Was der Hamburger ja gar nicht mag: wenn andere etwas besser, gar effizienter machen. Und dann ist es ausgerechnet die Konkurrenzstadt München, die die Wohnungslosigkeit besser und schneller in den Griff kriegt als wir. Von 2001 bis heute hat es die Bayernmetropole geschafft, die Zahl der Wohnungslosen von 3600 auf 2500 zu senken. Auf der Straße leben nach Angaben der dortigen Behörde nur noch 320 Menschen (in Hamburg mehr als 1000). Und selbst diesen Verbleibenden geht es in der Regel besser als den Wohnungslosen bei uns. Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer und Chefredakteurin Birgit Müller waren da.
(aus Hinz&Kunzt 225/November 2011)
Als wir die Pille betreten, was der Hamburger Notunterkunft Pik As entspricht, merkt man erst mal – gar nichts. Auch diese Notunterkunft für Männer wirkt alt und muffig, auch wenn wir später sehen, dass es nebenan einen Neubau gibt und die Zimmer dort heller sind. Aber der Heimcharakter ist auch hier spürbar. Alles andere ist allerdings ganz anders, als wir es aus Hamburg kennen, und wir denken: Wenn das die Obdachlosen in Hamburg jetzt hören würden oder die Mitarbeiter vom Pik As und den anderen Einrichtungen von fördern und wohnen, dann würden die jetzt vor Neid erblassen.
Wer hier aufgenommen wird, bekommt mehr als einen Schlafplatz. Und zwar nicht etwa in einem Vier- oder gar Achtbett-Zimmer, sondern in einem Doppelzimmer. Sogar dafür entschuldigt sich Pille-Leiter Gerhard Baier: „Ist ja nur für den Übergang und er soll ja nicht lange hier bleiben.“ Und er erläutert gleich das hauseigene Motto: „Wir mögen euch, aber wir wollen euch nicht hier behalten. Es gibt noch etwas Besseres für euch.“
Spätestens am nächsten Morgen bekommt der neue Hausbewohner einen Termin bei einem Sozialarbeiter in der Beratungsetage. Beratungsetage, das Wort muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: 13 Sozialpädagogen und vier Verwaltungskräfte bilden den „sozialen Beratungsdienst“, die zentrale Anlaufstelle für alleinstehende wohnungslose Männer in München, fünf von ihnen sind für die 179 Pille-Bewohner da. In Hamburg ist im Wesentlichen „fördern und wohnen“ für die Unterbringung zuständig: Ein Mitarbeiter betreut im Schnitt hier 97 Wohnungslose. Das Pik As mit seinen 190 Bewohnern hat also gerade mal zwei Sozialarbeiter. Die bayrischen Kollegen klären erst mal die Situation. Das englische Wort dafür – Clearing – werden wir in München noch oft hören. Welche Probleme hat der Obdachlose? Was stellt er sich vor? Will er seine Alkoholsucht überwinden oder sucht er einfach Ruhe? Will er arbeiten oder arbeitet er womöglich schon? Hat er psychische Probleme? Und: Der Sozialarbeiter stellt mit ihm zusammen den Antrag auf Kostenübernahme oder Hartz IV vor Ort in der Pille. Der Münchner Obdachlose steht also nicht allein vor diesem riesigen Berg. Natürlich muss auch er beim Amt persönlich vorsprechen, das nimmt ihm keiner ab. „Aber wir machen telefonisch einen Termin ab“, sagt der Pille-Chef. „Und wenn wir merken, er schafft den Weg nicht allein, dann fahren wir ihn hin.“
Eine Kasse gibt es auch: Das Geld kann – wenn es bewilligt wurde – also auch hier ausgezahlt werden. Im Haus gibt es eine ganz normale Arztpraxis. Hier können die Pille-Bewohner schnell und unbürokratisch behandelt werden. Auch die Nachbarn kommen hierher. Obdachlose, die vielleicht Hemmungen haben, in eine richtige Arztpraxis zu gehen, können hier schon mal Normalität üben. Wer krank geschrieben ist, aber nur der, darf sich auch tagsüber im Zimmer aufhalten. Alle anderen müssen um acht Uhr morgens das Zimmer räumen und dürfen es erst abends wieder betreten. Das fanden wir hart. Aber Baier sagt: „Wieso, es gibt einen Aufenthaltsraum. Und wir wollen nicht, dass die Bewohner nichts tun und sich hängen lassen.“
