Was geschieht mit Menschen, wenn sie sich ums Geld keine Sorgen mehr machen müssen? Ein Berliner Projekt will das herausfinden und verlost bedingungslose Grundeinkommen. Astrid Lobreyer ist eine der Gewinnerinnen.
Als das neue Leben beginnt, liegt Astrid Lobreyer erschöpft in der Badewanne. Es ist Abend, der Tag war anstrengend, und dass sie sich um ein Grundeinkommen beworben hat, hat die 52-Jährige in diesem Moment vergessen. Als sie aus der Wanne steigt, klingelt das Telefon. Eine nicht-internetgeübte Freundin bittet sie, in ihrem Namen eine E-Mail zu verschicken. Astrid Lobreyer lässt ihren Computer hochfahren. Auf einmal fällt ihr ein: Heute war doch die Verlosung! Ein paar Klicks später hat sie Gewissheit. Sie hat gewonnen.
„Was würde passieren, wenn Du plötzlich Grundeinkommen hättest?“ Seit August 2014 stellt der Berliner Michael Bohmeyer auf der Webseite „mein-grundeinkommen.de“ diese Frage. Sein Grundgedanke ist: Niemand kennt die Antwort wirklich. Und weil das so ist, muss man es ausprobieren. Also hat der 31-Jährige ein einzigartiges Experiment gestartet: Bohmeyer sammelt Spenden ein von Menschen, die diese Frage so bewegt wie ihn, und verlost mithilfe des Geldes Grundeinkommen.
Grundeinkommen weltweit
Astrid Lobreyer hat an jenem Abend im November vergangenen Jahres erst mal eine Freundin angerufen. „Nach dem Freudentanz, den wir am Telefon veranstaltet haben, konnte ich wieder unter die Dusche gehen“, erzählt die Bad Oldesloerin. Es gibt wohl wenige Menschen, denen man den Gewinn so gönnt wie ihr: Drei Kinder hat sie alleine großgezogen, nachdem ihre Ehe mit einem Seemann in die Brüche ging. Vormittags arbeitet sie im örtlichen Frauenzentrum als Mädchen für alles, nachmittags und an den Wochenenden bessert sie ihr Einkommen als Selbstständige auf: Astrid Lobreyer lehrt Alexander-Technik, eine von einem australischen Schauspieler erfundene Methode, die Körperwahrnehmung zu stärken. Deren Ausgangsfrage beschreibt sie so: „Wie fühlt sich das an, wenn ich richtig auf meinen Füßen stehe?“
„Die ständigen Existenzängste haben mich fertiggemacht.“
Am Morgen nach dem Gewinn zieht Astrid Lobreyers jüngste Tochter aus, die 18-Jährige studiert in Berlin. „Da konnte ich sie und ihre Freunde endlich mal zum Essen ausführen. Das wäre ohne Grundeinkommen nicht gegangen.“ Das Leben fühlt sich auf einmal leichter an: Ihrem Sohn kann sie ein teures Fachbuch über Stadtsoziologie zu Weihnachten schenken, das er sich so sehr gewünscht hat. Nachbarn und Freunde lädt sie zu einem Fest ein, nun kann sie „endlich mal Gastgeberin sein“. Das Geld für die teure Autoreparatur muss sie sich nicht wie sonst leihen. Und sie kauft sich eine neue Brille. Nach 18 Jahren.
Als Hinz&Kunzt sie im Januar das erste Mal trifft, sagt Astrid Lobreyer mit einem Strahlen in den Augen: „Ich fahre ein bisschen hochtourig. Sehe Möglichkeiten, die ich vorher nicht hatte. Das ist aufregend!“ Sie hat eine Fortbildung zur Trauerrednerin gebucht, will sich so ein neues Standbein aufbauen: „Das ist ein Wunsch, den ich seit sieben Jahren mit mir rumtrage.“ Um ihre Gesundheit will sie sich kümmern. Seit Jahren leidet sie an starken Rückenschmerzen, „die machen mich wahnsinnig“. Eine Odyssee durch die Schulmedizin hat sie hinter sich, nun soll eine Heilpraktikerin helfen. Und den Katamaran-Segelschein will sie machen. Schließlich hat sie vor Jahren, als sie mit ihrem Ex-Mann auf einer Südsee-Insel lebte, das Segeln lieben gelernt. Sie spüre mit dem Geld „eine andere Sicherheit“, sagt Astrid Lobreyer. „Die ständigen Existenzängste haben mich fertiggemacht.“
Auf der Internetseite des Projekts lässt sich nachlesen, wie ein Grundeinkommen Menschen bewegen kann: Der Callcenter-Agent kündigt seinen Job und studiert Pädagogik. Die Rentnerin plant eine Reise, die ihr Sohn sich schon so lange wünscht. Und der Softwareentwickler, zufrieden mit Arbeit und Leben, kauft einen 3D-Drucker, um Kinder und Jugendliche mit der neuen Technik vertraut zu machen.
April 2016. Astrid Lobreyer hat sich zur Trauerrednerin fortbilden lassen und sagt zufrieden: „Das Rüstzeug habe ich mitbekommen.“ Bald wird sie sich bei einem Bestatter vorstellen, den sie kürzlich angesprochen hat. „Dann wollen wir schauen, wie das gehen kann.“ Die Schmerzen quälen sie deutlich weniger. Haben die Mittel der Heilpraktikerin geholfen? Oder liegt es „an der Euphorie, diesen Glückshormonen, daran, dass ich mich handlungsfähiger fühle“? Astrid Lobreyer weiß es nicht. Es ist auch nicht wichtig. Sie fahre immer noch hochtourig, sagt sie, müsse nun „verstärkt darauf achten, dass ich Ruhephasen habe“.
Sie sucht wieder eine Fortbildung und hat ein neues Fahrrad gekauft. Um den Segelschein hat sie sich noch nicht gekümmert. Und ab und an denkt sie neuerdings daran, dass ihr Jahr Grundeinkommen im Dezember enden wird. Spürt die Angst vor dem Druck, dem Mangel. Sie sucht dann nach den anderen Gefühlen in sich: „Die Euphorie, die Entspanntheit sind das viel größere Geschenk.“
In Hamburg laden Aktivisten und Wachstumskritiker am 19. und 20. Mai zu einer Konferenz unter dem Titel „Grundeinkommen und Degrowth“ ein. Mehr Infos unter https://ubi-degrowth.eu/de
Text: Ulrich Jonas
Foto: Mauricio Bustamante