie die Ratten trappeln. Die Nager haben sich zwischen den Stockwerken eingenistet in dem Mietshaus in Ottensen, in dem Jana E. seit August vergangenen Jahres wohnt – wohnen muss, wie sie selbst sagt. Dutzende Wohnungen habe sie erfolglos besichtigt, sagt die 34-jährige Hartz-IV-Empfängerin. Schließlich landete sie „Am Sood“. Beim Einzug war die Ein-Zimmer-Wohnung frisch gestrichen, jetzt schimmeln die Wände. Die Badezimmerdecke ist nach einem Wasserschaden notdürftig ausgebessert worden, mit Spanplatten. Eine Heizung hat Jana E. nicht, nur einen Gasofen, für den sie die Gasflaschen eigenhändig in den ersten Stock schleppen muss. Immerhin reicht das Gerät aus, um die knapp 20 Quadratmeter im Winter zu wärmen.

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Foto: Benne Ochs

300 Euro Kaltmiete zahlt die Arge monatlich für die Mini-Wohnung an den Vermieter, die Rauch&Veth GbR aus Berlin. Stolze 15 Euro pro Quadratmeter sind das – noch. Denn Jana E. hat einen Staffelmietvertrag unterschrieben, nach dem sich die Kaltmiete jedes Jahr um 10 Euro erhöht.
Teils marode Unterkünfte zu völlig überzogenen Preisen, bewohnt von Hilfeempfängern, bezahlt vom Amt: Das ist als das „Geschäftsmodell Kuhlmann“ in Hamburg bekannt, seitdem Hinz&Kunzt schon im Herbst 2009 und etliche andere Medien in den vergangenen Wochen über die Kuhlmann Grundstücks GmbH berichteten. Weil die Firma des Hausbesitzers, CDU-Politikers und Rennfahrers Thorsten Kuhlmann offenbar vielfach falsche Quadratmeterangaben in die Mietverträge mit Hartz-IV-Empfängern schrieb, hat die Arge im März Strafanzeige wegen des Verdachts auf Betrug und Mietwucher gestellt.

Sollte sich die Stadt dazu entschließen, nachhaltig gegen den zweifelhaften Vermieter vorzugehen, könnte am Ende eine stattliche Summe zusammenkommen. Für 300 Hartz-IV-Bezieher überweist die Arge Mietzahlungen direkt an die Kuhlmann Grundstücks GmbH. Allein im Namen eines Hilfeempfängers fordert der Mieterverein 5443,74 Euro zurück. Sollte der Vermieter bis Ende März nicht gezahlt haben, wollen die Mieterschützer das zu viel überwiesene  Geld per Klage zurückholen.
Kuhlmann ist aber kein Einzelfall: Es geht um Millionen Euro Steuergelder, die seit Jahren in die Taschen fragwürdiger Vermieter fließen. Dass das mit Wissen und Billigung der Stadt geschieht, legt das Beispiel eines ehemaligen Studentenwohnheims an der Ifflandstraße in Hohenfelde nahe.
Schon 2002 berichteten das Hamburger Abendblatt und Hinz&Kunzt über René D. Zerbe, der bevorzugt an Hilfeempfänger vermietet. Kein Wunder: 287 Euro kalt kassierte seine „Bau-Service-Verwaltung“ schon damals Monat für Monat vom Amt für rund 14 Quadratmeter kleine „City-Appartements“. Die Sozialbehörde kündigte an, das Problem „strukturell“ zu lösen. Tatsächlich unternahm sie nichts.

Fast acht Jahre später bescheren Hilfeempfänger dem Vermieter weiterhin gute Einkünfte. Die Behörde will erneut von nichts gewusst haben: Auf Nachfrage von Hinz&Kunzt erklärt sie Mitte März, der Fall und das Haus seien ihr „nicht bekannt“. Just in diesen Tagen klingeln Mitarbeiter der Arge (angeblich in „enger Abstimmung“ mit der Sozialbehörde) an den Türen der Bewohner, messen Wohnungen aus und sammeln Verträge ein. Ob die dabei gewonnenen Erkenntnisse an die Staatsanwaltschaft übermittelt wurden, wollte Arge-Sprecher Horst Weise nicht verraten: „Wir wollen nicht die Wölfe scheu machen!“