Apropos Zimmer: Die Zimmer sind hell, aber absolut funktional eingerichtet. „Das soll hier ja auch nur eine Durchgangsstation sein“, sagt Baier. „Denn je länger jemand mit Problemen mit vielen Menschen mit vielen Problemen zusammenlebt, desto mehr baut er ab.“ Und er ist sicher: In München haben sie inzwischen so viele unterschiedliche Angebote, „dass wir für jeden einen Platz finden“. Dabei wollen die Pille-Mitarbeiter „Sprachrohr der Menschen sein. Nach ihren Bedürfnissen sollen die Angebote ausgerichtet sein.“
Pille-Chef Baier kennt die Einrichtung schon seit Anfang der 70er-Jahre, als er hier seine allererste Sozialarbeiterstelle antrat. Damals war die Pille noch auf 400 Mann ausgelegt, es gab noch Schlafsäle für 18 Mann. „Im Winter lagen die Männer oft im Treppenhaus“, sagt Baier. Es war irre laut und ständig gab es Prügeleien. „Und die Polizei war jeden Tag im Haus.“ Viele lebten schon seit 1952 hier, als das Haus aufgemacht hatte. „Sie konnten sich gar nichts anderes mehr vorstellen“, so Baier. „Und viele waren nicht mehr in der Lage, selbstständig zu leben.“ Hospitalisierung nennt man diesen Zustand im Fachjargon.
2005 dann das, was Baier und sein Team als Befreiungsschlag empfanden: Die Pille wird umgebaut und erhält einen zusätzlichen Neubau. An die Umstellung auf Zwei-Bett-Zimmer mussten sich alle erst mal gewöhnen. Auch die Mitarbeiter: „Manchmal hatte ich Angst, irgendwo liegt einer tot im Zimmer, so ruhig war es“, sagt er. Aber dieses Unbehagen dauerte nicht lange. Die Obdachlosen sind seitdem viel entspannter, erholen sich besser. „Es gibt nur noch selten Prügeleien oder Vandalismus“, sagt Baier. Im Gegensatz zu früher. „Die Polizei kommt so gut wie gar nicht mehr.“
Durchschnittlich 43 Tage bleiben die Obdachlosen in der Pille. Im Hamburger Pik As sieht das ganz anders aus: Nur ein Drittel bleibt bis zu drei Monaten hier, ein Drittel bis zu zwei Jahren und ein Drittel der Bewohner länger als zwei Jahre. Hier gibt es eben keine Clearingstelle gibt und die Wohnheime sind überfüllt.
Übrigens: Demnächst will es die Pille schaffen, ihre Bewohner in weniger als 40 Tagen weiterzuvermitteln. Baier ist – wie alle hier – ein ausgesprochener Befürworter des schnellen Weitervermittelns. Aber eben nicht irgendwohin. „Wir finden für jeden, wenn er es möchte, einen vernünftigen, qualifizierten Platz“, sagt Baier. Und das kann sein: ein Haus, das sich spezialisiert hat auf Menschen mit psychischen und Alkoholproblemen, ein Haus, in dem speziell das Thema Arbeit im Vordergrund steht oder ein Haus, in dem hauptsächlich alte Obdachlose oder aufgrund ihrer Lebenserfahrungen „vorgealterte“ Obdachlose leben.
Damit wir so ein Haus mal kennenlernen, haben unsere Gastgeber Christine Wimmer und Michael Senjor vom Amt für Wohnen und Migration uns schon angemeldet beim Haus an der Pistorinistraße. Das gibt es ebenfalls seit den 50er-Jahren und wird ebenfalls vom Katholischen Männerfürsorgeverein (KMFV) betrieben. Hier leben Männer für ein bis zwei Jahre, die arbeiten wollen oder schon arbeiten. Zum Beispiel wohnen hier Ein-Euro-Jobber, die in der Pille im Café arbeiten. Undenkbar wäre, dass sie hier im Hause wohnen und auch hier arbeiten. „Die Bewohner sollen ein Stück Normalität lernen“, sagt der Leiter des Hauses, Tassilo Wienhardt. Und dazu gehört ein Arbeitsplatz außer Haus. Auch alles rund ums Wohnen kann man hier lernen: kochen, Konto führen und eine Art Kurs, in dem man „wohnfit“ gemacht wird.
