Hamburg hat ein neues Museum: Es sammelt Geschichten von früher und heute. Jeder Hamburger und jede Hamburgerin ist aufgerufen mitzumachen.
(aus Hinz&Kunzt 253/März 2014)
Helmut Sander hat eine warme, angenehme Stimme. Man merkt sofort, dass ihm das Erzählen von Geschichten liegt. Der langjährige geschäftsführende Direktor der Stiftung der Hamburgischen Museen ist der Premierengast im neuen „Museum für Hamburgische Geschichtchen“, das in der sogenannten Millerntorwache auf St. Pauli untergebracht ist. Die Geschichte, die er erzählt, während er gefilmt wird, führt zurück in den Februar 1962: Sander ist da gerade 13 Jahre alt, er wohnt mit seinen Eltern in Finkenwerder, seit Tagen ist der Sturm über den Ortsteil hinweggebraust und nun – erzählt Sander – schaut die Nachbarin des Nachts aus dem Fenster und sieht, dass der Garten komplett unter Wasser steht. Eine Geschichte zur Hamburger Sturmflut entspinnt sich so, aber auch ein ganz persönlicher Bericht aus dem Leben von Helmut Sander. Denn in der Wohnung, die langsam vollläuft, bleibt ein Harmonium zurück, das ihm seine Eltern geschenkt haben, hatte seine Mutter doch einen großen Wunsch: Ihr Sohn möge bitte ein Instrument lernen!
„Ich hab aber lieber gelesen, hab lieber draußen gespielt statt zu üben und ich hab gemerkt, wie meine Mutter darüber immer trauriger wurde“, erzählt er. Nun, wo sie im obersten Stockwerk auf Hilfe warten, wo sie hören, wie unter ihnen die schwimmenden Möbel gegen die Wände bollern, tätigt Helmut Sander einen Schwur: „Sollte das Harmonium heil bleiben, fange ich an zu üben.“
Helmut Sander sitzt auf einem gemütlichen, grünen Sofa, ihm gegenüber sitzt Line Kippes. Die 34-jährige Volkskundlerin hat sich sofort gemeldet, als sie erfuhr, dass für das neue Museum nicht nur Geschichtenerzähler, sondern auch die dazu passenden Moderatoren gesucht werden. Sie muss an diesem Vormittag nicht einmal das Gespräch lenken, nicht einmal nachfragen: Helmut Sander erzählt gradlinig und packend, in welchem Zustand seine Eltern später ihre Wohnung vorfanden und wie er anschließend für drei Wochen nach Bayern verschickt wurde, dort zum ersten Mal in seinem Leben die Berge sah und hin und weg war. Und er hat zum Gespräch seinen älteren Bruder mitgebracht, der das eine und andere Detail ergänzt, und er hat eben jenes Harmonium mitgebracht, denn es hat die Flut überstanden, und Sander hat sein Versprechen gehalten.
Weshalb es wunderbar passt, dass er zum Schluss ein paar sanft-melancholische Takte spielt. „Na, haben Sie das erkannt?“, fragt er. „Richtig: ‚Ich bete an die Kraft der Liebe‘, ein altes Kirchenlied. Völlig aufgeregt habe ich das als dann 14-Jähriger zu Weihnachten 1962 in unserer Kirchengemeinde gespielt; geschwitzt und gezittert habe ich, aber ich habe es ganz gut hingekriegt.“
Solche Geschichten sucht das neue Museum. Gesucht werden aber auch Erzählungen von heute. „Ich fände es spannend, was etwa ein heutiger Schüler zur Ganztagsschule sagt, damit wir uns in 30 Jahren anhören können, wie es war, als die Ganztagsschule zur Regel wurde“, sagt Line Kappes. Ob lange her oder frisch erlebt – alle Gespräche werden auf Video aufgezeichnet, gegebenenfalls hinterher bearbeitet und geschnitten.
„Die Geschichten, von denen die Menschen denken: ‚Ach, das ist doch nicht so wichtig!‘, das sind oft die spannendsten.“
Geplant ist, dass die Gespräche nacheinander einen Platz auf der Homepage des Hamburg Museums finden, zu dem die Millerntorwache gehört. Finanziert hat die Renovierung des Hauses die Alfred Töpfer Stiftung; die Moderatoren arbeiten alle ehrenamtlich. Und wirklich jeder Hamburger und jede Hamburgerin ist aufgerufen vorbeizukommen, einen Gesprächstermin zu vereinbaren, um ohne Scheu seine Geschichten zu erzählen. Line Kappes sagt: „Die Geschichten, von denen die Menschen denken: ‚Ach, das ist doch nicht so wichtig!‘, das sind oft die spannendsten.“
An Interesse aus dem Stadtteil mangelt es nicht: Eine 82-jährige St. Paulianerin hat kürzlich reingeschaut, die gerne etwas über ihre Kindheit auf St. Pauli erzählen möchte. „Die Leute sitzen kaum auf unserem grünen Sofa, schon fangen sie an zu erzählen“, beschreibt Kippes die Wirkung des Hauses, das im 17. Jahrhundert Teil der Befestigungsanlage Hamburgs war. Erzählt hat auch schon der ehemalige Diakonieleiter Stephan Reimers – über die Entstehung von Hinz&Kunzt.
Dieses Museum ist ein Geschenk an die Stadt Hamburg
Zwei Jahre lang wird die Töpfer-Stiftung neben der Miete, den Heizkosten auch die Kosten für die Technik sowie die eine und andere Kanne frisch gebrühten Kaffees finanzieren. Und dann? Diese Frage beschäftigt Line Kippes: „Ist vielleicht komisch, dass ich schon so weit im Voraus denke, aber es wäre doch schade, wenn zu den Geschichten, die wir jetzt anfangen zu sammeln, dann nicht weitere hinzukommen könnten“, sagt sie.
Und so sollte sich die Stadt Hamburg schon mal überlegen, wie das junge, alte Haus zukünftig gesichert wird. Denn dieses Museum ist ein Geschenk an die Stadt Hamburg und es sollte diese verpflichten, damit pfleglich umzugehen.
Text: Frank Keil
Foto: Dmitrij Leltschuk
Das Museum für Hamburgische Geschichtchen ist Montag und Mittwoch von 10 bis 14 Uhr geöffnet sowie nach Vereinbarung. Kontakt: Ricarda Luthe, Tel 334 02 16, luthe@toepfer-fvs.de, www.millerntorwache.org.
Das Video einer Erzählung von Stephan Reimers ist zu sehen unter: www.huklink.de/mfhg
Text: Frank Keil
Foto: Dmitrij Leltschuk
Das Museum für Hamburgische Geschichtchen ist Montag und Mittwoch von 10 bis 14 Uhr geöffnet sowie nach Vereinbarung. Kontakt: Ricarda Luthe, Tel 334 02 16, luthe@toepfer-fvs.de, www.millerntorwache.org.
Das Video einer Erzählung von Stephan Reimers ist zu sehen unter: www.huklink.de/mfhg