Straßenfußball

Auf eigenen Füßen

Straßenfußball-Turnier auf dem Hamburger Spielbudenplatz, 2014: Damals kämpften acht Teams aus der Wohnungslosen-, Sucht- und Flüchtlingshilfe sowie die Rathaus­kicker um den Titel. Foto: Mauricio Bustamante

Vom 13. bis 15. Oktober findet in Hamburg die Deutsche Meisterschaft im Straßenfußball für Wohnungslose statt. Von der Kraft des Kickens für Menschen, die sonst wenig Schönes erleben.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Über die Frage, was er den Turnier-Teilnehmenden gerne als Botschaft mit auf den Weg geben möchte, muss Manuel Timmermann nicht lange nachdenken. Straßenfußball, sagt er, „kann einem richtig viel geben: vor allem Zusammenhalt, das kann man fast mit ‚Familie‘ beschreiben.“ Ein wertvolles, manchmal sogar über­lebenswichtiges Gefühl sei das für sie alle, die eher am Rande der Gesellschaft leben: „Man wird da als Mensch ja nicht so gerne angeschaut – und oft ganz übersehen.“ 

Timmermann, ehemaliger Nationalspieler im Straßenfußball und mittlerweile in Wilhelmsburg zu Hause, freut sich deshalb sehr auf die Aufgabe, die vor ihm liegt. Er wird in der Turnierleitung sitzen, wenn vom 13. bis zum 15. Oktober auf dem grauen Pflaster des Harald-Stender-Platzes vor dem Millerntor-Stadion die Meisterschaft im Straßenfußball ausgetragen wird. 16 Teams aus ganz Deutschland werden dann erstmals seit vier Jahren – Corona sei Undank – wieder um den Titel kämpfen. Ausgerichtet wird die Meisterschaft, mit Unterstützung des FC St. Pauli, vom Verein „Anstoß!“, der in Kiel sitzt und im Untertitel die Bezeichnung „Bundes­vereinigung für soziale Integration durch Sport“ führt. Die letzten Titelkämpfe fanden 2019 im bayerischen Herzogsägmühle statt, einer 1894 gegründeten Arbeiterkolonie 80 Kilometer südlich von München, die heute eine soziale Einrichtung der Diakonie Oberbayern ist, damals das Meisterteam stellte und in Hamburg wieder antritt. Bestes Hamburger Team auf Platz sieben: die Mannschaft des Diakonischen Werks Hamburg, seinerzeit betreut von Johan Graßhoff. Der langjährige Wandsbeker und frischgebackene Neuallermöher sitzt inzwischen nicht nur im Vorstand von „Anstoß!“, sondern amtiert mittlerweile auch als Bundestrainer der deutschen Straßenfußballer:innen.

Zum Gespräch verabredet sich Graßhoff auf einem Kinderspielplatz. Der 35-Jährige ist gerade in Elternzeit, ansonsten arbeitet er auf einer Teilzeitstelle als Straßensozialarbeiter für obdachlose Menschen bei der Diakonie. Zuerst will er uns mit den Besonderheiten des Straßenfußballs vertraut machen. Teilnehmen dürfen Teams mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen, gemeldet über die jeweiligen Einrichtungen: Die Wohnungslosen­hilfen stellen ebenso Mannschaften wie Straffälligen- oder Therapiehilfen, stark im Kommen sind Teams aus der Geflüchtetenhilfe. Das entscheidende Kriterium jedoch, das alle Teilnehmenden eint, ist Wohnungslosigkeit in einem eng gesetzten Zeitrahmen. In Hamburg gebe es „eine Handvoll Mannschaften“ – etwa das Team der „rue66“, einer Eingliederungshilfe für Wohnungslose mit Sitz in der Wandsbeker Zollstraße. Trainiert werde häufig erst direkt auf Ereignisse hin, die Teilnehmendenzahlen seien sehr unregelmäßig. Wohnungslose Menschen, weiß Graßhoff aus eigenem ­Erleben, hätten häufig einen erstaunlich strukturierten Tagesablauf, in den sich regelmäßiger Sport schwer integrieren lasse. Bei seinem Arbeit­geber habe er früher regelmäßig einen Freitags-Fußballtermin angeboten, „aber seit ich in Elternzeit bin, ist das leider ein bisschen eingeschlafen“.

