Vor 50 Jahren endete der Vietnamkrieg. An den Spätfolgen leiden die Menschen bis heute. Im Dorf der Freundschaft in Hanoi finden Opfer von „Agent Orange“ Anerkennung, Rehabilitation und Fürsorge.
Auf diesen Tag hat Pham Ti Lu ein halbes Jahrhundert gewartet. Am frühen Morgen ist sie in ihre tannengrüne Ehrenuniform mit den breiten goldgelben Schulterklappen geschlüpft. Andächtig hat sie ihre vier Orden über der linken Brust angesteckt, die schwarzen Haare mit den silbergrauen Strähnen in einem Zopf zurückgebunden, die Kette mit den hellgrünen Jadesteinen um den Hals gelegt. Jetzt tritt sie aus dem imposanten Gebäude auf dem Paradeplatz Ba Dinh im Zentrum von Hanoi heraus, eine kleine, ernsthafte Frau, keine eineinhalb Meter groß, aber stolz und aufrecht wie eine frisch gekrönte Königin. „Ich habe ihn gesehen“, flüstert die 75-jährige Kriegsveteranin. „Endlich.“ Hinter ihr ragt das Ho-Chi-Minh-Mausoleum in den strahlend blauen Hauptstadthimmel der Sozialistischen Republik Vietnam.
Die Bauerntochter Pham Ti Lu meldete sich mit 17 Jahren freiwillig bei der nordvietnamesischen Volksarmee. „Wir jungen Mädchen wollten unser Land gegen die Amerikaner verteidigen“, sagt sie bei einer Trinkpause im Park der Gedenkstätte zu Ehren des Nationalhelden Ho Chi Minh. „Onkel Ho“, wie er im Volksmund genannt wird, rief 1945 die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam aus. 20 Jahre später trat Pham Ti Lu ihren Freiwilligendienst an. Neun Jahre lang sanierte sie die zerbombten Straßen und Wege des Ho-Chi-Minh-Pfades, der die nordvietnamesischen Truppen im Schutz hoher Urwaldbäume mit Nachschub versorgte. Ihre Einheit räumte Minen, Bomben- und Granatsplitter, schleppte Munition und Baumaterial heran, schützte sich in Erdlöchern und Bunkern und ernährte sich von dem, was die Bauern brachten oder was auf den Feldern wuchs.
„Wir wollten unser Land gegen die Amerikaner verteidigen.“
Pham Ti Lu
Dass die Bäume keine Blätter mehr trugen und viele Pflanzen verdorrt waren, als sie 1973 an die hart umkämpfte Front versetzt wurde, wunderte die junge Frau zwar, aber sie dachte nicht weiter darüber nach. „Wir waren mit dem Krieg beschäftigt.“ Kurz darauf wurde Lu schwanger. Ihre Tochter kam 1974 zur Welt. Dass sie „irgendwie anders“ war, hinterfragte die Mutter nicht. Auch dass ihr Mann, ein Soldat, zwei Jahre nach Kriegsende an unbekannter Ursache starb, sie selbst schwer erkrankt mit ihrer dreijährigen Tochter zurück in ihr Heimatdorf ging, dort zwei weitere Kinder mit schweren Behinderungen gebar und ihr neuer Mann, ebenfalls Kriegsveteran, starb, brachte sie nie mit den verdorrten Bäumen in Verbindung.

„Wir dachten, beim nächsten Kind wird alles besser“, murmelt Pham Ti Lu. „Meine jüngere Tochter wäre jetzt 37“, sagt sie mit zittriger Stimme. Die Kleine lernte aber nie gehen oder sprechen. Mit sechs Jahren starb sie an einer schweren Hirnhautentzündung und hohem Fieber. Die ältere Tochter ist heute 49 und mental stark eingeschränkt. Mit vier Jahren hatte sie einen Schlaganfall. Im vergangenen Jahr wurde sie am Gehirn operiert. Ihr Sohn, heute 41, leidet seit seiner Geburt an Haut-, Nasen- und Auffassungsproblemen. Als Kleinkind wurde ihm ein Darmtumor entfernt. Ihre Enkeltochter ist ebenfalls mehrfach behindert.
