11 Quadratmeter beste Nachbarschaft

Kreditinstitut und Kummerkasten, von Abendzeitung bis Zigaretten, von Rätselheft bis Eis am Stiel: Gudrun Eskötters Kiosk in Eimsbüttel ist mehr als ein kleiner Laden.

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

Die Kaffeemaschine  blubbert, Zeitungen warten auf ihre Käufer: Gudrun Eskötter hat Zeit für einen Blick in die Welt.
Die Kaffeemaschine blubbert, Zeitungen warten auf ihre Käufer: Gudrun Eskötter hat Zeit für einen Blick in die Welt.

Morgens kurz nach acht in Eimsbüttel. Auf der Fruchtallee rauscht der Berufsverkehr, Büromenschen hasten über die Ampel zur U-Bahn-Station Christuskirche, Radfahrer klingeln sich den Weg frei. Gudrun Eskötter schließt die Tür zu ihrem Kiosk auf, lässt das Rollo am Verkaufsfenster hoch und drückt den Knopf der Kaffeemaschine.

„Guten Morgen“, ruft ein Mann, ein nachbar. Jeden Morgen kommt er vor Verkaufsbeginn vorbei. Gemeinsam wuchten die beiden Nachrichten, Ge- rüchte und Meinungen aus der Blechkiste vor dem Kiosk und schleppen sie in den schmalen Raum. Die Themen des Tages als verschnürte Zeitungsbündel, vor wenigen Stunden druckfrisch geliefert.

„Morgens muss ich schnell sein, alle haben es eilig“, sagt Gudrun Eskötter. Zierlich ist sie, hat große braune Augen und einen schlimmen Rücken. „Bandscheibenvorfall, schwer tragen kann ich nicht mehr, deshalb hilft mir morgens mein Bekannter mit den Zeitungen.“ Im Juli wird die Kioskfrau 60, seit 21 Jahren steht sie jeden Tag am Verkaufsfenster.

Ihre Tochter jobbte damals beim Vorbesitzer des Kiosks, und eines Tages fragte er, ob sie den Laden übernehmen wolle. „Ich hatte vorher als Bürokauf- frau gearbeitet und kannte mich mit Zahlen aus“, erzählt Eskötter. Sie schrieb einen Geschäftsplan und listete all die Standortvorteile auf: eine Schule und ein Schwimmbad in der Nähe, U-Bahn-Station gegenüber. Schließlich gab es grünes Licht für einen Kredit.

Der Sprung in die Selbstständigkeit lohnte sich. „Früher lief der Kiosk auch unter der Woche bombig.“ Die Schule am Weidenstieg hatte zwei Pausen, Gudrun Eskötter verkaufte Getränke und Süßigkeiten, abends holten sich die Nachbarn Toastbrot und Kaffee. Den Supermarkt auf der anderen Seite der Fruchtallee gab es damals noch nicht – heute ist er Eskötters härteste Konkurrenz. Nicht nur die Billigpreise locken, vor allem die langen Öffnungszeiten der Supermärkte machen das einst so gute Abendgeschäft von Kiosken kaputt.

Mittlerweile schließt Eskötter daher unter der Woche um 21 Uhr, dafür steht sie samstags und sonntags zehn Stunden hinter dem Kioskfenster, da laufen Getränke und Süßes besser. „Mit Zeitungen und Zigaretten verdient man nur Cent-Beträge“, sagt sie. „Man muss sehen, dass man über die Runden kommt.“ Eine Nachbarin kommt vorbei. „Ich muss mal kurz austreten, Franziska“, sagt Eskötter und zieht ein Schlüsselband aus der Schublade. „Ich pass schon auf“, sagt die Nachbarin. Kaum ist Eskötter weg, steht ein Mann mit Hund vor dem Kiosk. dazu kommt eine junge Frau.

Als dritter der Eismann mit einer Sackkarre voller Kartons. „Sie ist gleich wieder da“, sagt die Nachbarin, „kann sich nur um Sekunden handeln.“ Der Mann mit hund schüttelt den Kopf und geht seines Weges, die junge Frau zieht eine Augenbraue hoch und geht auch. Eskötter biegt um die Ecke. „Alles in Ordnung?“, fragt sie und öffnet dem Eismann die tür. „Ach“, sagt die Nachbarin und hängt sich die Einkaufstasche mit Schwung über die Schulter. „Die Leute können keine zwei Minuten warten. Ich will dann mal los, Süße. Aldi hat deutschen Spargel im Angebot, willst du auch ein Pfund?“

11 Quadratmeter klein, aber eine große Welt für die Kioskkunden.
11 Quadratmeter klein, aber eine große Welt für die Kioskkunden.

