Mehr als fünf Jahrzehnte führte Marga Bauernfeind ihre Drogerie in Eppendorf. Nun werden unter großem Hallo die letzten Salben, Cremes und Tees verkauft. Ein Abschied ohne Wehmut.
(aus Hinz&Kunzt 230/April 2012)
Sie soll doch nicht aufstehen! Sie soll doch bitte hinter ihrem Tresen sitzen bleiben! Aber Marga Bauernfeind lässt sich nicht stoppen. Sie steht auf, streicht sich einmal mit der Hand über das eine Bein, das im Moment nicht mehr so recht will, geht etwas gebückt drei Schritte durch ihren Laden und sucht im Regal nach der Feuchtigkeitscreme. Nee – hat sie nicht mehr, leider. Ausverkauft.
Aber lieber noch mal nachgucken, sicher ist sicher. Sie schaut auf ihre Regale, die sich jeden Tag mehr leeren. Ja, alles geht vorbei. „Eine Kundin hat mir gestern erst von einer Nachbarin erzählt, die war mit ihrem Mann auf einer Kreuzfahrt – plötzlich ist der Mann umgefallen: tot.“ Marga Bauernfeind schüttelt den Kopf und setzt sich wieder hinter ihren Tresen.
„Was finden Sie?“, fragt sie mich und fragt sie auch die Kunden, die in ihrem Laden stehen: „Ist es besser, wenn man einfach umfällt, sich aber nicht verabschieden kann – aber andersrum: So langsam dahinsiechen, ach nee. Oder?“ Kurz wird die Frage diskutiert: „Für einen selbst ist das bestimmt ein schöner Tod, aber doch doof für die Angehörigen“, sagt die Dame, die so gerne diese Creme von dieser Marke gekauft hätte, die es weit und breit nur in Marga Bauernfeinds Drogerie gab.
„Wir kommen alle einmal dran“, sagt eine ältere Dame in einem grünen Lodenmantel fast fröhlich. Sie hat sich Geschenkpapier ausgesucht, solches mit Tannen und roten Kerzen. Weihnachten wird Frau Bauernfeind hier nicht mehr hinter dem Tresen sitzen. Vielleicht macht sie dann Urlaub auf Sylt, in St.-Peter-Ording. Sie liebt die Nordsee, den weiten Strand – und das Alleinsein.
„Die Leute sagen immer, ich sei eine Institution“, sagt Frau Bauernfeind, als der Laden wieder leer ist: „Aber ich bin keine Institution. Ich bin ein Mensch!“ Was natürlich stimmt. Aber sie führt eben auch seit Jahrzehnten am selben Ort eine Drogerie, ist mit ihren Stammkunden zusammen alt geworden, kennt jeden und alle und weiß auch, wenn schlichte Hausmittel helfen statt teurer Salben.
„Ich habe richtig Drogistin gelernt“, erzählt sie. Dabei hatte sie kein Abitur. 1955 war das, als sie von der Schule abging. 16 Jahre ist sie da alt. Was soll sie werden? „Frisörin – Verkäuferin – im Büro“, schreibt sie auf den Zettel, den sie der Berufsberaterin vorlegt. Dabei will sie das gar nicht werden – auf keinen Fall will sie ins Büro. Eigentlich möchte sie Kunstmalerin werden. Aber das traut sie sich nicht zu sagen. So eine Ausbildung hätte doch Geld gekostet, statt dass man Geld verdient! Also schreibt sie noch „Modezeichnerin“ auf das Papier. „Vergessens Sie’s“, sagt die Berufsberaterin, „total überlaufen dieser Beruf.“ Sie lässt sich ihre Schulmappen zeigen, besonders die aus dem Fach Biologie überzeugen sie: „Sie wird Drogistin!“, ruft sie aus. Unter einer Bedingung: Nichts ist mit Tanzböden! Stattdessen pauken, pauken, pauken. Vor allem Chemie und Latein.
Drogistin – damit kann die junge Marga Bauernfeind etwas anfangen: Wo sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder lebt, in Barmbek, gibt es gleich um die Ecke eine Drogerie: „Wenn man die betrat und der Drogist und auch seine Frau stiegen so langsam die Treppe aus ihrer Wohnung in den Laden herunter, so in den weißen Kitteln, das war schon fein – wie bei den Ärzten.“
Mit ihrer Mutter macht sie sich auf die Suche nach einer Lehrstelle – und wird bei Herrn Ahrens im Lehmweg in Eppendorf fündig. „Er hat mich einiges gefragt und dann gesagt: Ich nehm Sie.“ Sie besucht die Drogistenschule beim Altonaer Museum. Am meisten Spaß macht ihr das Erstellen eines Herbariums.