„Wir hatten keine Ahnung, was mit uns passierte“, sagt Pham Ti Lu am Nachmittag im „Reha- und Versöhnungszentrum Dorf der Freundschaft“. Mit ihrer Kriegsveteranengruppe aus Ninh Binh, rund 100 Kilometer südöstlich von Hanoi, verbringt sie hier drei Wochen zur Erholung. Pham Ti Lu zeigt ein Foto, darauf sechs junge Frauen, kurz bevor sie 1965 in den Krieg zogen, ganz links Lu. „Ich habe mir im Krieg ein Bein gebrochen und einige Zähne verloren“, sagt sie. „Ich dachte, ich hätte Glück gehabt. Die anderen sind bei Bombenangriffen ums Leben gekommen oder später gestorben.“ Frau Lu wischt sich Tränen aus den Augen. „Ich habe nie an mögliche Kriegsfolgen gedacht. Ich dachte, meine Kinder seien einfach krank. Ich brachte das nicht zusammen. Von dem Gift haben wir nichts gewusst.“

Bei dem Gift handelt es sich um das hochtoxische Herbizid „Agent Orange“. Im Vietnamkrieg versprühten die USA und ihre Verbündeten zehn Jahre lang tonnenweise krankheitserregende Entlaubungsmittel über Wälder, Felder und Dörfer, um den Feind zu erkennen und seine Versorgungswege, Verstecke und Ernährungsgrundlagen zu zerstören. In mehr als 6000 Einsätzen ließen sie mindestens 70 Millionen Liter aus dem Himmel regnen, darunter mehr als 45 Millionen Liter Agent Orange. Der Name stammt von den orangefarbenen Banderolen der Fässer, deren Inhalt TCDD (Tetrachlordibenzodioxin) enthielt. Nach Angaben der VAVA, der Vietnamesischen Vereinigung für Opfer von Agent Orange und Dioxin, leiden aktuell drei Millionen Vietnamesinnen und Vietnamesen an den Folgen des giftigsten Dioxins. Laut vietnamesischem Roten Kreuz sind dadurch mehr als 100.000 Kinder mit Behinderungen zur Welt gekommen, inzwischen auch Urenkel der Kriegsgeneration. Die meisten Opfer gehören zu den Ärmsten des Landes. 70 Prozent leben unter der Armutsgrenze, 90 Prozent sind arbeitslos, 22 Prozent der Familien haben drei oder mehr Betroffene. All diese Statistiken treffen auf Frau Lu zu.
„Es ist so schön und friedlich hier.“
Pham Ti Lu
Im Dorf der Freundschaft erhält die mittellose Frau zum ersten Mal in ihrem Leben täglich medizinische Betreuung, Physiotherapie, drei gesunde Mahlzeiten am Tag und so viel frisches Wasser zum Trinken oder Duschen, wie sie möchte. In der sinkenden Nachmittagssonne gießt Frau Lu die Blumenbeete. „Es ist so schön und friedlich hier“, sagt sie. „Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf, da will ich etwas zurückgeben.“ Ihre Zimmerkolleginnen zupfen Unkraut, andere radeln in der Eingangshalle des Veteranenhauses auf Hometrainern und unterhalten sich. Zwischendurch schauen alle den Kindern auf dem Platz beim Spielen zu.
Die „Kinder“ sind 120 Jugendliche und junge Erwachsene mit verschiedensten Behinderungen. Ihre Eltern oder Großeltern kamen im Vietnamkrieg mit Agent Orange in Berührung. Viele Nachkommen sind kleinwüchsig, haben verdrehte Füße und Gelenke, Wasserköpfe und unterschiedlichste Fehlbildungen, das Down-Syndrom oder andere genetische Veränderungen. Sie leiden an Depressionen, Lungenproblemen, Hyperaktivität, Krebs, mentalen Einschränkungen und mehr. Zu Hause in ihren Dörfern sind sie oft ausgestoßen. Im Dorf der Freundschaft finden sie einen Ort der Anerkennung, Rehabilitation und Fürsorge.