Und mit Alkohol gehen sie inzwischen anders um in den Einrichtungen des KMFV: „Kontrolliertes Trinken“ heißt das Stichwort. Wer nicht abstinent leben kann und will, der wird anders unterstützt: Man versucht gemeinsam herauszufinden, wann Trinken okay ist und wann und in welchen Situationen es kippt. Und diese Situationen versuchen die Männer dann zu vermeiden. Das war für Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer jetzt allerdings nichts Neues. „Das machen wir in Hamburg auch“, sagte er und war richtig froh, mal nicht alles nur toll finden zu müssen.
Apropos: alles toll finden. Es ist kein Geheimnis, dass die Stadt gerne mit dem Katholischen Männerfürsorgeverein zusammenarbeitet. „Die bieten hohe Qualität zu bezahlbaren Preisen“, sagen unsere Gastgeberin Christine Wimmer und Michael Senjor. Und auch die Mitarbeiter vom KMFV sind begeistert von der guten Zusammenarbeit mit der Stadt: „Wir haben ein gemeinsames Ziel, und die Standards schreiben wir immer wieder gemeinsam fort. Die Blickrichtung ist immer wohnen – und das trotz der hohen Mieten und des knappen Wohnraums in München“, sagt Baier. Natürlich ist auch in München nicht alles Gold, was glänzt. Nach wie vor gibt es neben den Häusern auch Notunterkünfte. Dafür musste die Stadt Pensionen anmieten. Wie früher Hamburg auch. Und hier gibt es auch noch Doppelzimmer (20 Prozent). Hier leben in der Regel Obdachlose, die nur ihre Ruhe haben wollen. „Aber auch bei denen tut sich nach ein, zwei Jahren etwas“, sagt Senjor. Und dann sind viele von ihnen bereit, in eine Wohnung oder in eines der besser betreuten Häuser umzuziehen. Weil die Vermittlung aber oft schwierig ist, hat die Stadt jetzt einen mobilen Unterbringungsdienst installiert. Die beiden Sozialarbeiter müssen sich jeweils um die Vermittlung von sechs Obdachlosen kümmern.
„Der Knödel im Abfluss“ muss endlich entfernt werden, sagt Christine Wimmer. Auch aus finanziellen Gründen ist die Vermittlung in eine Wohnung besser: „Nichts ist teurer als ein Notquartier“, sagt Christine Wimmer. 10.000 Euro gibt München pro Jahr für einen Menschen aus, der im Notquartier untergebracht ist. Den Menschen in eine Wohnung zu bringen, ist menschenwürdiger und zudem wesentlich billiger. Diese Einstellung würden wir uns für Hamburg wünschen! Die Münchner können noch mit ganz anderen Dingen angeben, die wir uns allerdings nicht mehr angucken: den Clearinghäusern. Meist schöne Neubauten in Vierteln, aus denen die Armen eigentlich verdrängt wurden. Innerhalb eines halben Jahres sollen sie in eine eigene Wohnung vermittelt werden, natürlich haben auch diese Clearinghäuser eine – aus unserer Sicht – fantastische Personalausstattung. Außerdem gibt es die sogenannten KomProB Häuser, auch nette Neubauten mit etwa 20 – 30 Wohnungen, die die Stadt meist mit privaten Investoren gebaut hat und sich dort Belegungsrecht gesichert hat. Hört sich gut an.
Übrigens: In München gibt es kein Winternotprogramm mehr. Das Winternotprogramm kostete in Hamburg im vergangenen Winter allein schon rund 650.000. Denn da alles andere überfüllt ist, sind die rund 200 Notbetten überdimensional teuer. Und je weniger Wohnungen und Wohnheimplätze es gibt, desto mehr teure Provisorien braucht man.
Wir fahren wieder nach Hamburg. Der SPD-Senat hat sich zwar auf den Winter schon besser vorbereitet als der schwarz-grüne, aber die Unterkünfte waren schon mitten im Sommer überlaufen. Unsere Gastgeber versuchen uns zu trösten: „München ist als Stadt einfach reicher, das dürft ihr nicht vergessen“, sagt Michael Senjor vom Amt für Wohnen und Migration. „Aber ihr habt ein Plus: Ihr habt die Saga GWG und ihr habt fördern und wohnen – und somit habt ihr zwar weniger Geld, aber bezahlbare Wohnungen und Unterkünfte – und somit Steuerungsmöglichkeiten.“
Text: Birgit Müller