Bis zum Frühjahr will der Senat 500 neue Plätze für Zuwanderer und Obdachlose schaffen. Die zusätzlichen Unterkünfte werden dringend benötigt, in den betroffenen Stadtteilen gibt es allerdings oft Ängste und Vorbehalte. Wie kann es gelingen, ein neues Wohnheim und seine Bewohner im Viertel zu verankern?
(aus Hinz&Kunzt 225/November 2011)
Ein ganz normales Haus in einem ruhigen Wohnviertel. Der Putz ist weiß gestrichen, die Blumenbeete sind gepflegt, die Fenster geputzt. Einzig die knapp 90 Klingelschilder an der Tür und das Firmenlogo von fördern und wohnen im Vorgarten deuten darauf hin, dass das dreistöckige Gebäude im Hornkamp kein gewöhnliches Mietshaus ist, sondern eine städtische Unterkunft für wohnungslose Menschen. „Wir sind ziemlich unauffällig“, bestätigt Holger Nuss, der Leiter der Einrichtung. „Wenn Sie hier in Fuhlsbüttel nach der Unterkunft für Obdachlose fragen, wissen die meisten nicht, wo die ist.“
Dass eine Unterkunft sich so unscheinbar in einen Stadtteil einfügt, dass viele Anwohner sie nicht einmal kennen, ist nicht selbstverständlich. Auch am Hornkamp war das nicht immer so: Als fördern und wohnen 1998 ankündigte, hier in Fuhlsbüttel ein Haus für Obdachlose einrichten zu wollen, gab es „eine richtige Beschwerdefront, mit Protesten und allen Drum und Dran“, wie Holger Nuss das ausdrückt. „Die hatten ihre vorgefertigte Meinung: Solche Leute hier bei uns, das ist ja unmöglich!“ Nuss selbst kennt diese Anfangszeit der Unterkunft nur aus Erzählungen, der 52-Jährige arbeitet erst seit neun Jahren im Hornkamp.
Ines Hochbaum hat die Beschwerdefront organisiert. Die 49-Jährige wohnte mit ihrer Familie damals wie heute nur eine Gehminute vom Hornkamp entfernt. Sie erinnert sich noch, wie entsetzt sie und ihre Nachbarn waren, als sie von den Plänen für eine neue Unterkunft hörten. „Wir kannten Obdachlose nur vom Hauptbahnhof und dachten an Drogen, Gewalt und Vandalismus“, sagt sie. „Und wir haben gesagt: Dieses Ding wollen wir hier nicht.“ Mit anderen Anwohnern machte Hochbaum Front gegen das Projekt, protestierte bei der Lokalpolitik, schrieb Zeitungen an. „Wir haben alles mobilisiert, was man nur mobilisieren konnte.“
Weil die Zeichen im Stadtteil derart auf Konfrontation standen, brachte die Kirchengemeinde die Anwohner mit Polizei, Politik und fördern und wohnen an einen Runden Tisch. Viele ihrer Sorgen wurden schon im ersten Gespräch zerstreut, erinnert sich Ines Hochbaum. Fördern und wohnen sagte zu, dass die Bewohner des Hauses speziell ausgesucht würden, dass die geplante Platzzahl von über 100 auf 90 Wohnungslose reduziert würde – und vor allem, dass es ausreichend Personal und feste Ansprechpartner vor Ort geben werde.
Letztlich, erzählt Ines Hochbaum, sei es dann nach der Eröffnung der Unterkunft aber der Alltag gewesen, der ihre Einstellung geändert habe. „Keine einzige unserer Befürchtungen hat sich bestätigt“, sagt sie. „Es gab keine Kriminalität, kein öffentliches Pinkeln, nix.“ Die meisten Bewohner seien freundlich, damals wie heute. Und wenn es doch mal Polizeieinsätze oder Probleme gäbe – so wie neulich, als ein psychisch kranker Mann in Unterwäsche durch die Gegend irrte – könne man immer noch Holger Nuss ansprechen. Auf den Heimleiter hält Hochbaum große Stücke. „Zu ihm kann man jederzeit kommen, und er steht Rede und Antwort.“ Auch aufgrund des guten Kontakts zu Nuss finde man in der Nachbarschaft heute niemanden mehr, der etwas gegen die Unterkunft habe, sagt Hochbaum. „Ich selbst habe wirklich alle Ängste der Welt gehabt. Jetzt würde ich zehn so Heime hier hernehmen.“
Zum guten Miteinander im Stadtteil trägt weiterhin der runde Tisch bei, der sich auch heute, nach 13 Jahren, alle drei bis vier Monate trifft. Aus den Kritikern von einst sind Partner geworden. „Der runde Tisch ist für mich eine große Unterstützung“, sagt Holger Nuss. „Dort kann ich alle Probleme offen besprechen.“ Es sei entscheidend, dass eine Unterkunft solche beständigen Kontakte im Stadtteil habe. „Wichtig ist, dass man sich nicht einmauert und mit Ängsten und Vorurteilen offensiv umgeht“, sagt Nuss. „Je eher man die Leute ins Boot holt, desto schneller hat man sie auf seiner Seite.“
Dass die Unterkunft am Hornkamp heute so gut dasteht, hat nicht nur mit der Akzeptanz im Stadtteil, sondern auch mit den guten Bedingungen zu tun. Das Gebäude ist hell und neu, jeder der derzeit 88 Bewohner hat sein eigenes Zimmer. Das trage viel dazu bei, dass das Haus richtigen Wohncharakter habe, glaubt Holger Nuss. „Die Leute fühlen sich wohl hier“, sagt er. „Wenn zwei oder mehr erwachsene Menschen in einem Zimmer leben müssen, ist Stress vorprogrammiert.“ Im Alltag wird Nuss – der als Mitarbeiter nur zwei Teilzeitkräfte hat – zudem von acht ehrenamtlichen Helfern unterstützt. Marianne Camel (65) und Brigitte Ramcke (55) beispielsweise wohnen zwar nicht in Fuhlsbüttel, kommen aber jeden Mittwoch her, um Lebensmittel von der Hamburger Tafel zu verteilen und mit den Bewohnern Kaffee zu trinken. Im Winter bieten sie einmal die Woche einen Kochkurs mit gemeinsamem Essen an. Dann kommen sogar ehemalige Bewohner, die mittlerweile wieder ein Zuhause haben. „Meistens komme ich dann spät nach Hause“, sagt Holger Nuss schmunzelnd. „Wir kommen aus dem Schnattern gar nicht mehr raus.“
Camel und Ramcke, die von Holger Nuss nur „die Damen“ genannt werden, macht die Arbeit im Hornkamp großen Spaß. „Ich hatte schon immer ein Helfersyndrom“, sagt Brigitte Ramcke lachend. Außerdem, fügt sie etwas ernster hinzu, habe sie einen drogenabhängigen Bruder, der auch lange auf der Straße gelebt habe. „Ich weiß, was Obdachlosigkeit bedeutet.“ Die Ehrenamtlichen seien aber auch einfach ein gutes Team, fügt Marianne Camel hinzu, auch menschlich. Die Rentnerin erfuhr vor drei Jahren durch eine kleine Anzeige im Lokalanzeiger, dass hier Helfer gesucht wurden. „Ich brauche einfach immer eine Aufgabe“, sagt sie. „Das hier kam wie vom Himmel geschickt.“
Am Hornkamp hat es geklappt: Wo anfangs Angst und Vorurteile herrschten, gibt es heute ein friedliches Mit- und Nebeneinander. Am Suhrenkamp in Alsterdorf wird derzeit alles dafür getan, um dieses Ziel ebenfalls zu erreichen. Im Dezember 2010 wurde hier das neue Wohnheim „Alsterberg“ eröffnet. Die 260 Bewohner der beiden großen Backsteinbauten sind vor allem Flüchtlinge aus Staaten wie Afghanistan, Kamerun, Togo, Syrien – Menschen aus 30 unterschiedlichen Ländern. Auch hier gab es im Stadtteil vor der Eröffnung Sorgen unter den Anwohnern, erzählt Caroline Smolny, die als Sozialmanagerin die Hilfsangebote in der Unterkunft koordiniert. „Es gab Bedenken, weil so viele ausländische Menschen hier herziehen sollten“, sagt die 53-Jährige. „Manche Nachbarn hatten Angst, dass ihr Stadtteil sich dadurch negativ verändern würde.“
Fördern und wohnen versuchte auch am Suhrenkamp, offensiv mit den Ängsten umzugehen. Kurz nach der Eröffnung gab es einen Infoabend, an dem etwa 50 Anwohner teilnahmen. Caroline Smolny und Seher Dincer (44), die Leiterin der Unterkunft, stellten sich vor und beantworteten Fragen. Ob es in der Unterkunft genug Personal gäbe, sei auch hier die dringlichste Frage gewesen, sagt Smolny. „Es ist gut, wenn die Nachbarn schon mal die Gesichter kennen und auch eine Telefonnummer haben.“ Schnell entstand die Idee, neben einem zweiten Infoabend auch einen Runden Tisch zu bilden. Ende Mai setzte der sich das erste Mal zusammen, jetzt soll es regelmäßige Treffen geben. „Es ist uns wichtig, uns im Stadtteil zu vernetzen“, sagt Caroline Smolny. Ihre Chefin Seher Dincer nickt. „Wir wollen ja hier kein Getto bilden“, sagt sie. „Es ist schließlich nicht einfach, die Vorurteile zu brechen. Dafür braucht man gegenseitigen Respekt, und man muss sich kennenlernen.“
An einem sonnigen Freitag Anfang September tönt Musik durch die Backsteinhäuer am Suhrenkamp. Die Unterkunft hat den Stadtteil zu einem „Tag der offenen Tür“ geladen, die Bewohner haben Spezialitäten aus ihren Heimatländern gekocht, Kinder lärmen im Innenhof. Die Gäste sind vor allem Menschen, die von Berufs wegen mit der Unterkunft zu tun haben: Journalisten, Politiker, Sozialpädagogen. Am reich gedeckten Büfett stehen allerdings auch einige ältere Damen, die in der Nähe wohnen. „Es hat sich hier schon einiges verändert“, sagt eine von ihnen, die von ihrem Balkon aus direkt auf den Innenhof der Unterkunft blicken kann. „Die vielen Kinder machen ziemlich viel Lärm, oft sogar bis 22 Uhr.“ Es gäbe schon einige Anwohner, die sich durch Lärm gestört fühlten, sagt eine andere Frau, während sie sich ein Stück Kuchen auf ihren Teller lädt. „Aber die Kinder müssen sich ja austoben“, sagt sie. „Und die meisten Menschen hier sind ja Flüchtlinge. Wenn wir ins Ausland gingen, müssten wir ja auch irgendwo wohnen.“
Sozialmanagerin Smolny freut sich, dass überhaupt Nachbarn gekommen sind. „Jeder, der herkommt, macht den wichtigen ersten Schritt“, sagt sie. „Akzeptanz hängt ja davon ab, dass man etwas voneinander weiß, dass man etwas voneinander erfährt.“ Sie hofft, dass zum im Frühjahr 2012 geplanten Kulturfest dann noch mehr Anwohner kommen. Aber auch so ist sie mit dem ersten „Tag der offenen Tür“ mehr als zufrieden, sagt sie. „Man fängt halt immer klein an.“• XNiP: FBQR9A
Text: Hanning Voigts