„Ich bin dankbar, hier zu sein“, sagt Bin Thi Hoa. Die 33-Jährige fährt auf einem pinkfarbenen Kinderrad mit Stützrädern und Lenkerkörbchen durch das Dorf und grüßt jede und jeden mit einem strahlenden Lächeln und einer winkenden Hand. „Ich bin hier die Älteste“, kichert sie fröhlich. „Alle nennen mich Superoma!“ Normalerweise bleiben die „Kinder“ zwei bis sechs Jahre im Internat. Sie lernen in sonderpädagogischen Schulklassen und Ausbildungskursen fürs Leben, bekommen Reha, Ergotherapie, Massage und psychosoziale Unterstützung. Es gibt Computer- und Kochkurse, Sport und Tanzangebote, eine Schneiderwerkstatt, Webstühle, ein Atelier für künstliche Blumengestecke und einen Gemüsegarten. Die meisten verlassen das Zentrum, wenn sie so weit sind, dass sie halbwegs selbstbestimmt leben können. In Ausnahmefällen bleiben sie auch länger. Wie Bin Thi Hoa.
„Ich möchte nicht zurück in mein Dorf“, sagt die kleinwüchsige, blitzgescheite Frau auf ihrem Zimmer, das sie sich mit zwei anderen teilt. „Für meine Familie bin ich nur eine Last, denn ich kann dort nichts machen.“ Ihr Dorf liegt 450 Kilometer südlich von Hanoi, 100 Kilometer weiter befindet sich die ehemalige und dioxinverseuchte Frontlinie Quang Tri. Ihr Fahrrad steht unten im Flur, die Treppe hat sie sich mühsam heraufgezogen. Frau Hoa kann nicht gehen. Nur krabbelnd kommt sie voran. „Zum Glück hat mir jemand das Fahrrad geschenkt“, sagt sie. „Ich kam mit verkrüppelten Händen und Füßen zur Welt. Später bekam ich einen Buckel, schwere Arthritis und hörte mit einem Meter zehn auf zu wachsen“, erzählt sie. „Die Leute haben mich angestarrt, als sei ich eine Außerirdische. Ich habe mich fürchterlich geschämt und meistens versteckt.“
Nach der Grundschule blieb Hoa im Haus und flocht Strohhüte. Ihre Eltern waren einfache Reisbauern und hatten kein Geld, die weiterführende Schule oder Therapien zu bezahlen. Wie die Kriegsveteranin Pham Ti Lu erfuhren auch ihre Eltern erst im Jahr 2000 die Wahrheit. Das Wissen über Agent Orange entwickelte sich in der abgeschotteten Sozialistischen Republik Vietnam erst nach der wirtschaftlichen und politischen Öffnung Anfang der 1990er-Jahre. Wie andere US-Veteranen wollte der Friedensaktivist George Mizo im Land seines Einsatzes Versöhnungsarbeit leisten. 1998 eröffnete er das Dorf der Freundschaft. Vier Jahre später starb er selbst an den Folgen seiner Flugzeugeinsätze mit Agent Orange. Sein Versöhnungsprojekt besteht aber fort.
Bin Thi Hoa ist im Dorf aufgeblüht, ihre Schmerzen nehmen aber zu. Als Assistenzlehrerin hat sie in der Schneiderei eine Aufgabe gefunden. „Hier bin ich anerkannt“, sagt sie. Mit ihrem Kinderrad fährt sie an Pham Ti Lu vorbei. „Hallo“, ruft Hoa und winkt vergnügt mit ihrer kleinen, verkrüppelten Hand. Die Kriegsveteranin hebt ebenfalls den Arm. Ein schmerzhaftes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Wenn ich diese Kinder sehe, bin ich einfach nur traurig“, sagt sie. „Ich habe für mein Land gekämpft und habe es nie bereut. Jetzt sehe ich die Folgen.“ Und sie ergänzt: „Immerhin trage ich keine Schuld.“