Rückblende: September 2009. Eine Hinz&Kunzt-Verkäuferin kommt in die Redaktion und berichtet von der „Wohnung“, in der sie mit ihrer Freundin und deren Tochter wohnt: ein feuchter Keller am Roßberg in Eilbek, der gar nicht als Wohnung vermietet werden darf. Die im Mietvertrag angegebene Größe: „ca. 70 Quadratmeter“. Hingegen die tatsächliche Größe: 56 Quadratmeter. Die Miete: 720 Euro warm. Der Vermieter: die Kuhlmann Grundstücks GmbH.

Hinz&Kunzt fragt nach. Hört sich bei den Bewohnern des Hauses am Roßberg, fast ausschließlich Hartz-IV-Empfänger, um. Vernimmt Klagen, vermisst einige Wohnungen. Und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen: Wohnungen, die laut Mietvertrag 40 Quadratmeter groß sein sollen, messen tatsächlich nur 21. Der Effekt: Die Kuhlmann Grundstücks GmbH bekommt deutlich mehr Geld als angemessen von der Arge, die die Mieten bezahlt. Die Behörde spielt die Hinz&Kunzt-Recherchen herunter, spricht von „Einzelfällen“ und sieht keinen Anlass, gegen den Vermieter vorzugehen (siehe H&K Nr. 200 und 201).
Das ändert sich erst, als der Fall bundesweit Aufmerksamkeit erregt. Im Februar berichtet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel über das Haus am Roßberg und Kuhlmann. Und in der Folge die Hamburger Morgenpost und mehrere TV-Sender. Was vorher angeblich unmöglich war, macht nun der Pressesprecher der Arge vor laufender Kamera: Die Behörde misst „verdächtige“ Wohnungen aus. Elf Mieter treffen die Amtsmitarbeiter zum Beispiel am Roßberg an. Elf Mal stimmen Mietvertrag und Realität nicht überein.

Dass Kuhlmann und Co. mit ihrem Geschäftsmodell Erfolg haben, hat vor allem einen Grund: Es fehlen Wohnungen für diejenigen, die kaum einer als Mieter haben will. „Wir wüssten nicht, wohin wir die Menschen sonst schicken sollten“, sagt ein Helfer, der die Kuhlmann Grundstücks GmbH mit Kundschaft versorgt. Er will ungenannt bleiben, aus Angst, der Hartz-IV-Vermieter könnte die Zusammenarbeit beenden. „Keine Frage, die Wohnungen sind nicht in gutem Zustand“, sagt er. „Aber die Menschen sind froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.“
Die Arge ließ wissen, ihre Mitarbeiter würden von den Hilfeempfängern oftmals nicht in die Wohnung gelassen. Siegmund Chychla vom Mieterverein hat eine Erklärung: „Der Hartz-IV-Bezieher ist am Ende oft der Dumme.“ Zwar zahlt die Arge Betroffenen die Beiträge für den Mieterverein, damit dieser zu viel gezahlte Gelder eintreiben kann. Doch den Ärger haben im Zweifelsfall die Hilfeempfänger. Viele fürchten den Rausschmiss – auch wenn der rechtlich gar nicht möglich ist. „Wo soll ich dann wohnen?“, sagt ein Kuhlmann-Mieter zu Hinz&Kunzt stellvertretend für viele. „Ich hab ein Jahr nach dieser Wohnung gesucht, vorher auf der Straße gelebt!“ Die Vermieter Kuhlmann, Zerbe und Rauch&Veth GbR ließen Fragen von Hinz&Kunzt bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche der Kuhlmann Grundstücks GmbH. Und die Sozialbehörde prüft, inwieweit Hilfeempfänger ihre etwaigen Mietminderungs- und Rückzahlungsansprüche an die Arge abtreten könnten. Aber warum die Stadt keine bezahlbaren Wohnungen baut, obwohl das Problem der Wuchermieten bei Hartz-IV-Empfängern seit Jahren bekannt ist, erklärte sie nicht.

Zahlt die Arge auch Ihrem Vermieter eine Wuchermiete? Dann melden Sie sich bei uns: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de

Ulrich Jonas, Beatrice Blank