Gustav, 61, verkauft in der Langen Reihe.
(Aus Hinz&Kunzt 235/September 2012)
Hochseeangeln, das Land erkunden, „einfach mal rumlungern und andere Gesichter sehen“: Das waren Gustavs Pläne für seinen Türkei-Urlaub im August. Natürlich könnte er sich den eigentlich nicht leisten, aber in den neun Jahren, in denen er in der Langen Reihe Zeitungen verkauft, hat er viele Freunde gefunden. Einer davon kann es sich leisten und schenkt Gustav immer mal wieder eine Reise, aus Sympathie.
Die hat er sich nach mehreren Schicksalsschlägen auch redlich verdient. „Am 21. November 1991 wurde ich zum zweiten Mal geboren“, sagt Gustav. Das war der Tag, an dem er vor ein fahrendes Auto lief. Gustav brach sich einen Halswirbel und zog sich einen doppelten Schädelbruch zu. Sein Sehnerv riss ab, das rechte Bein hatte eine Trümmerfraktur. Drei Monate lag er im Koma, bis heute hat er Probleme beim Gehen. „Dass die Ärzte mein Bein überhaupt wieder zusammenflicken konnten, hat mich gewundert“, erzählt der 61-Jährige.
Aber sein Klinikaufenthalt hatte auch etwas Gutes. Dort lernte er seine spätere Lebensgefährtin kennen, beim Kaffeetrinken. Die beiden wollten sogar heiraten, doch dazu kam es nicht mehr. „Sie ist ein halbes Jahr vorher gestorben“, sagt Gustav. Er fand seine Verlobte tot in ihrem Bett. Sie starb an einem Hirnschlag, einfach so. „Hingelegt, Augen zu, Feierabend“, sagt Gustav.
Das warf ihn endgültig aus der Bahn. Zuerst schmiss Gustav seinen Job als Packer hin. „Für wen sollte ich denn noch 13, 14 Stunden am Tag arbeiten?“, hatte er sich gefragt. „Für wen?“ Er hatte Geld gespart, kam zunächst über die Runden. Dann fand er Trost – im Alkohol. Mit ein paar Gläschen Weinbrand am Tag fing es an. „Dann war irgendwann nix mehr mit Einteilen“, sagt er. Gustav wurde Alkoholiker, es ging bergab mit seinem Leben.
Irgendwann flog er aus der Wohnung, weil er seine Miete nicht mehr bezahlen konnte. „Die Knete war bei Penny oder in der Kneipe“, sagt Gustav. Drei Jahre war er obdachlos. Wann genau das war, daran kann er sich nicht mehr erinnern. In den 90er Jahren jedenfalls. Bergauf ging es mit Gustavs Leben erst wieder, als er einen Entzug und danach eine Therapie machte. Sein Therapeut besorgte ihm dann eine neue Wohnung. „Alleine war ich damit überfordert“, erinnert er sich. Es schien, als hätte Gustav das Schlimmste hinter sich.
Doch dann kam der Rückfall. Auf Finkenwerder aß Gustav eine Schweinshaxe und trank dazu ein Weizenbier. „Ein einziges, zur Probe, ob’s noch genauso schmeckt wie vorher“, sagt er. Es hat noch geschmeckt – und: „Es ist nichts passiert!“ Auch eine Woche später, nach seinem zweiten Bier, ging es ihm gut. Dann wurde Gustav übermütig, griff zu seinem Lieblingsgetränk: Weinbrand. „Das war’s“, sagt er.
Der Kreislauf ging immer wieder von vorne los, auf den Entzug folgte mehrmals ein Rückfall. Seit dem Sommer 2011 ist er jetzt trocken. „Ich hoffe, dass es geht“, sagt er. Denn der Schnaps half ihm auch dabei, mit den Schmerzen im Bein zu leben. „Ich habe getrunken und die Schmerzen waren weg“, sagt Gustav. „Jetzt habe ich Schmerzen, das ist nun mal so.“
Heute steht er mit seinem Rollator in der Langen Reihe und verkauft Hinz&Kunzt. „Die Leute hier sind in Ordnung“, sagt er. Viele sorgen sich um Gustav. Dieses Mal allerdings ohne Grund: Gustav war nur im Urlaub, „einfach mal rumlungern“.
Hinz&Kunzt: Wie bist du nach Hamburg gekommen?
Gustav: Ich wollte weit von meiner Ex-Frau weg. Die war größenwahnsinnig und wollte immer mehr Geld von mir. Ich hatte nur noch Post vom Anwalt.
Text: Benjamin Laufer
Foto: Mauricio Bustamante