70 Prozent der Obdachlosen im Winternotprogramm sind Osteuropäer. Dass Hamburg nach EU-Recht und dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz für sie sorgen muss, ist klar. Aber warum landen eigentlich so viele auf der Straße?
(aus Hinz&Kunzt 227/Januar 2012)
Morgens in der EU-Beratungsstelle im Winternotprogramm in der Spaldingstraße 1: Der Mann ist Pole, 55 Jahre alt und kommt mit zwei Krücken angehumpelt. Seit 20 Jahren lebt er schon in Hamburg, hat sich immer mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Bis vor zwei Jahren habe er mit seiner Freundin zusammengelebt, erzählt er. Sie war Alkoholikerin, er ist inzwischen trocken.
Immer häufiger kam es zu lautstarken Streits, so lange, bis die beiden die Wohnung verloren. Jetzt ist die Beziehung zu Ende, und er lebt auf der Straße. „Ich bin alt, krank und allein und weiß nicht, wie es weitergeht.“ Trotzdem sagt der Mann: „Ich werde wieder arbeiten, sobald es mir wieder besser geht.“ Und er glaubt, dass das schon sehr bald der Fall sein wird.
Andreas Stasiewicz, Mitarbeiter der EU-Beratungsstelle, versucht jetzt, den Lebensweg des Mannes wie ein Puzzle nachzuvollziehen. Und es zeichnet sich ab: Dieser Mann hat Anspruch auf Sozialgeld. „Dass er wieder arbeiten wird, sehe ich allerdings nicht“, sagt Stasiewicz. „Auch wenn es sein Traum ist.“
Mehr als 100 Menschen aus Polen, Rumänien, Bulgarien und den baltischen Staaten waren seit ihrer Öffnung am 1. November schon in seiner Beratungsstelle, nicht nur Bewohner der Spaldingstraße, sondern aus ganz Hamburg sind sie gekommen. Viele wissen gar nicht, dass sie durch ihre Arbeit Anspruch auf Sozialgeld in Deutschland erworben haben. Andere wollen nach Hause, weil sie hier nicht Fuß fassen.
Die meisten sind ursprünglich gekommen, um hier zu arbeiten. Aber das mit dem Arbeiten stellt sich oft als Illusion heraus. Einige Männer, die Stasiewicz beraten hat, haben stereotyp das Gleiche erlebt: Sie haben auf dem heimischen Arbeitsmarkt keine Chance. Und dann liest jemand in der Zeitung plötzlich eine Anzeige: Arbeiter gesucht, beispielsweise in Hamburg! Auch diese Geschichte hat der Mitarbeiter der Beratungsstelle schon in diversen Varianten gehört: Glücklich stürzen sich die Männer auf den vermeintlichen Arbeitsplatz in Deutschland. Sie unterschreiben etwas, von dem sie annehmen, es sei ihr Arbeitsvertrag, in Wirklichkeit ist es meist ein bunt aussehender Wisch, der nichts wert ist. Einer der Männer, die Stasiewicz kennengelernt hat, hielt ihm seinen „Arbeitsvertrag“ stolz entgegen: „Willkommen bei der AOK“ stand darauf. Dass er weder einen Arbeitsvertrag in den Händen hielt, noch einen Job in Hamburg hat, merkt der Mann erst zu spät. „Viele hoffen, dass sie einen anderen Job finden“, so seine Erfahrung. „Und irgendwann landen sie auf der Straße, sind völlig verelendet und trauen sich nicht mehr nach Hause.“
Die andere Gruppe sind die Männer, die tatsächlich Arbeit in Deutschland hatten. Auch hier gibt es ein ewig wiederkehrendes Muster: Für einen Monat sollen sie auf Probe arbeiten in Hamburg, oft auf dem Bau. Undenkbar für die Männer, dass sie die Probezeit nicht bestehen könnten. Schließlich sind sie bereit, richtig zu malochen. Aber nach einem Monat bekommen sie – für einen Vollzeitjob! – 200 Euro in die Hand gedrückt – und gleichzeitig die Kündigung: Probezeit leider nicht bestanden. Die neuen Arbeitssklaven stehen schon Schlange, um ihren Job zu übernehmen. Aber es geht noch mieser: Männer und Frauen, die wochenlang arbeiten und gar kein Geld bekommen.