Zum Straßenfußball gekommen ist Graßhoff, der in Hamburg früher selbst für den Post SV, den Walddörfer SV und den SC Sperber kickte, durch sein Freiwilliges Soziales Jahr, das er nach dem Abitur 2007 in St. Petersburg absolvierte. Dort half er einem Obdachlosenteam und blieb auch nach seiner Rückkehr ein Teil dessen, spielte für die St. Petersburger mit einer Ausnahmegenehmigung Turniere in Russland, Polen, Litauen und Finnland und startete bei den „World Championships Street Soccer“ in Djakarta sogar für die russische Nationalmannschaft. Der Straßenkick, sagt Graßhoff, verbinde mehrere positive Effekte: Zum einen sei es „eine gelungene Mischung aus Sport und Sozialem“, man könne zudem dank der Öffentlichkeit der Turniere „gut gegen Vorurteile, Diskriminierung und Stigmatisierung ankämpfen“. Und – ganz wichtig für die Teilnehmenden – auch „einfach mal ein oder zwei Tage vergessen, was sonst der persönliche Hintergrund ist, und ’ne schöne Zeit zusammen verbringen“. Sein aktueller Traum: eine „Europameisterschaft“ im Straßenfußball im Sommer 2024 hier in Hamburg, parallel zur „großen“ EM in Deutschland. Mit der Hamburger Innenbehörde, die zur EM einen Ideenwettbewerb startet, soll über eine mögliche Finanzierung gesprochen werden.

Die international geltenden Spielregeln weisen einige Besonderheiten auf. Zum einen ist das rundum bebandete Spielfeld mit 16 mal 22 Metern konditionsfreundlich klein und erinnert an Käfig-Bolzplätze, wie sie in ­vielen Stadtvierteln zu finden sind. Die Tore sind mit vier Metern Breite und nur 1,20 Meter Höhe ungewöhnlich niedrig zugeschnitten. Gespielt wird mit je drei Feldspieler:innen und ­einem Torwart, wobei nur zwei Spielende verteidigen dürfen, eine:r muss ­immer „vorne“ bleiben. Das sorgt laut Manuel Timmermann für eine veränderte Spielwahrnehmung auf dem Platz: „Verteidigen ist harte Arbeit, im Angriff kann man den Ball lange halten und sich dabei ausruhen.“

HSV-Fan Timmermann ist bestes Beispiel dafür, welch positive Energie der Straßenfußball freisetzen kann, um den Weg vom Rand der Gesellschaft zurück in ihre Mitte zu finden. Der gebürtige Dithmarscher und langjährige Kicker der SG Geest 05 ist ein symphatisch-offener Typ. Über zehn Jahre, erzählt er, steckte er in einer sich peu à peu steigernden Drogensucht fest – zunächst nach Cannabis, später auch nach Kokain. Im Frühjahr 2022 begann er, nach einer Zeit der Wohnungslosigkeit und über zwei Jahre ohne festen Wohnsitz, eine Sucht-Reha in einer Spezialeinrichtung in Bremen. Zu der gehörte auch ein Straßenfußballteam. Timmermann entdeckte dort die kindliche ­Liebe zu seinem Sport neu.

Bei einem Turnier in Hamburg im Mai 2022 fiel der begabte Straßen­kicker auch dem Bundestrainer auf. Der ­stellte ihm eine Nominierung fürs ­Nationalteam und den „Homeless World Cup“ später im Jahr in Sacramento in den USA in Aussicht. „Das war ein unheimlicher Ansporn, clean zu bleiben, da wollte ich unbedingt mit“, erzählt Timmermann. Und der amerikanische Traum erfüllte sich für ihn tatsächlich, wenn auch durch die coronabedingte Verschiebung des Turniers erst in diesem Sommer. Im Juli startete er mit seinen Teamkolleg:innen – auch eine Frau spielte mit, es gibt im Straßenfußball aber nur wenige von ihnen – beim Turnier in Kalifornien. „Team Germany“ belegte Platz 26 von 28 Mannschaften.

Gewonnen hat Manuel Timmermann trotzdem – nämlich sein Leben zurück. Nach dem Ende der Reha kehrte er nicht mehr in sein altes Umfeld zurück, ­sondern lebt heute mit seiner Freundin in einer gemeinsamen Wohnung und macht eine Umschulung zum Tischler. Fußball spielt er immer noch – aber nicht mehr auf der Straße, sondern seit diesem Sommer wieder im Verein, in der 2. Mannschaft bei Croatia Hamburg: „So eine Mannschaftskabine kann einem unglaublich Kraft geben.“ Die Sucht scheint also fürs Erste bezwungen, aber sie bleibt für Manuel ein gefähr­licher Gegner: „Im Endeffekt leide ich da immer noch drunter, es ist ein täglicher Kampf.“ Den auf Dauer zu gewinnen, das wäre mit Sicherheit der größte Sieg.

Artikel aus der Ausgabe:

Nächster Halt: Gefängnis

Wegen Schwarzfahren in Haft? Tausende landen in Deutschland jedes Jahr im Gefängnis, weil sie sich kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr leisten konnten. Wir haben mit einem ehemaligen Häftling und einem ehemaligen Gefängnisleiter über die sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen gesprochen.

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Autor:in
Jochen Harberg
Seit über 40 Jahren im Traumberuf schreibender Journalist, arbeitete festangestellt u. a. für Stern und Welt am Sonntag. Seit 2019 mit großer Freude im Team von Hinz&Kunzt.

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