„Pflanzenkunde – das war meine Welt! Ich hab mich immer auf den Sonntag gefreut, wenn ich in den Stadtpark konnte oder an die Elbe. Wo immer etwas wuchs und blühte, habe ich’s gepflückt und abends zwischen die Löschblätter gepresst und es vorsichtig gewendet und es wieder gepresst.“ Drei Jahre dauert ihre Lehre.
Die mit einer Prüfung endet, vor großer Kommission. Fragen in Chemikalienkunde, Gesundheitslehre, Drogenkunde, einiges an Kaufmännischem. Dann soll sie ihr Herbarium vorzeigen, an dem sie so gut wie jeden Abend gearbeitet hat. „Wo haben Sie das gekauft?“, wollen die Prüfer entrüstet wissen. Sie glauben nicht, dass sie das Buch selbst gefertigt hat. „Ich war kurz vorm Heulen“, erzählt Marga Bauernfeind: „Ich dachte, die schmeißen mich aus der Prüfung.“ Zum Glück schaltet sich ihr Lehrer ein. Schlägt vor, das mit dem Herbarium auf den Schluss zu verschieben. Nächste Frage: „Erklären Sie, was eine unterirdische Sprossenachsenmetamorphose ist.“ Marga Bauernfeind grinst: „Unterirdische Sprossenachse, das ist eine Wurzel. Und eine Metamorphose – na, da blüht oben was.“ Sie geht an die Tafel und zeichnet auf, was es dazu zu zeigen gibt – mit perfektem Strich, ohne jeden Fehler. Und den Prüfern dämmert langsam, dass sie ihr Herbarium selbstverständlich selbst gefertigt hat, ohne Tricks. Sie besteht die Prüfung mit Auszeichnung. Eine Frage haben die Prüfer aber noch: ob sie das Herbarium bekommen könnten? Marga Bauernfeind sagt: Nein.
Ihr Chef stellt sie als Gesellin ein. Vier Jahre dauert die Gesellinnenzeit. Dann wird ihr Chef krank. Und hat einen Vorschlag: Sie übernimmt seine Drogerie – und zahlt ihm eine Leibrente. „Ich habe sofort Ja gesagt. Endlich mein eigener Herr sein, schalten und walten können. Ich wollte immer selbstständig sein.“
Nun ist es ihre Drogerie. Sechs Tage die Woche. Sonntags geht es weiterhin raus in die Natur. Manchmal aber auch nach Planten & Blomen, ins Orchideencafé: „Da trank ich dann meine Tasse Kaffee, wurde auch mal zum Tanzen aufgefordert. Und ja, es gab auch mal einen Mann für kurze Zeit, aber ein Leben lang?“ Und sie schüttelt den Kopf und sagt dann lachend: „Da war mir meine Drogerie lieber!“ Sie wird wieder ernst: „Wissen Sie, ich war mein Chef. Ich brauchte keinen zu fragen, ob und wann ich meine Pflanzen sammeln kann. Ich bin ein ganz einfacher, schlichter, introvertierter Mensch – ein Einzelgänger! Sie können mich ruhig in die Wüste schicken oder in den Himalaya, da bin ich glücklicher als unter Menschenmassen.“ Schon geht klingelnd die Tür auf, die nächsten Kunden kommen, auch wenn eigentlich noch Mittagspause ist. Und die Drogistin, die so die Ruhe liebt, plaudert und scherzt; holt noch den letzten Krümel Pfefferminztee aus der Schublade mit dem Schild „Pfefferminz“. Forscht nach Bein- und Fußlotion. Empfiehlt einer Kundin Meerwasserbalsam, Algenbäder und Badeöl für die Wanne: „Das Öl am besten auftragen, wenn Sie sich noch nicht ganz abgetrocknet haben, wenn die Haut noch feucht ist, sonst liegt das Öl auf der Haut.“ Aber die ist mehr fürs Duschen.
„Nein, ich fühle keine Wehmut, dass ich jetzt schließe“, sagt sie, als alle wieder gegangen sind, nicht ohne zu versprechen, noch mal vorbeizuschauen: „Ich habe ja hier mitunter 14, 15 Stunden gearbeitet.“ Und sie spricht wie zu sich selbst: „Wenn das hier alles getan ist, werde ich acht Tage lang schlafen. Nur schlafen. Mit einer Flasche Saft neben dem Bett und Keksen, damit ich nicht aufstehen muss. Und wenn ich dann aufwache, dann frage ich: Na, Bauernfeind – weiterpennen? Weiterpennen! Okay, machen wir.“
PS: Und das Herbarium? Sie hat es dem Museum der Arbeit geschenkt. Und das wird es demnächst gewiss ausstellen
Text: Frank Keil
Foto: Cornelius M. Braun