Nur manche, die „Bessergestellten“, hatten immerhin einen 400-Euro-Vertrag und bekamen auch tatsächlich 400 Euro ausgezahlt, gearbeitet hatten sie dann allerdings Vollzeit. Die meisten Menschen, die Stasiewicz kennengelernt hat, sind so sicher, dass sie selbst etwas falsch gemacht haben, dass sie womöglich ausgewiesen werden könnten aus Hamburg, aus Deutschland, dass sie über derlei Machenschaften schweigen. Und sich einen neuen Job suchen. Um dann wieder in die nächste Falle zu tappen … „Dumpinglöhne produzieren Obdachlosigkeit“, ist ein Spruch, den Stasiewicz deshalb wiederholt wie ein Mantra.
„Geschichten aus der Welt der Minijobber, Leiharbeiter und Tagelöhner lesen sich wie ein Wirtschaftskrimi“, sagt Hamburgs Verdi-Chef Wolfgang Rose. „Immer wieder schaffen es Bauherren in der reichsten Stadt Deutschlands, Mindestlöhne zu unterbieten und Arbeitnehmer unter das Existenzminimum zu drücken“, sagt er. „Zu attraktiv ist die Aussicht für die Immobilienbranche, mit Dumpinglöhnen fette Gewinne einzufahren.“
Was viele Dumpinglöhner nicht wissen: Sie können gegen miese Arbeitgeber vorgehen und ihren Lohn einklagen. Rose erinnert an das Beispiel der drei bulgarischen Arbeiter, die mehrere Monate in Hamburg gearbeitet hatten und um ihren Lohn geprellt wurden. Erst als sie die Beratungsstelle „Migration und Arbeit“ des DGB (MigrAr) einschalteten, wurde ihr verdienter Lohn ausgezahlt – insgesamt erhielten sie für rund 2000 Arbeitstunden auf unterschiedlichen Baustellen etwa 21.500 Euro. Wichtig ist, dass die Arbeiter noch genau wissen, wo sie gearbeitet haben, wie die Vorarbeiter hießen und die Firmen, für die sie gearbeitet haben.
Übrigens: „Selbst wer schwarz hier arbeitet oder keine Arbeitserlaubnis hat, kann seinen Lohn einklagen“, sagt Rose.Noch sind die Kontrollen im Kampf gegen die Schwarzarbeit zwar unzureichend. Aber ein Anfang ist gemacht. In Hamburg kontrolliert die „Soko Bau“ in der Stadtentwicklungsbehörde die Tariftreue. „Bei 536 bestellten Prüfungen kam es immerhin zu 51 Ermahnungen, 26 Vertragsstrafen, 17 Abmahnungen und zu einer Kündigung auf laufender Baustelle“, so Verdi-Chef Rose.
Aber die Bauwirtschaft ist nicht die einzige Branche, in der Menschen gnadenlos ausgebeutet werden: Die Reinigungsbranche und die Wachdienste geraten immer wieder negativ in die Schlagzeilen. Der Verdi-Chef fordert deshalb: „Tariflöhne müssen überall gelten, und ein Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro pro Stunde.“
Auch der SPD-Senat sei gefordert, so Rose, der selbst für die SPD in der Bürgerschaft sitzt: „Die Tariftreue muss wirksam kontrolliert werden und es dürfen keine staatlichen Aufträge an Dumpingfirmen gehen.“ Wie in Nordrhein-Westfalen. „Dort müssen Unternehmen, die einen öffentlichen Auftrag haben wollen, ihren Beschäftigten mindestens 8,62 Euro Lohn in der Stunde zahlen.“
Schnelles Handeln ist vor allem deshalb wichtig, weil schon die nächste Branche durch Billiglöhne bedroht wird. Ab Januar 2012 dürfen auch Firmen aus Rumänien und Bulgarien ins Speditionsgeschäft einsteigen. „Es besteht die Gefahr, dass große deutsche Speditionen ihre Flotte nach Rumänien und Bulgarien verlagern, um zu den dortigen Löhnen hier dicke Geschäfte zu machen“, sagt der Verdi-Chef.
Der Kampf für die Rechte der Billiglöhner ist auch für die Unternehmen wichtig, die ordentliche Löhne zahlen. „Wenn nicht schnell gehandelt wird, bleiben sonst auch mittelständische Firmen auf der Strecke.“ Deswegen reiche es auch nicht, den ausgenutzten Menschen ein Bett für den Winter anzubieten, so Rose. „Man muss Arbeitgebern, die Menschen zu Dumpinglöhnen beschäftigen, das Handwerk legen.“
Text: Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustamante