In Schweden wird weltweit am wenigsten Bargeld genutzt. Was bedeutet das für Menschen, die auf Almosen angewiesen sind? Ein Ortsbesuch in Göteborg.
Vasile ist müde. Auf eine Krücke gestützt humpelt der 60-Jährige durch den Göteborger Hauptbahnhof. Ab und an kann er aus einem Mülleimer eine Pfanddose herausfischen. Für jede Dose bekommt er eine schwedische Krone – gerade einmal neun Cent. Der Rumäne geht auf eine Gruppe Reisender zu und bittet sie um Kleingeld. Sie hätten nichts Bares, sagt einer von ihnen. Vasile nickt, als habe er die Antwort erwartet, und zeigt auf ein Schild mit der Aufschrift „Bankomat“ ein paar Meter hinter ihm. Er weiß genau, wo die letzten elf Geldautomaten im Göteborger Zentrum stehen. Die Gruppe hat jedoch wenig Lust, extra für Vasile Geld abzuheben.
Der Obdachlose tritt aus dem Bahnhof in die graue Suppe des schwedischen Winters. Er humpelt in die gegenüberliegende Unterführung. Hier lässt er sich auf seinen Schlafplatz sinken: zwei Kissen, eine dünne Stoffdecke. Er beginnt, die Münzen in seinem Becher zu zählen. Acht Kronen – umgerechnet knapp 70 Cent. Vasile seufzt. „Es wird immer weniger“, erklärt er mithilfe einer Übersetzungsapp.
Schweden gilt als Vorreiter der bargeldlosen Gesellschaft. Die Zentralbank betonte jedoch in ihrem aktuellen Zahlungsbericht 2024, dass Bargeld unverzichtbar sei. Stromausfälle und Cyberangriffe würden digitales Bezahlen verwundbar machen. Laut dem Bericht erfolgen mittlerweile mehr als 80 Prozent aller Transaktionen digital – per Karte oder mit der App „Swish“. Mit der lässt sich in Echtzeit Geld überweisen – anders als bei Paypal direkt aufs Konto. Mehr als acht Millionen Schwed:innen nutzen Swish. 2012 wurde die App von den Banken entwickelt. Doch nicht alle können sie verwenden – nur wer ein schwedisches Konto und eine Telefonnummer besitzt.

Für Menschen wie Vasile ist das eine unüberwindbare Hürde. Um ein Konto zu eröffnen, braucht er eine Koordinierungsnummer von der Steuer- und Meldebehörde. Die bekommt er jedoch nur, wenn er einen Arbeitsvertrag und eine Meldeadresse vorweisen kann. Wegen fehlender Sprachkenntnisse und seinem schlechten Gesundheitszustand fand er jedoch keinen Job, sagt er. Seine Hoffnung, in Schweden ein besseres Leben haben zu können, zerplatzte.
„Es wäre leichter für mich, wenn ich Swish hätte“, sagt Vasile. Er steht auf und greift nach der Tüte mit den Getränkedosen. Wenigstens im Supermarkt bekommt er noch Geld bar auf die Hand, wenn er das Pfand abgibt.
Doch das nützt ihm nicht überall etwas. Schilder mit der Aufschrift „Vi tar ej emot kontanter“, auf Deutsch: „Wir akzeptieren kein Bargeld“, gehören zum Stadtbild. Die meisten Cafés, Bäckereien, Restaurants und Klamottenläden nehmen ausschließlich Karte, Apple- und Google Pay oder Swish an. Tickets für Busse und Straßenbahnen bekommt man bei Barzahlung nur noch in ein paar Läden. Große Supermarktketten und die Busunternehmen, die Fahrten ins EU-Ausland wie Rumänien anbieten, gehören zu den wenigen, die noch Bargeld akzeptieren.
Die Stadt erfasst nicht alle Menschen, die auf Göteborgs Straßen gestrandet sind. Laut Stadtverwaltung lebten vergangenes Jahr 276 Erwachsene und 130 Kinder mit Sozialleistungsansprüchen in Notunterkünften oder obdachlos in Göteborg. Ausländer:innen ohne Ansprüche, etwa aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, werden nicht gezählt. Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Vor vielen Supermärkten oder an Straßenbahnhaltestellen sitzen Bettler:innen – die meisten stammen aus Osteuropa.
Eine von ihnen ist Lilica. Sie bettelt vor einem Alkoholgeschäft an einer belebten Hauptstraße. Die 45-Jährige ist seit zehn Jahren in Göteborg, um Geld für ihre drei Töchter zu verdienen. Ihr geht es ähnlich wie Vasile am Hauptbahnhof. „Die Menschen sagen immer das Gleiche: ‚Sorry, kein Bargeld‘“, erklärt sie.
„Alle sagen: ‚Sorry, kein Bargeld.‘“
Bettlerin Lilica
Auch Lilica weiß genau, wo der nächste Bankautomat steht. „Aber da geht niemand extra hin.“ Wenn ihr jemand Bargeld in ihren Becher werfe, seien das ältere Menschen. Die hätten manchmal noch etwas dabei.
Lilica schläft in einer Notunterkunft der „Räddningsmissionen“, einer Göteborger Hilfseinrichtung, die von der Stadt bezuschusst wird. Die Unterkunft bietet im Winter 70 Betten für Menschen, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Das restliche Jahr über sind es 50 Betten, meist in Viererzimmer unterteilt. Das Prinzip ist ähnlich wie im Hamburger Winternotprogramm: Tagsüber müssen die Menschen die Unterkunft verlassen.
Morgens trifft sich Lilica mit Bekannten bei einer Frühstücksausgabe, zehn Gehminuten von dem Alkoholgeschäft entfernt, vor dem sie tagsüber bettelt. In der Sozialeinrichtung kennt man sich. 30 Menschen sitzen an diesem Morgen Anfang Februar auf Sofas und um kleine Tische herum. Sie essen, unterhalten sich. Manche kommen, um Wäsche zu waschen, zu duschen oder um nach warmer Kleidung zu fragen. An einigen Tischen sitzen Sozialarbeiter:innen. Sie helfen bei Problemen mit Handys oder Fragen zu Papieren. Einer von ihnen ist Cristian Timiras.
Der 45-jährige Sozialarbeiter beobachtet schon länger, dass es Bettler:innen schwerer haben. Es frustriert ihn, dass es vielen seiner Gäste schwer gemacht wird, ein Bankkonto zu eröffnen. Cristian ist sich sicher: „Dass hier das Bargeld immer weiter abgeschafft wird, ist der Hauptgrund dafür, dass bettelnde Menschen Schweden verlassen.“
Das schwedische Institut für Menschenrechte betont in seinem Jahresbericht 2024, dass Migrant:innen und Obdachlose ausgegrenzt werden, da sie häufig kein Bankkonto eröffnen können. Sozialarbeiter Cristian vermisst eine politische Debatte. Die werde nicht geführt. „Zur Frage steht jetzt, ob Schweden bettelnde Menschen überhaupt hier haben will“, sagt er. Die schwedische Minderheitsregierung schlägt nämlich, unterstützt von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, einen noch härteren Kurs ein: Sie hat einen Sonderermittler beauftragt, der ein landesweites Bettelverbot prüft.
Lilica und viele andere Gäste der Frühstücksausgabe haben Sozialarbeiter Cristian schon vor ein paar Jahren gefragt, ob es nicht irgendeine Möglichkeit für sie gebe, einen „Swish“-Account zu bekommen, sagt er. Die meisten hätten das aufgegeben, weil sie akzeptieren mussten, dass es ohne Job nicht geht.
Einige Ausgeschlossene können sich gegenseitig helfen: Cristian kennt eine Rumänin, die einen Job als Reinigungskraft bekommen hat. Es habe mehrere Wochen gedauert, bis sie eine Koordinierungsnummer erhalten hat und ein Bankkonto eröffnen konnte. Jetzt habe sie auch die Bezahlapp. Die Swish-Nummer verleihe sie nun an ihre Schwester, die noch betteln müsse. Die könne Passant:innen die Nummer zeigen und an diese Nummer können ihr die Menschen Geld „swishen“. Sie selbst habe keinen eigenen Zugang und bleibe auf die berufstätige Schwester angewiesen, die ihr das Geld in bar auszahlen muss. So wie diese Geschwister würden einige vorgehen, erzählt Cristian. Doch sie seien die Ausnahme, da die meisten Osteuropäer:innen keinen Job finden und entsprechend keine Swish-Nummer weitergeben könnten, sagt der Sozialarbeiter.
Zehn Straßenbahnminuten von der Räddningsmissionen entfernt hat das Göteborger Straßenmagazin „Faktum“ seinen Sitz. An diesem Montagmittag ist es ruhig in den hellen Geschäftsräumen. Menschen wie Vasile und Lilica trifft man hier nicht an: Ihr Englisch oder Schwedisch reicht zum Verkauf des Magazins nicht aus. Dafür kommt Lakos die Treppe des Eingangsbereichs hoch. Der Magazinverkäufer reibt seine Hände aneinander, um sie zu wärmen. Sie sind blau von der Kälte. Vertriebsleiter Christian Jansson steht hinter dem Verkaufstresen und begrüßt ihn.

Um den Hals trägt Lakos zwei laminierte Karten: seinen Verkaufsausweis und einen QR-Code. Der ist für Swish, erklärt der Obdachlose in gebrochenem Englisch. Seit acht Jahren hat das Straßenmagazin eine Swish-Nummer für die Verkaufenden. Die Kund:innen geben beim Magazinkauf die Verkäufer:innennummer in einem Textfeld in der App an. So weiß Faktum, wessen Geld auf seinem Konto eingeht. Das Straßenmagazin zahlt den Verkaufenden das Geld in bar aus.
Der Faktum-Vertriebsleiter ist zufrieden mit dem Magazinverkauf über Swish. Bereits vor 14 Jahren hatte das Straßenmagazin angefangen, an einem bargeldlosen System zu tüfteln: 2011 führte es eine erste App ein, einige Verkäufer:innen seien auch mit Kartenlesegeräten unterwegs gewesen. Doch nichts habe gut funktioniert. „Swish ist einfach“, sagt Christian. „Das nutzt inzwischen jeder hier. Alle wissen, wie es läuft.“ Er ist sich sicher: „Hätten wir kein Swish, gäbe es uns nicht mehr.“
Doch die digitale Bezahlmethode hat auch ihre Tücken. Anders als bei Privatnutzer:innen nimmt die Bank auch von Sozialunternehmen wie Faktum für jede Swish-Transaktion eine Gebühr. Faktum hat eine besondere Vereinbarung mit der Bank und zahlt bislang nur ein Drittel der üblichen 2,50 Kronen, umgerechnet 22 Cent. Christian hat jedoch Angst, dass sie steigen könnte. Zudem werde es für Faktum immer schwieriger und teurer, an das Bargeld zu kommen, das sie den Verkäufer:innen auszahlen. Denn in Schweden gibt es nur noch eine Transportfirma, die Geschäfte und Unternehmen mit Bargeld beliefert.
„Ohne ,Swish‘ gäbe es uns nicht mehr.“
Faktum-Vertriebsleiter Christian Jansson
Für die meisten Schwed:innen ist es völlig normal, kein Bargeld mehr zu besitzen. „Manchmal fühle ich mich wie ein Arschloch, wenn ich Bettelnden nichts geben kann“, sagt Faktum-Vertriebsleiter Christian. „Unsere bargeldlose Gesellschaft schließt auf jeden Fall Menschen aus.“
Das findet auch Johanna Bergmann. Die 58-jährige Schwedin verleiht deshalb seit sechs Jahren ihre Swish-Nummer an die rumänische Bettlerin Maria. Menschen wie Johanna sind nicht leicht zu finden, sie sind die Ausnahme. Nur durch einen Zeitungsartikel im „Göteborg-Posten“ stieß die Hinz&Kunzt-Redaktion auf Johanna.
Durch ihre Swish-Nummer sei es viel leichter für die Bettlerin, Geld für ihre Kinder und Enkel in Rumänien zu verdienen, sagt Johanna. Auf ihrem Heimweg kommt sie fast täglich an dem Supermarkt in der Innenstadt vorbei, vor dem Maria sitzt. Die beiden können sich auf Schwedisch unterhalten, weil die Rumänin die Landessprache inzwischen beherrscht. „Sie ist wie eine Freundin für mich geworden“, sagt Johanna. Die Idee, Maria ihre Swish-Nummer benutzen zu lassen, kam ihr, als sie das bei einer anderen Bettlerin sah. Die habe neben ihrem Becher für Münzspenden auch ein Schild mit einer Swish-Nummer aufgestellt. „Eine simple, aber großartige Idee“, findet Johanna. Sie kenne aber niemanden, der wie sie die Swish-Nummer verleiht. „Viele Bettlerinnen und Bettler haben das Land verlassen, weil sie hier nicht mehr überleben können.“

Johanna hat noch nie Probleme mit ihrer Bank bekommen. Doch sie kann sich vorstellen, dass viele Angst davor haben und ihre Swish-Nummer deshalb nicht weitergeben. Ihre Freundin Maria wisse, dass sie weiterhin nach Bargeld fragen muss und nicht zu viel Geld via Swish verdienen darf, damit das Geldinstitut keine Geldwäsche vermutet. Allerdings verdient die Bettlerin meist nur um die 500 Kronen (rund 50 Euro) im Monat, sagt Johanna.
„Viele Bettelnde haben das Land verlassen.“
Johanna Bergmann
Sie weiß, dass Maria und deren Familie auf ihre Unterstützung angewiesen sind. Johanna muss sie regelmäßig treffen, um ihr die Einnahmen in Form von Bargeld zu geben. „Aber es tut mir doch nicht weh“, sagt Johanna und zuckt mit den Schultern. „Es ist leicht für mich, ihr meine Swish-Nummer zu leihen.“ Sie ist überzeugt: „Viel mehr Menschen sollten das tun.“
Vasile, der in der Unterführung vor dem Hauptbahnhof schläft, hat den Traum aufgegeben, eine Unterstützerin wie Johanna zu finden. Er hat einen Entschluss gefasst: „Ich werde nicht in Schweden bleiben.“ Sobald er genug Geld für ein Busticket hat, wolle er weiterziehen. Wohin, wisse er noch nicht. Aber: „Hier habe ich keine Chance mehr.“