An der Ampel hupen Autos im Takt, eine Hochzeit, die Braut winkt mit einem Strauß weißer Rosen, Eskötter lehnt im Fenster und winkt freundlich zurück. „Das ist wie Kino hier“, sagt sie. wenn sie abends auf dem Sofa liegt, nach fast elf Stunden im Kiosk, „dann sind die Spielfilme schon vorbei, also lese ich manchmal noch ein bisschen in den bunten Blättchen.“

Zwischen 13 und 15 uhr macht Gudrun Eskötter Pause, sie gibt Bestellungen auf, bringt Briefe zur Post und kauft ein, zum Mittagessen bleibt keine Zeit. Als sie wieder im Kiosk steht, holt sie eine Schokolade aus dem Regal. „Möchten Sie auch ein Stück?“, fragt sie eine Kundin. „Danke“, sagt die Frau, „aber Ostern war zu schlimm, jetzt muss ich mal kürzertreten.“ – „Ach“, sagt Eskötter, „ich habe auch zehn Kilo abgenommen, da müssen Sie sich mit ihrer Figur mal keine Sorgen machen.“ Die kundin staunt. „Ja“, sagt die Kioskfrau, „das war auch nicht eine von diesen Blitzdiäten, denn sonst ist das ja ganz schnell alles wieder drauf.“

Eine silberhaarige Frau kauft Rätselzeitschriften und erzählt von ihrer Zahnoperation. Plötzlich fragt sie: „Hat Birgit das eis endlich bezahlt? Nein? Na, dann mach ich das aber jetzt.“ – „Einsachtzig waren das“, sagt Eskötter und streicht den Eintrag von der Anschreibliste. „Gnädige Frau“, sagt ein Mann mit grauen locken und Bobtail an der Leine. „Es ist mir so unendlich peinlich, aber das Geld liegt auf dem Küchentisch.“ Eskötter zieht eine Stange Zigaretten aus dem Regal und gibt sie ihm. „Wir kennen uns doch“, sagt sie und zwinkert ihm zu. „Aber gnädige Frau“, sagt der Mann und schiebt sich die Sonnenbrille in die locken. „Kennen? Wir?“ Eskötter lacht, dann schreibt sie auf: Stange West, Mann mit Frau mit Beinbruch. „Ich muss mir Eselsbrücken bauen“, erklärt sie. „die Namen meiner Kunden kenne ich meist gar nicht.“

Der Miniladen auf der Fruchtallee ist mehr als ein Kiosk. Er ist auch eine Bank: Man bekommt Kredit, doch Zinsen muss niemand zahlen. Briefmarken gibt es ebenfalls, „ein Extra-Service für die älteren Kunden, die nächste Post ist weit“. Wer morgens den Ablesedienst hereinlassen muss, aber dafür nicht extra freinehmen kann, nutzt die Kioskfrau als Schlüsselverwalterin. Wer aus der U-Bahn steigt und die Gegend nicht kennt, fragt im Kiosk nach dem Weg.

Er hat gerade mal elf Quadratmeter Fläche, aber dafür viele Funktionen. Als der Tag in den Abend übergeht, schaltet Gudrun Eskötter das Außenlicht ein. Viele Kunden vom Morgen kommen wieder, kaufen Zigaretten und Bier, fragen, wie der Tag war. „Sehr schön“, antwortet die Kioskfrau. „Und selbst?“ Später macht sie mit einem Taschenrechner die kasse, gut 150 Kunden, „ein eher durchschnittlicher Tag.“ Kurz vor Feierabend bündelt Eskötter die nicht verkauften Tageszeitungen und legt sie in die Blechkiste vor dem Kiosk, sie bringt das Leergut in den Keller und füllt die Regale und Kühlschränke auf. Dann macht sie die Kaffeemaschine für den nächsten Morgen startklar, lässt das Rollo herunter und schließt die Tür.

Text: Daniela Schröder
Foto: Daniel Cramer